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09.01.2013, 14:28 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [64]: Wechselwirkungen zwischen Provinz und Zentrum

Der große Baumeister Katharinas II, Matwei Kasakow, entwarf den Senatspalast, der 1787 so gut wie vollendet war.  Der Töpener Hofmeister Jean Paul hätte das moderne Bauwerk – wesentlich moderner als die unvergleichliche Basiliuskathedrale am Roten Platz – sehen können, hätte er das Glück eines Kremlbesuchs gehabt. Nachher (oder vorher) hätte er übrigens nicht ins GUM gehen können, in dem sich Frauen wie Ernestine Knör vermutlich verlieren würden – denn das Prachtkaufhaus gab es damals noch nicht. Wohl aber hätte er den Palast vom Schönen Platz aus noch einmal erblicken können, um über das Verhältnis von Großer Welt, Politik und „Provinz“ nachzudenken. (Fotos: Frank Piontek, 28.12. 2012)

Unter der Regierung Katharinas „der Großen“ wurde im Kreml ein einziges Gebäude neu errichtet: der Senatspalast. Bereits 1776 hatte man mit den Grundmauern begonnen. Das Gebäude hat eine enorme Größe (passend zum Kreml, dessen Ziegelmauer zwei Kilometer lang ist und viele Bauten umfasst): die drei Seiten des dreischenklig angelegten Palastes sind jeweils 100 Meter lang. Matwei Fjodorowitsch Kasakow, der einen großzügigen, schließlich nicht verwirklichten Neubauplan für den gesamten Kreml entworfen hatte, hat sich mit dem Senat in der Schaltzentrale des russischen Imperiums unübersehbar verewigt (auch wenn Touristen das Gebäude nur aus einer Distanz von etwa 100 Metern sehen können. Am besten sieht man ihn von der gewaltigen Zarenkanone aus; die dem Osten zugewandte Langseite erblickt man auch vom Roten Platz).

Ich stelle mir vor: 1787 – da wird Jean Paul gerade Hofmeister in Töpen – ist der Bau an sich vollendet. Während Jean Paul seinen ersten Roman plant, ist man 1790 drinnen noch mit letzten Ausstattungsarbeiten beschäftigt. Der Dichter hat die Erfahrungen seines Duodezregimes, doch kennt er sich sicher schon ein wenig in der Geschichte Russlands aus (wer von „vorigen Potentaten“ schreibt, weiß, wen er da satirisch reflektiert). Man muss das, glaube ich, immer mitbedenken: diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Hier das Werkeln in einer winzigen Stube in einem winzigen Kaff, dort die Manifestation eines politischen Willens in Form eines groß dimensionierten Gebäudes, in dem Beschlüsse gefasst – oder abgesegnet – werden, die auf den Gang der sogenannten Weltgeschichte einwirken: einer Weltgeschichte, die letzten Endes auch in Örtchen wie Schwarzenbach an der Saale ihre Wirkung hat.

Wenn man weiß, dass Katharina eine gebürtige Prinzessin aus Anhalt-Zerbst war[1], ahnt man, welche Bezüge zwischen „Groß“ und „Klein“ manchmal herrschen. Jean Paul erschrieb sich, als der Senatspalast erstmals bespielt wurde, eine Welt, die „kleine“ Zustände beschreibt, aber – zumindest nach Meinung des Bloggers – haltbar geblieben ist: also „groß“, weil prägnant. Der Moskauer Senatspalast ist ein architektonisch und (heute noch) politisch „bedeutendes“ Gebäude, in dem der Russische Staatspräsident seinen Sitz hat – aber sagt es mir etwas in seiner edlen Klassizität? Nicht mehr, als mir ein Kommentar über den Roman sagen würde, der behauptete, dass das alles – diese penible Beschreibung einstiger Zustände, die vergangenen Ideen des Autors und die ästhetisch fragwürdigen Strukturen – doch von Gestern sei.

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[1] Nichts gegen Anhalt-Zerbst! Wer, zum Beispiel, einmal das Glück hatte, das Schloss Oranienbaum zu besuchen, weiß, dass „Hochkultur“ nicht auf die Zentren beschränkt ist und „Provinz“ ein zweifelhafter Begriff ist – schon gar in Bezug auf den „Provinzler“ Jean Paul.

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