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28.12.2017, 11:50 Uhr
Friedrich Ulf Röhrer-Ertl
Spektakula
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Friedrich Ulf Röhrer-Ertl

Zu Besuch in Hisako Inoues „Bibliothek der Gerüche“

Weihnachtszeit – staade Zeit. Von wegen. Oft genug heißt es, sich selbst und die Familie zu beschäftigen. Da kommen nicht zuletzt Museen ins Spiel, in München natürlich das Weihnachtsmuseum schlechthin, die Krippenausstellung im Bayerischen Nationalmuseum. Aber es gibt auch andere spannende Alternativen. Im Moment die feine kleine Ausstellung Die Bibliothek der Gerüche in der Villa Stuck, gleich hinter dem Friedensengel. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl war vor Ort. Wer die olfaktorische Begegnung mit dem Buch selbst ausprobieren möchte, kann dies noch bis zum 14. Januar 2018 tun.

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Unter den vielen Museen Münchens ist die Villa Stuck vielleicht nicht immer das beliebteste, obwohl es mit seinem vielfältigen Programm und dem vom Malerfürsten Franz von Stuck entworfenen grandiosen Ambiente viel zu bieten hat. Zu den spannendsten Ereignissen in der Villa gehören die Ricochets – Ausstellungen aktueller Kunst, die sich wie abprallende Kanonenkugeln mit den prächtigen Räumen und unseren Erwartungen auseinandersetzen.

Die laufende, bereits elfte Ricochet-Ausstellung wurde von der japanischen Künstlerin Hisako Inoue gestaltet. Der Schwerpunkt ihrer Arbeiten liegt in der olfaktorischen Kunst, also in einer Kunst der Gerüche. Im Falle dieser Ausstellung der Gerüche von Büchern. 2016 hat Hisako Inoue drei Monate in München und Feldafing in der Villa Waldberta verbracht und rund siebzig Bücher mit unterschiedlichsten Gerüchen gesammelt, auf denen die Ausstellung beruht.

 

Die Villa Franz von Stucks (erbaut 1897 /1898) vereinigt luxuriöse Rauminszenierungen, ein repräsentatives Künstleratelier und privates Wohnen. © Museum Villa Stuck, Nikolaus Steglich 

 

Die Ausstellung nimmt sechs der historischen Räume der Villa Stuck ein. Sie beginnt im ehemaligen Vestibül mit einer großen Vitrine, in der unterschiedlichste Bücher gezeigt werden, darunter Bände mit eingelegten Blumen, alte und neue japanische Drucke, Papier-, Stoff- und Ledereinbände. Sie sind „Spuren“, Reste der Gedanken der Menschen, die sie einst verfasst haben. Ich betrachte sie neugierig, aber noch nicht zu interessiert, denn die Vitrine sieht fast normal aus, bis auf die Auswahl fast wie in einer normalen Ausstellung alter Bücher.

Der nächste Raum, die ehemalige Garderobe. Eine Soundinstallation (mit Hilfe von Takurô Shibayama erarbeitet) zeigt uns „Menschenleben“, oder eher: Menschenleben mit Büchern, wie sie umgeblättert, ins Regal gestellt, benutzt werden. Stimmenfragmente, Kinder. Man erahnt die Bücher als Lebensbestandteil, als stille Zeugen unserer Existenz, zumindest wenn wir Bücher besitzen – allein, wer sonst würde in diese Ausstellung kommen?

Gemessenen Schrittes durchquere ich Empfangs- und Musiksalon Stucks, diese Räume, die auf mich immer wirken, als wären sie nie bewohnt, sondern nur repräsentiert worden. Danach der Hauptausstellungsraum, die ehemaligen beiden Salons und das große Esszimmer. Hier befindet sich die eigentliche Bibliothek der Gerüche. Auf drei dunklen, ovalen Podesten ruhen gläserne, schwere Gloschen und unter jeder Glosche ein Buch, insgesamt 22. Zehn davon wurden in Tokyo von Frau Mika Shirasu wissenschaftlich mit einem Gaschromotographen untersucht, spinnennetzartige Diagramme informieren über die messbaren Gerüche dieser Werke. Daneben hat Hisako Inoue aber auch jedem Buch eine Benennung, eine Assoziation gegeben. Wir Besucher sind eingeladen, die Gloschen abzuheben, die Bücher in die Hand zu nehmen und uns auf die eigene Geruchsreise zu begeben.

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Hisako Inoue – Die Bibliothek der Gerüche © Museum Villa Stuck, Nikolaus Steglich

 

Tief durchatmen, die Augen schließen und in das Buch riechen. Anfangs fällt es mir schwer, aber mit Ruhe und etwas Übung fange ich an, die Gerüche wahrzunehmen. Nicht alle wecken für mich dieselben Assoziationen wie für die Künstlerin. Die „Universitätsbibliothek“ riecht für mich mehr nach Hochmoor als nach dem Zimmer eines gewissen Professors für bayerische Literaturgeschichte. Spannend ist es aber auch, die Bücher selbst, also ihre Inhalte, mit den Gerüchen zu vergleichen. Peer Gynt als „süßer schwarzer Tee“? Nun ja, das passt irgendwie, auch wenn aus ihm dann ein Seefahrer des späten 19. Jahrhunderts zu werden scheint. Aber ein „Landserheft“ zum Pazifikkrieg als „modisch gestylter älterer Herr“? Da scheinen Papier und Text keinerlei Zusammenhang mehr zu haben. Auch die „Kindheit“, ein lustiges Taschenbuch, riecht mir zu fischig. Meine „lustigen Taschenbücher“ rochen anders, wahrscheinlich, weil sie größtenteils noch nicht in Farbe gedruckt waren.

Die Seitenkabinette variieren die Bibliothek. Im ehemaligen Rauchsalon liegen auf einem niedrigen Pult vier meist großformatige Werke, darunter ein Prachtband wie ein alter großformatiger Druck aus dem Jahre 1672. Keine Gloschen hier, die Bände sind zu groß. Mich sprechen sie auch mehr vom Fühlen her an als vom Geruch. Überhaupt erkunden meine Finger die Bücher fast genauso stark wie meine Nase. Papier und Stoff, alte Plastikbeschichtungen und neues Leder, sie alle riechen und duften nicht nur, sie fühlen sich auch unterschiedlich an. Einerseits natürlich, aber wenn man nicht die Buchstaben liest und davon abgelenkt ist, kommen diese Gefühle neben den Gerüchen besonders zum Tragen.

Im Boudoir dagegen sind auf einem Podest braune Fläschchen angeordnet, die „Geschichtenerzähler“. Sie enthalten 18 Geruchsbestandteile, die bei der Analyse der Bücher im Speisesaal isoliert werden konnten. Synthetische Buchparfüme also, olfaktorische Bücher in Reinkultur.

Ein bisschen fühlt man sich an Walter Moers erinnert, der in seinem Roman Die Stadt der träumenden Bücher intensiv über Büchergerüche spricht (und im thematischen Nachfolgeroman Das Labyrinth der träumenden Bücher eine olfaktorische Orgel beschreibt, deren Wirkung einen an die Duftflaschen der Ausstellung denken lässt). Umgekehrt denkt man, umgeben von Bücherduft, auch daran, wie Douglas Adams einst (Telefon-)Desinfizierer als besonders unnütze Teile einer Gesellschaft beschrieben hat.

In Stucks ehemaliger Bibliothek (um wieviel winziger sogar noch als sein Rauchsalon!) versteckt sich unter einer einzelnen Glosche eine weitere Soundinstallation, ein „Zeit-Takt“. Wie Herzschläge hört man das Umblättern von Seiten. Mich selbst reizen dabei mehr die hinter Glas unzugänglichen Bücher der Bibliothek. All‘ die Düfte machen süchtig, ich frage mich, was dieser wunderbare Stefan George hier oder jener Roman dort an Gerüchen verbergen mag.

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Höhepunkt der Bibliothek der Gerüche in Stucks altes Atelier © Museum Villa Stuck, Jann Averwerser

 

Der Höhepunkt der Ausstellung wartet schließlich im Obergeschoss. In der mystischen Düsternis von Stucks altem Atelier hat Hisako Inoue einen schwarzen Kubus eingestellt. Innenwände und Decke sind mit geknitterten Plakaten, Magazinen, Zeitungen beklebt, auf dem Boden häufen sich die zerknüllten Papiere. Wir sind eingeladen wie in einem japanischen Heim die Schuhe auszuziehen und uns inmitten der Papiere niederzulassen, ihren Duft einzuatmen und uns mit ihnen zu bedecken. Mit offenen Augen steigen zunächst in mir Assoziationen zum Leben eines Obdachlosen auf, aber mit geschlossenen scheint es fast, als triebe ich in einem papiernen Meer, umgeben von Holz und Tinte, Buchstaben und Gedanken. Wärme umgibt mich, es ist angenehm.

Ich verlasse den geschützten warmen Raum des Papiers, mein Blick fällt unwillkürlich auf Franz von Stucks Gemälde Die Sünde, das mir von seinem Altaraufbau genau in die Augen blickt. Schaut die Sünde deswegen so säuerlich, weil hier jeder in die Kiste steigen darf, nur sie nicht? Oder fühlt sie sich angesichts der kalten Stadttemperaturen vor dem Fenster einfach nur kalt? Auf dem Weg zum Ausgang fällt mein Blick noch einmal auf die große Vitrine im Vestibül und ich fühle den unwillkürlichen Drang, sie zu öffnen und in die Gerüche der besonderen Bücher darin zu versinken.

Stattdessen kehre ich heim und stecke meine Nase in die eigenen Bücher, vor allem die älteren. Mirok Lis Der Yalu fliesst in der Erstausgabe von 1946? Süßer Vanilleduft und Zuckerdrops. Ein japanisches Büchlein aus den frühen 1920er-Jahren, ein Führer zu den damaligen Geikos in Kyôto aus Maulbeerbaumpapier? Leider kein Duft von Kirschblüten, mehr von Pfeifentabak, Stoffen, Exotik. Aber würde ich die Exotik riechen, wenn ich nicht wüsste, welches Buch ich vor mir habe? Schließlich, ein böses Buch, Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Ein erstaunlich sauberer Duft, mehr Blumenwiese als Uniform, mehr Süßigkeiten als Bitternis, als versuchte das alte Papier den schlimmen Inhalt reinzuwaschen.

 

Bücher unter Glasglocken © Friedrich Ulf Röhrer-Ertl

 

Ich frage mich, wie es wohl wäre, an Keilschrifttafeln zu riechen, an Pergamenthandschriften und noch mehr Hadernpapier. Vage erinnere ich mich an einige Pergamenturkunden, die ich als Student einst in Händen gehalten habe. Ich bedaure, nicht mehr an ihnen geschnuppert zu haben. Ob sich das nachholen lässt? Oder würden die Aufsichtspersonen in Bibliotheken und Archiven dann anfangen, Masken zu verteilen, wie sie jetzt schon oft genug Handschuhe verteilen?

Und unwillkürlich wünsche ich mir, ein Autor könnte, wenn er sein Buch veröffentlicht, auch bestimmen, wie es duften, riechen, stinken soll. Da kann tatsächlich kein Kindle oder Tolino mehr mithalten!

 

Die Bibliothek der Gerüche wird noch bis zum 14. Januar 2018 im Rahmen der Reihe „Ricochet“ in der Villa Stuck gezeigt. Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag, 11-18 Uhr. Empfehlenswert ist der Katalog zur Ausstellung, der neben Essays auch ein Interview mit der Künstlerin (der Titel dieses Beitrags ist dort entnommen) und Texte ihrer Mitarbeiter enthält. Der Geruch des Buchs entspricht übrigens dem vieler Kataloge: säuerlich, mit einer leicht nussigen Note, garniert mit einer unbestimmten, moschusartigen Beigabe. Am 10. Januar 2018 hält Hisako Inoue übrigens einen letzten Geruchsworkshop in den Räumlichkeiten der Monacensia.