#MeToo: Die Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland über eigene Erfahrungen und falsche Mythen
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen wie den Rauriser Förderpreis, das Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich und das Stipendium des Berliner Senats. Sie wurde außerdem mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis, dem Harder Literaturpreis und dem Tübinger Würth-Preis ausgezeichnet. 2015/16 erhielt sie das Projektstipendium des Bundeskanzleramtes. Birgit Müller-Wieland lebt in Berlin und München. Ihr aktueller Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert
*
Wurzeln schlagen
Er kam in einem Sportwagen, einem roten. Wäre ich älter gewesen, hätte ich mich gewundert. Aber ich war vierzehn damals, sah einen behaarten Arm, rasch wurde die Tür von innen aufgedrückt.
„Komm herein“, sagte der Mann freundlich.
Zehn Minuten später rumpelte der Wagen einen menschenleeren Waldweg entlang.
Fragte ich ihn, wohin die Fahrt ginge? Wahrscheinlich nicht. Es war Mittag, ein sonnenloser, aber heller Sommertag. Die Bäume zockelten gemächlich und tiefgrün vorüber an diesem letzten Schultag. Mein Koffer im Internat war gepackt, einige Stunden später würde ich von meinen Eltern abgeholt werden.
Im dichten Wald hielten wir.
Stille.
Ich sah ihn kurz von der Seite an, er starrte geradeaus. Ich drehte meinen Kopf und sah ebenfalls durch die Windschutzscheibe hinaus auf den unebenen Weg vor uns.
Ringsherum: Bäume.
Wartete ich noch auf das Gespräch, das er mir versprochen hatte?
Stille.
Plötzlich lag auf meinem Oberschenkel seine Hand.
Ich weiß nicht, welche Kleidung ich trug. Mag sein, eine Hose. Wahrscheinlich ist aber, dass es ein Rock war, ein kurzer. Auf jeden Fall spürt die Haut meines Oberschenkels den brennenden Druck dieser Hand, wenn ich an damals denke, so als wäre kein Stoff dazwischen gewesen.
Die Hand gehörte zu einem Lehrer für Latein und Musik. Weder das eine noch das andere Fach unterrichtete er in meiner Klasse. Ich saß mit ihm in diesem Auto auf einem mir unbekannten Forstweg in einem plötzlich etwas dämmrigen Wald, mitten am Tag, weil er mir empfohlen worden war, von einem älteren Schüler, mit Hochachtung in der Stimme. Er sei einer, der sich gut mit Literatur auskenne. Einer, dem man Gedichte anvertrauen könne und der einem sage, ob man begabt sei oder nicht.
Die Gedichte befanden sich in einer Tasche zu meinen Füßen. Weder wurde über sie noch sonst irgendein Wort in diesem roten Auto im Wald gesprochen.
Es wäre auch nicht mehr möglich gewesen.
Ich war etwas jenseits aller Sprache geworden.
Etwas Hartes und Starres, Wurzelschlagendes.
Wurzeln schlagen sich blitzschnell unter meinen Füßen durch den Autoboden hindurch, auf meiner Seite, nach rechts, als sei dies ein Weg hinaus, dorthin, wo die anderen Bäume stehen.
Wie lange dauerte es?
Eine verkrüppelte Kiefer.
Das ist das Bild, das ich von mir habe.
Irgendwann wurde die Hand von meinem Schenkel weggenommen und der kleine, pockennarbige Lehrer für Latein und Musik startete wortlos den Wagen. Wie ich ins Internat zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich habe keine Erinnerung an die folgenden Stunden, an die Eltern, den Abschied von der Internatsleiterin, die anderen Mädchen, an die Ferientage danach.
Ich erzählte niemandem von dieser Fahrt in den Wald.
Ich vergaß sie.
Erstarrung und Widerstand
Nun, nach Jahrzehnten, ist sie mir wieder eingefallen, so wie mir alle Situationen meines Lebens wieder eingefallen sind, in denen Männer gewisse Körperstellen ohne mein Einverständnis in Besitz genommen oder mir Sätze ins Gesicht oder Ohr gesagt haben, die beleidigend und obszön waren.
Alles ist aufs Neue da: der Griff zwischen die Beine in einem vollbesetzten Bus in Salzburg, als ich achtzehn war, jener in der Straßenbahn in Rom einige Jahre später. Das erste Mal war der Schock so groß, die Scham, dass mir das geschah, so tief, dass ich augenblicklich erstarrte, Wurzeln schlug. Beim zweiten Mal fuhr ich herum, heftig atmend, versuchte den Täter auszumachen.
Nichts. Nur der Alptraum schwankender, unbeteiligter Gesichter rund um mich.
Auch die Verlegerhand spüre ich erneut meinen Rücken entlangstreifen, bis ganz hinunter, damals, beim ersten Buch, und abermals kann ich nicht glauben, was da in einem Restaurant, in einer Runde von Menschen soeben stattfindet, ich höre den geflüsterten Satz: „Wenn ich gewusst hätte, dass du nach Frankfurt kommst, hätte ich einen Pyjama mehr mitgenommen.“
Verkrüppelung. Kiefer.
In einem Zug nach Tunis greift mir ein Mann an die Brust, einfach so, und endlich reagiert mein Körper anders, mein Arm schießt vor, die Hand klatscht in sein Gesicht, ich ohrfeige ihn, tatsächlich!, meine Handfläche brennt, er schreit mit verzerrtem Gesicht beim Hinausspringen: „Pourquoi? Pourquoi?“
Es war das erste Mal, dass ich mich wehren konnte. Warum? Weil ich nicht allein war. Zwei Freundinnen waren bei mir und wir alle drei schon dermaßen genervt vom Abwehrkampf gegen die Männer in dem Urlaub, dass dieser dreiste Übergriff endlich zu einer adäquaten Reaktion führte. (Dass ich mich allerdings in eine gewisse Gefahr begeben hatte damit, wurde mir erst hinterher klar.)
Die Szene mit dem Verleger hingegen spielte sich einige Jahre nach der Tunesien-Reise ab. Es ist erschreckend und beschämend, dass es mir unmöglich war, mich gegen einen Mann zu wehren, von dessen Wohlwollen damals, wie ich glaubte, mein Leben als Schriftstellerin abhing. Wäre ich fähig gewesen, ich selbst zu sein in dieser Situation, fähig, laut zu sagen, dass hier gerade ein Übergriff stattfindet, eine nicht gewollte körperliche Berührung, eine Anmache, die ein Machtmissbrauch ist, wäre dies das Ende mit dem Verlag gewesen.
Ja, das kann man mir vorwerfen.
Warum war es möglich, gegen den Mann in Tunis vorzugehen, dem Verleger Jahre später jedoch wieder schockstarr ausgeliefert zu sein? Übergriffe von Männern, denen man vertraut, mit denen man ein Arbeitsverhältnis hat oder eingehen will, sind besonders perfide, weil sie unvermittelt eine Atmosphäre der Zuwendung, der Sympathie, der Bereitwilligkeit zerstören. Sie leben von der Überrumpelung, der Schrecksekunde, dem Nichtwissenwohin.
Scham, Pein und Ängstlichkeit fluten den Körper, das Gehirn. Man kann nicht mehr denken. Man versucht die Peinlichkeit zu überspielen, die Fassade aufrechtzuerhalten, intuitiv werden tief verwurzelte Verhaltensweisen abgerufen, man steht neben sich.
Mythen
Die derzeit stattfindende öffentliche Diskussion über Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt ist längst überfällig. Endlich werden Tatsachen ans Licht geholt, Konsequenzen gezogen, scheinbar sakrosankte Täter benannt und geächtet. Diese staatenübergreifende Debatte samt ihren Folgen beinhaltet auch die Chance, mit Mythen aufzuräumen.
Immer wieder wird gegen die Opfer (Frauen und Männer) ins Feld geführt, dass sie sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten zu den Gewalttaten äußern oder Täter anzeigen
Es ist schwer, die Gefühle der Erniedrigung, Ohnmacht und Scham bei diesen Vergehen jemandem zu vermitteln, der sie nicht erleiden musste. Niemand will Opfer sein. Man schließt das Ereignis in ein inneres Kästchen. Es ist die Sehnsucht nach Ungeschehenmachen, die Arbeit des Verdrängens, all die vielfältigen Strategien unserer Psyche, uns weiterleben zu lassen, welche das Schweigen bedingen.
Irgendwann, wenn gewisse Faktoren zusammentreffen, die auch von außen kommen können – wenn man erkennt, dass bestimmte Verhaltensweisen, Strukturen, Lebensunmöglichkeiten auf diese traumatischen Erfahrungen zurückzuführen sind, oder wenn man endlich selbstbewusst genug ist oder der Peiniger nicht mehr im Amt, in der Position, in der er die Deutungshoheit hat, oder wenn auch andere sich getraut haben, diesen anzuzeigen: Dann findet man vielleicht die Kraft zu erkennen und öffentlich zu machen, was das bisherige Leben verdunkelte, die Kraft für den Gang zur Polizei, zu den Gerichten.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es bei vermeintlichen Tätern Unschuldige treffen könnte
Diese drohende Möglichkeit muss mitbedacht werden, das ist selbstverständlich, und jeder unschuldig Verurteilte ist eine Tragödie. Aber kann die aus welchen Gründen auch immer erfolgende Beschuldigung eines Nicht-Täters, die vereinzelt vorkommen mag, tatsächlich ein gravierendes Gewicht haben gegenüber der offensichtlichen Schieflage, die unsere Gesellschaften bestimmt, eine Schieflage, die durch eine klare, wissenschaftliche, in Zahlen ausdrückbare Wahrheit beglaubigt ist?
Warum wehren sich die Opfer so selten?
Unser Körper reagiert bei Gefahr instinktiv und unterschiedlich: mit Gegenwehr, Flucht, kognitiven Strategien oder aber Totstellen, Versteinerung (zum Baum werden). Je nach Situation, Erfahrungen, psychischen Grundlagen. Manche Opfer spalten das Geschehen ab. Die Forschung verwendet dafür den Begriff Dissoziative Störung, ihre Ausprägungen können zahlreich sein.
Noch meine Generation (zumal in Österreich) wurde zudem teilweise zu absolutem Gehorsam gedrillt, wuchs rechtlos auf, durfte nie das Wort gegen Autoritäten erheben. „Nein“ sagen zu lernen, war ein unendlich mühsamer Prozess.
2016 wurde das Sexualstrafrecht reformiert. Zukünftig macht sich strafbar, wer die Unfähigkeit eines Opfers zum Widerstand ausnützt oder überraschend sexuelle Handlungen an ihm vornimmt. Menschen, die weder fliehen noch Widerstand leisten konnten, werden also vor Gericht nicht mehr zusätzlich gedemütigt, weil sie keinen erkennbaren Abwehrkampf lieferten.
Was ist normal?
„Wir fordern die Freiheit, aufdringlich werden zu dürfen, die für sexuelle Freiheit notwendig ist."
Ein Keulenschlag, dieser Satz. Kann es wirklich sein, dass Frauen ihn im Jahr 2018 veröffentlichen? Er steht im Aufruf der 100 Frauen in Le Monde, einem Schreiben, das sich derzeit gegen die #MeToo-Bewegung wendet. Um welche sexuelle Freiheit geht es diesen privilegierten Damen der französischen Gesellschaft, die sich vermutlich eher selten in Abhängigkeitsverhältnissen befinden? Ist es die vorwiegend männliche Art, sich Frauen zu nähern, welche hier als sexuelle Freiheit für alle verteidigt wird?
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 11. Januar 2018 sagt eine der Unterzeichnerinnen, Catherine Millet: „Es gibt Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe. Man kann sich also juristisch wehren. Diese Frauen aber schweigen erst über Jahre. Und wählen dann das öffentliche Tribunal.“
Ja, liebe Frau Millet, genau. Endlich TRAUEN sie sich, endlich wird das Schweigen gebrochen, etliche Täter beim Namen genannt. ENDLICH.
Auf die Frage des Journalisten Alex Rühle, ob sie nicht „all die Frauen, die sich jetzt outen, ein zweites Mal zu Opfern“ mache, wenn sie ihnen sage, „es sei ihre eigene Schuld, wenn sie nicht Nein sagen“, antwortet Catherine Millet: „Nochmal: Missbrauch ist justitiabel. Aber mich stört der Opferdiskurs vieler Frauen. Sie bezeichnen sich als Opfer, weil Männer sie wegen eines Minirocks als Schlampe bezeichnen oder ihnen in der U-Bahn an den Hintern fassen. Meines Erachtens sind das harmlose Vorkommnisse. Eine normale, selbstbewusste Frau, der so etwas passiert, kann dem Typen in der U-Bahn eine schmieren oder sich anders wehren“.
Ich als „normale, selbstbewusste“ Frau kämpfe beim Lesen dieser Sätze mit Brechreiz. Es erschüttert mich, dass Frau Millet und ihre Mitstreiterinnen oben angeführte Situationen als „harmlose Vorkommnisse“ sehen, die für sie offenbar zum Frausein dazugehören. Als seien übergriffige Männer Naturereignisse, die man eben hinnehmen muss. Als müsse man diese Art „unbeholfene Anmache“, wie es im Aufruf in Le Monde heißt, notgedrungen wegzustecken lernen, mit ihr umgehen und sie nicht als das benennen, was sie ist: ein banaler, mieser Machtanspruch.
Kein erotisches Spiel unter Gleichen. Kein wertschätzendes Kompliment.
Kein Flirt.
Dass Frauen im öffentlichen Raum immer und jederzeit damit rechnen müssen, als „Schlampe“ bezeichnet oder angefasst zu werden, ist schlicht und ergreifend nicht „normal“. Vielmehr ist es Ausdruck eines trotz aller Gleichberechtigungsbestrebungen vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas, in dem die Verfügbarkeit weiblicher Körper sexuelle Freizügigkeit suggerieren soll, in Wahrheit jedoch genau das widerspiegelt, was unsere Gehaltslisten sagen, die Geschlechterverteilung in Machtpositionen, die vielen kleinen und großen Hürden, denen sich Frauen gegenübersehen auf ihrem Weg. (Von den mitunter katastrophalen Lebensbedingungen für Frauen in weniger entwickelten Ländern ganz zu schweigen.)
Geprägt fürs Leben
Damals im Auto, in jenem Wald in den österreichischen Bergen, lag „nur“ eine behaarte Hand auf meinem Oberschenkel. Ich kam scheinbar unversehrt aus dieser Situation heraus.
Nun, Jahrzehnte später, da Sexisten wie Donald Trump das Weltgeschehen bestimmen und als Gegenreaktion dazu offenbar ein breiter Diskurs über das Verhalten mancher Männer gegenüber vielen Frauen möglich geworden ist, sprang diese Erinnerung wie aus einer Zeitkapsel heraus.
Vielleicht können manche Frauen wie die französischen Unterzeichnerinnen solche Erlebnisse als „harmloses Vorkommnis“ abtun.
Die Wahrheit ist, dass solch ein Ereignis ein Leben prägen kann. Es zeigt einem Mädchen, dass ein Mann die Macht hat, es unter falschen Voraussetzungen in eine Situation zu locken, aus der es nur mehr entkommen kann, wenn er es will.
Ich wusste damals nicht, was mir hätte passieren können, hatte keine Ahnung, was ein Mann mit einem Mädchen im Wald in der Lage ist zu tun. Das, was mir allerdings klar war nach diesem Erlebnis: Alle Macht war bei ihm gewesen, die Ohnmacht bei mir.
Wie kann man nur wieder Kontakt zum vermeintlichen Täter aufnehmen?
Ein Jahr später ging ich ein zweites Mal auf sein Angebot ein, über meine Gedichte zu sprechen. Ich war fünfzehn, ich lebte im Internat, war zu Gehorsam erzogen worden, nicht zum Ausdruck eigenen Willens. Wenn ein Lehrer eine Einladung aussprach, leistete man ihr Folge. Vielleicht leitete mich auch der unbewusste Wunsch, eine respektvolle Begegnung könne die erste „wiedergutmachen“, das Gefühl der Beschädigung in etwas Positiveres verändern, das Unbehagen von mir nehmen, das mich ansprang, jedes Mal wenn ich den Lehrer in der Schule sah.
Seine Wohnung habe ich als extrem dunkel in Erinnerung. Auch seine Frau war ein Schatten im Türrahmen. Er saß mir auf einem Biedermeierstuhl gegenüber und nippte an der Teetasse, welche seine Frau serviert hatte.
Meine Gedichte, fand er, seien ganz nett. Auf meine Frage, ob er mir empfehlen könne, weiterzuschreiben, lächelte er und meinte, ich solle mich konzentrieren. Auf die Schule.
*
Dieser Text wurde am 16. Jänner 2018 fertiggestellt, einige Tage vor den Enthüllungen um den Regisseur Dieter Wedel und allen weiteren Erkenntnissen, auch über andere mutmaßliche Täter.
Dass nun Bilder in Museen abgehängt werden, Gedichte zensiert, Verträge zwischen Männern und Frauen vor sexuellen Begegnungen geschlossen werden sollen, scheint mir das Ausschwingen des Pendels auf die andere Seite zu sein.
Diese Überreaktionen werden sich legen, neuer Puritanismus scheint mir nicht die Gefahr zu sein. Was sich gegenwärtig Bahn bricht, ist in seinen Konsequenzen hoffentlich ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, der nachhaltig sein wird.
#MeToo: Die Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland über eigene Erfahrungen und falsche Mythen>
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen wie den Rauriser Förderpreis, das Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich und das Stipendium des Berliner Senats. Sie wurde außerdem mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis, dem Harder Literaturpreis und dem Tübinger Würth-Preis ausgezeichnet. 2015/16 erhielt sie das Projektstipendium des Bundeskanzleramtes. Birgit Müller-Wieland lebt in Berlin und München. Ihr aktueller Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert
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Wurzeln schlagen
Er kam in einem Sportwagen, einem roten. Wäre ich älter gewesen, hätte ich mich gewundert. Aber ich war vierzehn damals, sah einen behaarten Arm, rasch wurde die Tür von innen aufgedrückt.
„Komm herein“, sagte der Mann freundlich.
Zehn Minuten später rumpelte der Wagen einen menschenleeren Waldweg entlang.
Fragte ich ihn, wohin die Fahrt ginge? Wahrscheinlich nicht. Es war Mittag, ein sonnenloser, aber heller Sommertag. Die Bäume zockelten gemächlich und tiefgrün vorüber an diesem letzten Schultag. Mein Koffer im Internat war gepackt, einige Stunden später würde ich von meinen Eltern abgeholt werden.
Im dichten Wald hielten wir.
Stille.
Ich sah ihn kurz von der Seite an, er starrte geradeaus. Ich drehte meinen Kopf und sah ebenfalls durch die Windschutzscheibe hinaus auf den unebenen Weg vor uns.
Ringsherum: Bäume.
Wartete ich noch auf das Gespräch, das er mir versprochen hatte?
Stille.
Plötzlich lag auf meinem Oberschenkel seine Hand.
Ich weiß nicht, welche Kleidung ich trug. Mag sein, eine Hose. Wahrscheinlich ist aber, dass es ein Rock war, ein kurzer. Auf jeden Fall spürt die Haut meines Oberschenkels den brennenden Druck dieser Hand, wenn ich an damals denke, so als wäre kein Stoff dazwischen gewesen.
Die Hand gehörte zu einem Lehrer für Latein und Musik. Weder das eine noch das andere Fach unterrichtete er in meiner Klasse. Ich saß mit ihm in diesem Auto auf einem mir unbekannten Forstweg in einem plötzlich etwas dämmrigen Wald, mitten am Tag, weil er mir empfohlen worden war, von einem älteren Schüler, mit Hochachtung in der Stimme. Er sei einer, der sich gut mit Literatur auskenne. Einer, dem man Gedichte anvertrauen könne und der einem sage, ob man begabt sei oder nicht.
Die Gedichte befanden sich in einer Tasche zu meinen Füßen. Weder wurde über sie noch sonst irgendein Wort in diesem roten Auto im Wald gesprochen.
Es wäre auch nicht mehr möglich gewesen.
Ich war etwas jenseits aller Sprache geworden.
Etwas Hartes und Starres, Wurzelschlagendes.
Wurzeln schlagen sich blitzschnell unter meinen Füßen durch den Autoboden hindurch, auf meiner Seite, nach rechts, als sei dies ein Weg hinaus, dorthin, wo die anderen Bäume stehen.
Wie lange dauerte es?
Eine verkrüppelte Kiefer.
Das ist das Bild, das ich von mir habe.
Irgendwann wurde die Hand von meinem Schenkel weggenommen und der kleine, pockennarbige Lehrer für Latein und Musik startete wortlos den Wagen. Wie ich ins Internat zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich habe keine Erinnerung an die folgenden Stunden, an die Eltern, den Abschied von der Internatsleiterin, die anderen Mädchen, an die Ferientage danach.
Ich erzählte niemandem von dieser Fahrt in den Wald.
Ich vergaß sie.
Erstarrung und Widerstand
Nun, nach Jahrzehnten, ist sie mir wieder eingefallen, so wie mir alle Situationen meines Lebens wieder eingefallen sind, in denen Männer gewisse Körperstellen ohne mein Einverständnis in Besitz genommen oder mir Sätze ins Gesicht oder Ohr gesagt haben, die beleidigend und obszön waren.
Alles ist aufs Neue da: der Griff zwischen die Beine in einem vollbesetzten Bus in Salzburg, als ich achtzehn war, jener in der Straßenbahn in Rom einige Jahre später. Das erste Mal war der Schock so groß, die Scham, dass mir das geschah, so tief, dass ich augenblicklich erstarrte, Wurzeln schlug. Beim zweiten Mal fuhr ich herum, heftig atmend, versuchte den Täter auszumachen.
Nichts. Nur der Alptraum schwankender, unbeteiligter Gesichter rund um mich.
Auch die Verlegerhand spüre ich erneut meinen Rücken entlangstreifen, bis ganz hinunter, damals, beim ersten Buch, und abermals kann ich nicht glauben, was da in einem Restaurant, in einer Runde von Menschen soeben stattfindet, ich höre den geflüsterten Satz: „Wenn ich gewusst hätte, dass du nach Frankfurt kommst, hätte ich einen Pyjama mehr mitgenommen.“
Verkrüppelung. Kiefer.
In einem Zug nach Tunis greift mir ein Mann an die Brust, einfach so, und endlich reagiert mein Körper anders, mein Arm schießt vor, die Hand klatscht in sein Gesicht, ich ohrfeige ihn, tatsächlich!, meine Handfläche brennt, er schreit mit verzerrtem Gesicht beim Hinausspringen: „Pourquoi? Pourquoi?“
Es war das erste Mal, dass ich mich wehren konnte. Warum? Weil ich nicht allein war. Zwei Freundinnen waren bei mir und wir alle drei schon dermaßen genervt vom Abwehrkampf gegen die Männer in dem Urlaub, dass dieser dreiste Übergriff endlich zu einer adäquaten Reaktion führte. (Dass ich mich allerdings in eine gewisse Gefahr begeben hatte damit, wurde mir erst hinterher klar.)
Die Szene mit dem Verleger hingegen spielte sich einige Jahre nach der Tunesien-Reise ab. Es ist erschreckend und beschämend, dass es mir unmöglich war, mich gegen einen Mann zu wehren, von dessen Wohlwollen damals, wie ich glaubte, mein Leben als Schriftstellerin abhing. Wäre ich fähig gewesen, ich selbst zu sein in dieser Situation, fähig, laut zu sagen, dass hier gerade ein Übergriff stattfindet, eine nicht gewollte körperliche Berührung, eine Anmache, die ein Machtmissbrauch ist, wäre dies das Ende mit dem Verlag gewesen.
Ja, das kann man mir vorwerfen.
Warum war es möglich, gegen den Mann in Tunis vorzugehen, dem Verleger Jahre später jedoch wieder schockstarr ausgeliefert zu sein? Übergriffe von Männern, denen man vertraut, mit denen man ein Arbeitsverhältnis hat oder eingehen will, sind besonders perfide, weil sie unvermittelt eine Atmosphäre der Zuwendung, der Sympathie, der Bereitwilligkeit zerstören. Sie leben von der Überrumpelung, der Schrecksekunde, dem Nichtwissenwohin.
Scham, Pein und Ängstlichkeit fluten den Körper, das Gehirn. Man kann nicht mehr denken. Man versucht die Peinlichkeit zu überspielen, die Fassade aufrechtzuerhalten, intuitiv werden tief verwurzelte Verhaltensweisen abgerufen, man steht neben sich.
Mythen
Die derzeit stattfindende öffentliche Diskussion über Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt ist längst überfällig. Endlich werden Tatsachen ans Licht geholt, Konsequenzen gezogen, scheinbar sakrosankte Täter benannt und geächtet. Diese staatenübergreifende Debatte samt ihren Folgen beinhaltet auch die Chance, mit Mythen aufzuräumen.
Immer wieder wird gegen die Opfer (Frauen und Männer) ins Feld geführt, dass sie sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten zu den Gewalttaten äußern oder Täter anzeigen
Es ist schwer, die Gefühle der Erniedrigung, Ohnmacht und Scham bei diesen Vergehen jemandem zu vermitteln, der sie nicht erleiden musste. Niemand will Opfer sein. Man schließt das Ereignis in ein inneres Kästchen. Es ist die Sehnsucht nach Ungeschehenmachen, die Arbeit des Verdrängens, all die vielfältigen Strategien unserer Psyche, uns weiterleben zu lassen, welche das Schweigen bedingen.
Irgendwann, wenn gewisse Faktoren zusammentreffen, die auch von außen kommen können – wenn man erkennt, dass bestimmte Verhaltensweisen, Strukturen, Lebensunmöglichkeiten auf diese traumatischen Erfahrungen zurückzuführen sind, oder wenn man endlich selbstbewusst genug ist oder der Peiniger nicht mehr im Amt, in der Position, in der er die Deutungshoheit hat, oder wenn auch andere sich getraut haben, diesen anzuzeigen: Dann findet man vielleicht die Kraft zu erkennen und öffentlich zu machen, was das bisherige Leben verdunkelte, die Kraft für den Gang zur Polizei, zu den Gerichten.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es bei vermeintlichen Tätern Unschuldige treffen könnte
Diese drohende Möglichkeit muss mitbedacht werden, das ist selbstverständlich, und jeder unschuldig Verurteilte ist eine Tragödie. Aber kann die aus welchen Gründen auch immer erfolgende Beschuldigung eines Nicht-Täters, die vereinzelt vorkommen mag, tatsächlich ein gravierendes Gewicht haben gegenüber der offensichtlichen Schieflage, die unsere Gesellschaften bestimmt, eine Schieflage, die durch eine klare, wissenschaftliche, in Zahlen ausdrückbare Wahrheit beglaubigt ist?
Warum wehren sich die Opfer so selten?
Unser Körper reagiert bei Gefahr instinktiv und unterschiedlich: mit Gegenwehr, Flucht, kognitiven Strategien oder aber Totstellen, Versteinerung (zum Baum werden). Je nach Situation, Erfahrungen, psychischen Grundlagen. Manche Opfer spalten das Geschehen ab. Die Forschung verwendet dafür den Begriff Dissoziative Störung, ihre Ausprägungen können zahlreich sein.
Noch meine Generation (zumal in Österreich) wurde zudem teilweise zu absolutem Gehorsam gedrillt, wuchs rechtlos auf, durfte nie das Wort gegen Autoritäten erheben. „Nein“ sagen zu lernen, war ein unendlich mühsamer Prozess.
2016 wurde das Sexualstrafrecht reformiert. Zukünftig macht sich strafbar, wer die Unfähigkeit eines Opfers zum Widerstand ausnützt oder überraschend sexuelle Handlungen an ihm vornimmt. Menschen, die weder fliehen noch Widerstand leisten konnten, werden also vor Gericht nicht mehr zusätzlich gedemütigt, weil sie keinen erkennbaren Abwehrkampf lieferten.
Was ist normal?
„Wir fordern die Freiheit, aufdringlich werden zu dürfen, die für sexuelle Freiheit notwendig ist."
Ein Keulenschlag, dieser Satz. Kann es wirklich sein, dass Frauen ihn im Jahr 2018 veröffentlichen? Er steht im Aufruf der 100 Frauen in Le Monde, einem Schreiben, das sich derzeit gegen die #MeToo-Bewegung wendet. Um welche sexuelle Freiheit geht es diesen privilegierten Damen der französischen Gesellschaft, die sich vermutlich eher selten in Abhängigkeitsverhältnissen befinden? Ist es die vorwiegend männliche Art, sich Frauen zu nähern, welche hier als sexuelle Freiheit für alle verteidigt wird?
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 11. Januar 2018 sagt eine der Unterzeichnerinnen, Catherine Millet: „Es gibt Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe. Man kann sich also juristisch wehren. Diese Frauen aber schweigen erst über Jahre. Und wählen dann das öffentliche Tribunal.“
Ja, liebe Frau Millet, genau. Endlich TRAUEN sie sich, endlich wird das Schweigen gebrochen, etliche Täter beim Namen genannt. ENDLICH.
Auf die Frage des Journalisten Alex Rühle, ob sie nicht „all die Frauen, die sich jetzt outen, ein zweites Mal zu Opfern“ mache, wenn sie ihnen sage, „es sei ihre eigene Schuld, wenn sie nicht Nein sagen“, antwortet Catherine Millet: „Nochmal: Missbrauch ist justitiabel. Aber mich stört der Opferdiskurs vieler Frauen. Sie bezeichnen sich als Opfer, weil Männer sie wegen eines Minirocks als Schlampe bezeichnen oder ihnen in der U-Bahn an den Hintern fassen. Meines Erachtens sind das harmlose Vorkommnisse. Eine normale, selbstbewusste Frau, der so etwas passiert, kann dem Typen in der U-Bahn eine schmieren oder sich anders wehren“.
Ich als „normale, selbstbewusste“ Frau kämpfe beim Lesen dieser Sätze mit Brechreiz. Es erschüttert mich, dass Frau Millet und ihre Mitstreiterinnen oben angeführte Situationen als „harmlose Vorkommnisse“ sehen, die für sie offenbar zum Frausein dazugehören. Als seien übergriffige Männer Naturereignisse, die man eben hinnehmen muss. Als müsse man diese Art „unbeholfene Anmache“, wie es im Aufruf in Le Monde heißt, notgedrungen wegzustecken lernen, mit ihr umgehen und sie nicht als das benennen, was sie ist: ein banaler, mieser Machtanspruch.
Kein erotisches Spiel unter Gleichen. Kein wertschätzendes Kompliment.
Kein Flirt.
Dass Frauen im öffentlichen Raum immer und jederzeit damit rechnen müssen, als „Schlampe“ bezeichnet oder angefasst zu werden, ist schlicht und ergreifend nicht „normal“. Vielmehr ist es Ausdruck eines trotz aller Gleichberechtigungsbestrebungen vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas, in dem die Verfügbarkeit weiblicher Körper sexuelle Freizügigkeit suggerieren soll, in Wahrheit jedoch genau das widerspiegelt, was unsere Gehaltslisten sagen, die Geschlechterverteilung in Machtpositionen, die vielen kleinen und großen Hürden, denen sich Frauen gegenübersehen auf ihrem Weg. (Von den mitunter katastrophalen Lebensbedingungen für Frauen in weniger entwickelten Ländern ganz zu schweigen.)
Geprägt fürs Leben
Damals im Auto, in jenem Wald in den österreichischen Bergen, lag „nur“ eine behaarte Hand auf meinem Oberschenkel. Ich kam scheinbar unversehrt aus dieser Situation heraus.
Nun, Jahrzehnte später, da Sexisten wie Donald Trump das Weltgeschehen bestimmen und als Gegenreaktion dazu offenbar ein breiter Diskurs über das Verhalten mancher Männer gegenüber vielen Frauen möglich geworden ist, sprang diese Erinnerung wie aus einer Zeitkapsel heraus.
Vielleicht können manche Frauen wie die französischen Unterzeichnerinnen solche Erlebnisse als „harmloses Vorkommnis“ abtun.
Die Wahrheit ist, dass solch ein Ereignis ein Leben prägen kann. Es zeigt einem Mädchen, dass ein Mann die Macht hat, es unter falschen Voraussetzungen in eine Situation zu locken, aus der es nur mehr entkommen kann, wenn er es will.
Ich wusste damals nicht, was mir hätte passieren können, hatte keine Ahnung, was ein Mann mit einem Mädchen im Wald in der Lage ist zu tun. Das, was mir allerdings klar war nach diesem Erlebnis: Alle Macht war bei ihm gewesen, die Ohnmacht bei mir.
Wie kann man nur wieder Kontakt zum vermeintlichen Täter aufnehmen?
Ein Jahr später ging ich ein zweites Mal auf sein Angebot ein, über meine Gedichte zu sprechen. Ich war fünfzehn, ich lebte im Internat, war zu Gehorsam erzogen worden, nicht zum Ausdruck eigenen Willens. Wenn ein Lehrer eine Einladung aussprach, leistete man ihr Folge. Vielleicht leitete mich auch der unbewusste Wunsch, eine respektvolle Begegnung könne die erste „wiedergutmachen“, das Gefühl der Beschädigung in etwas Positiveres verändern, das Unbehagen von mir nehmen, das mich ansprang, jedes Mal wenn ich den Lehrer in der Schule sah.
Seine Wohnung habe ich als extrem dunkel in Erinnerung. Auch seine Frau war ein Schatten im Türrahmen. Er saß mir auf einem Biedermeierstuhl gegenüber und nippte an der Teetasse, welche seine Frau serviert hatte.
Meine Gedichte, fand er, seien ganz nett. Auf meine Frage, ob er mir empfehlen könne, weiterzuschreiben, lächelte er und meinte, ich solle mich konzentrieren. Auf die Schule.
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Dieser Text wurde am 16. Jänner 2018 fertiggestellt, einige Tage vor den Enthüllungen um den Regisseur Dieter Wedel und allen weiteren Erkenntnissen, auch über andere mutmaßliche Täter.
Dass nun Bilder in Museen abgehängt werden, Gedichte zensiert, Verträge zwischen Männern und Frauen vor sexuellen Begegnungen geschlossen werden sollen, scheint mir das Ausschwingen des Pendels auf die andere Seite zu sein.
Diese Überreaktionen werden sich legen, neuer Puritanismus scheint mir nicht die Gefahr zu sein. Was sich gegenwärtig Bahn bricht, ist in seinen Konsequenzen hoffentlich ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, der nachhaltig sein wird.