Der Schriftsteller Michael Krüger über die Frage: Wo ist die Zukunft geblieben?
Die Zukunft hat schlechte Karten. Sie liegt zwar immer noch vor uns, aber keiner denkt mit Freude und hohen Erwartungen an sie. Liest man, was an der letzten Jahrtausendwende im Ton der Gewissheit von ihr erhofft wurde, wird man schamrot: keine Kriege, keine Grenzen, ein geeintes Europa, ein zivilisiertes Internet, die Einhegung und Verbesserung der Umweltprobleme, das Nachlassen der Migrationsströme, das Ende des ungebremsten Finanzkapitalismus. Die Liste ist lang und ehrenvoll – und hat sich als großer Irrtum herausgestellt. Ist Prognostik nichts anderes als Wunschdenken? Da die Zukunft aber unweigerlich auf uns zukommt, wollen wir uns mit ihr befassen, bevor sie schon wieder Vergangenheit ist. Die Bayerische Akademie der Schönen Künste (BAdSK) hat dazu eingeladen, über die Zukunft nachzudenken. Ob sie dadurch besser wird, ist ungewiss; aber es wäre schon viel geholfen, wenn sie besser zu ertragen wäre. Michael Krüger, Präsident der BAdSK, berichtet in der zweiten Ausgabe von aviso in einem kurzen Abriss über die Vortragsreihe.
*
Das Motto unserer Reihe des Nachdenkens über die Zukunft haben wir einem der rätselhaften und zugleich glasklaren Fragmente von Franz Kafka entnommen: »Bitte, Vater, lass doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart. Daß dir das aber erst dein Sohn sagen muss!«
Der Zukunft wurde nicht immer die große Aufmerksamkeit zuteil, die sie heute genießt. Aber seitdem sie sich »nicht mehr als ein offener Horizont von Möglichkeiten zeigt, aus dem wir auswählen können, sondern von Bedrohungen besetzt wird, die offenbar ebenso langsam wie unaufhaltsam auf uns zukommen« (Hans Ulrich Gumbrecht), vergessen wir gerne, »dass jede Gegenwart einmal eine Zukunft gewesen war. ... Die Vergangenheit, so könnte man sagen, ist voll von nicht eingetretenen Zukünften« (Konrad Paul Liessmann). Oder mit den Worten des Komponisten Manfred Trojahn: »Zukunft gibt es nicht, es wird nur immer wieder ... neue Gegenwarten geben, und die werden nicht mehr unsere Gegenwarten sein.«
Vielleicht verliert die Zukunft ihren giftigen Stachel, wenn man über sie nachdenkt und sie nicht nur einfach als Bedrohung empfindet? Der Theaterkritiker Peter Michalzik kam zu der lakonischen Auffassung: »Die Gesellschaft hat eine Zukunft, wenn sie sich eine schafft.« Und der philosophisch geschulte Literaturkritiker der ZEIT, Ijoma Mangold, ist sich sogar sicher, dass die Literatur in dieser Zukunft eine herausragende Rolle spielen wird: »Die Literatur in ihrer Doppelfunktion, Gedächtnis und eye opener zugleich zu sein, welche kognitive Maschine sollte gefragter sein in den Welten, die auf uns zukommen?«
Eva Horn aus Wien beschreibt den tragischen Blick auf diese Zukunft: »Es ist ein Blick, der in der Katastrophe nicht nur die Zerstörung von Gütern und Werten liest, sondern die grundlegende Zerstörung einer menschlichen Natur, die sich ihre eigene Grundlage entzogen hat.« Sie zitiert Walter Benjamin: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Aber es geht weiter, mit dieser katastrophischen Perspektive müssen wir leben, daran erinnert uns Harald Welzer. Wie es weitergeht, schildert Niklas Maak anhand der Architektur der Internet-Mogule in Kalifornien; und Christoph Menke entwickelt anhand der TV- Serie »Breaking Bad« eine interessante These: »Die Zukunft öffnet sich in der Gegenwart nur durch einen ›Tigersprung ins Vergangene‹« (Walter Benjamin). Die Lebendigkeit, die die Gegenwart auf die Zukunft öffnet, ist die Erinnerung und Wiederholung einer vorvergangenen Lebendigkeit, die niemals Gegenwart, niemals ›da‹ war, weil sie der grundlose Grund ist, aus dem alles, was gegenwärtig ist, hervorgeht, indem es sich von ihm losreißt.«
Dr. h. c. Michael Krüger, 1943 in Wittgendorf, Kreis Zeitz geboren, war viele Jahre Geschäftsführer des Münchner Carl Hanser Verlags und Herausgeber der Literaturzeitschrift AKZENTE. Er ist Mitglied verschiedener Akademien, Autor von Gedichten, Geschichten, Novellen und Romanen. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er den Peter-Huchel-Preis und den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Michael Krüger ist Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Zum Weiterlesen: »Wo ist die Zukunft geblieben? Eine Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste« erscheint in diesen Tagen beim Wallstein-Verlag.
Der Schriftsteller Michael Krüger über die Frage: Wo ist die Zukunft geblieben? >
Die Zukunft hat schlechte Karten. Sie liegt zwar immer noch vor uns, aber keiner denkt mit Freude und hohen Erwartungen an sie. Liest man, was an der letzten Jahrtausendwende im Ton der Gewissheit von ihr erhofft wurde, wird man schamrot: keine Kriege, keine Grenzen, ein geeintes Europa, ein zivilisiertes Internet, die Einhegung und Verbesserung der Umweltprobleme, das Nachlassen der Migrationsströme, das Ende des ungebremsten Finanzkapitalismus. Die Liste ist lang und ehrenvoll – und hat sich als großer Irrtum herausgestellt. Ist Prognostik nichts anderes als Wunschdenken? Da die Zukunft aber unweigerlich auf uns zukommt, wollen wir uns mit ihr befassen, bevor sie schon wieder Vergangenheit ist. Die Bayerische Akademie der Schönen Künste (BAdSK) hat dazu eingeladen, über die Zukunft nachzudenken. Ob sie dadurch besser wird, ist ungewiss; aber es wäre schon viel geholfen, wenn sie besser zu ertragen wäre. Michael Krüger, Präsident der BAdSK, berichtet in der zweiten Ausgabe von aviso in einem kurzen Abriss über die Vortragsreihe.
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Das Motto unserer Reihe des Nachdenkens über die Zukunft haben wir einem der rätselhaften und zugleich glasklaren Fragmente von Franz Kafka entnommen: »Bitte, Vater, lass doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart. Daß dir das aber erst dein Sohn sagen muss!«
Der Zukunft wurde nicht immer die große Aufmerksamkeit zuteil, die sie heute genießt. Aber seitdem sie sich »nicht mehr als ein offener Horizont von Möglichkeiten zeigt, aus dem wir auswählen können, sondern von Bedrohungen besetzt wird, die offenbar ebenso langsam wie unaufhaltsam auf uns zukommen« (Hans Ulrich Gumbrecht), vergessen wir gerne, »dass jede Gegenwart einmal eine Zukunft gewesen war. ... Die Vergangenheit, so könnte man sagen, ist voll von nicht eingetretenen Zukünften« (Konrad Paul Liessmann). Oder mit den Worten des Komponisten Manfred Trojahn: »Zukunft gibt es nicht, es wird nur immer wieder ... neue Gegenwarten geben, und die werden nicht mehr unsere Gegenwarten sein.«
Vielleicht verliert die Zukunft ihren giftigen Stachel, wenn man über sie nachdenkt und sie nicht nur einfach als Bedrohung empfindet? Der Theaterkritiker Peter Michalzik kam zu der lakonischen Auffassung: »Die Gesellschaft hat eine Zukunft, wenn sie sich eine schafft.« Und der philosophisch geschulte Literaturkritiker der ZEIT, Ijoma Mangold, ist sich sogar sicher, dass die Literatur in dieser Zukunft eine herausragende Rolle spielen wird: »Die Literatur in ihrer Doppelfunktion, Gedächtnis und eye opener zugleich zu sein, welche kognitive Maschine sollte gefragter sein in den Welten, die auf uns zukommen?«
Eva Horn aus Wien beschreibt den tragischen Blick auf diese Zukunft: »Es ist ein Blick, der in der Katastrophe nicht nur die Zerstörung von Gütern und Werten liest, sondern die grundlegende Zerstörung einer menschlichen Natur, die sich ihre eigene Grundlage entzogen hat.« Sie zitiert Walter Benjamin: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Aber es geht weiter, mit dieser katastrophischen Perspektive müssen wir leben, daran erinnert uns Harald Welzer. Wie es weitergeht, schildert Niklas Maak anhand der Architektur der Internet-Mogule in Kalifornien; und Christoph Menke entwickelt anhand der TV- Serie »Breaking Bad« eine interessante These: »Die Zukunft öffnet sich in der Gegenwart nur durch einen ›Tigersprung ins Vergangene‹« (Walter Benjamin). Die Lebendigkeit, die die Gegenwart auf die Zukunft öffnet, ist die Erinnerung und Wiederholung einer vorvergangenen Lebendigkeit, die niemals Gegenwart, niemals ›da‹ war, weil sie der grundlose Grund ist, aus dem alles, was gegenwärtig ist, hervorgeht, indem es sich von ihm losreißt.«
Dr. h. c. Michael Krüger, 1943 in Wittgendorf, Kreis Zeitz geboren, war viele Jahre Geschäftsführer des Münchner Carl Hanser Verlags und Herausgeber der Literaturzeitschrift AKZENTE. Er ist Mitglied verschiedener Akademien, Autor von Gedichten, Geschichten, Novellen und Romanen. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er den Peter-Huchel-Preis und den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Michael Krüger ist Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Zum Weiterlesen: »Wo ist die Zukunft geblieben? Eine Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste« erscheint in diesen Tagen beim Wallstein-Verlag.