Gedanken zur bayerischen Mundartlyrik (4)
Schon öfters ist Dialektdichtung als volkstümelnd, grobschlächtig oder provinziell verschrien worden. Die Lust an der Mundart und am experimentellen Sprachspiel hat indessen nicht nachgelassen – gerade in Bayern. Nicht nur dass in den letzten Jahren eine junge bayerische Musikszene entstanden ist, die in ihren Liedtexten sich des Bairischen in seiner ganzen Vielfalt bedient, vor allem die bayerischen Autorinnen und Autoren haben eine starke emotionale Bindung zum Dialekt und Authentizität des Ausdrucks entwickelt, die sich in ihrer Prosa, in ihren Theaterstücken und nicht zuletzt in ihrer Lyrik niederschlagen. Die folgenden essayistischen Ausführungen des Sozialjournalisten und Sprach-Praktikers Andreas Unger werfen einen ganz persönlichen Blick auf das Dialektale in der bayerischen Mundartlyrik. Sie bilden zugleich den Abschluss zu unserer vierteiligen Blogreihe zu diesem Thema.
V – Seinerzeit und heit
Margret Hölle schreibt in „D Zeit is a treie Glugga“ (Bauernfeind et al., S. 165):
Mit schnöiweiße Houa
stöihst wieda aaf
gsetzlweis
souchst d Sprouch zamm
owa de alt
findst nemma
weit hintan Hoils oiche
untan Hirzflech is gschlofa
dou nestlts und bröits
neie Werta aas
Das Abhandenkommen der Sprache, die Suche nach ihr, ihr Altern und Veralten und schließlich ihre Erneuerung, das sind die Themen dieser Verse. Die Mundart selbst mit den Mitteln der Mundartlyrik zu thematisieren, damit ist Hölle eine große Ausnahme. Die Mundart wird auch kaum mit anderen Spielarten des Deutschen kontrastiert. Ebenso selten werden die unzähligen Varianten des Bairischen mit ihren Soziolekten thematisiert, etwa die vielen Formen des erdigen, derben Bairisch der ländlichen Gegenden mit den vornehmen Varianten der Bogenhausener Lodenmantelträger. Ich finde es überraschend, dass sich Mundartlyriker das entgehen lassen, ebenso wie die Unterschiede zwischen Stadt und Land, arm, wohlhabend und reich, Eigentümern und Lohnarbeitern, die unterschiedlichen Abstufungen formaler Bildung und, damit korrespondierend, die jeweils individuelle Ausprägung von Standesdünkel – das alles kann das Bairische wunderbar abbilden.
Auch über das Aussterben der Mundart mag kaum jemand dichten. Stattdessen herrscht eine selbstverständliche, selbstbewusste, nicht weiter hinterfragte, begründete, überhaupt kaum thematisierte Verwendung der jeweiligen Mundart-Variante vor. Diese Selbstverständlichkeit wundert mich und löst zwiespältige Gefühle in mir aus: Wärme und Trauer. Wärme, weil es mich an früher erinnert. Und Trauer – weil es mich an früher erinnert.
VI – Münchner Madeleine
Weil ich aber keine Lust darauf habe, diesen Essay melancholisch zu beschließen, möchte ich zum Schluss noch eine Begebenheit aus der Gegenwart erzählen. Psychologen würden sagen, es handelt sich um einen Trigger, Proust-Fans würden vielleicht von einem Madeleine-Moment sprechen. Ich hatte neulich auch so einen Moment, nämlich im Imbiss vom Ali an der Großmarkthalle. Ich vermag ihn leider nur unzureichend in der Schriftsprache erzählen, ganz zu schweigen in Lyrik. Ich bin nur ein gewöhnlicher Tatsachenautor, ein Gebrauchstexteschreiber. Als solcher muss ich notgedrungen auf die spärlichen mir zur Verfügung stehenden Mittel zurückgreifen und meine Geschichte einfach so erzählen, kunstlos aber ungekünstelt, verbunden mit der Hoffnung, dass sich eines Tages ein Mundartlyriker meines Erlebnisses annehme und Dichtung erstehen lasse aus meinem persönlichen Madeleine-Moment.
Also Folgendes: Seit Jahren war ich um die Kuddelsuppe herumgeschlichen. Weiß, unklar, unscheinbar und unheimlich lag sie da in ihrer Edelstahl-Terrine zwischen der Linsen- und der Hühnersuppe. Ich stand um die Mittagszeit in Alis Imbiss am Gotzinger Platz in München, nahe der Großmarkthalle, inmitten von Müllmännern und Großhändlern, so wie fast jeden Tag, und wie fast jeden Tag reizte mich die trübe Suppe, von der ich nur eines wusste: Auf ihrem Boden schwammen Kuddeln. Ich hatte, glaube ich, noch nie richtige Kuddeln gegessen. Mal ein saueres Lüngerl oder gebratene Nieren, das schon. Aber Kuddeln, das war doch eine ganz andere Nummer. Niemand scheint so recht zu wissen, woraus sie eigentlich bestehen: nur aus gesäubertem Darm? Aus Rindszungenstücken? Aus allem, was nicht Muskelfleisch, Knochen oder Borsten waren? Oder auch all diesem? Das waren so die Fragen, die ich mit mir trug und die mich bewogen, mir doch lieber Linsensuppe in die weiße Schale schöpfen zu lassen.
Bis zu jenem Tag, an dem ich spontan umdisponierte: „Die Kuddelsuppe hätt ich gern.“ Alis Frau zuckt, schaut mich mit entsetzten Augen an. Zittert die Kelle in ihren Händen? „Bist du sicher“, fragt sie mich und schiebt, damit keine Missverständnisse entstehen, gleich hinterher: „Ich mach sie jeden Tag selber, jeden Tag frisch. Die Suppe ist berühmt in München, die Leute kommen aus der ganzen Stadt dafür. Aber ich selber – ich ess sie lieber nicht.“ Aber ich!, sage ich und fühle mich wie seinerzeit kurz vorm Bungeejump – euphorisch, entschlossen und bereit für eine große Dummheit. Heute ist es so weit, heut ess ich die Kuddelsuppe. „Musst sie ja nicht aufessen“, sagt sie und schüttet zwei Schlag milchige, lauwarme Suppe in die weiße Schale.
Ich setze mich, rühre mit dem Löffel um. Meine Nase erhascht einen Duftfetzen, ich halte inne. Der Löffel gleitet in meinen Mund. Da ist der Hof, auf dem mein Vater aufgewachsen ist, die Schafe und Hühner, der Misthaufen mit dem rostigen Kran daneben. Die gekalkten, feuchten Wände vom Saustall, die Weizenberge, Frauen mit Kopftuch, die hailen, der Fendt, der grüne Kartoffelernter, die Erdbatzen und Erdäpfel, die stumpfen Dielen des alten Bauernhauses, das große Jesusbild in dem goldenen Rahmen überm Bett meiner Großeltern, die dunkel gebeizte Anrichte im Wohnzimmer, der Herrgottswinkel, das Tischtuch aus Plastikfolie, Omas Pelz, der nach Lavendel riecht, ihre schwarze Ledertasche, Opas Strohhut, seine blauen Augen, der hölzerne Schuhauszieher, der bleiche Blaumann, das wackelige Geländer, die steile Stiege, das würzige Kraftfutter, das zu essen mein Vater mir verboten hatte und schließlich, von ganz ganz hinten, aus der hintersten Schlinge meiner Gehirnwindungen, die aussehen wie Darmwindungen: das frenetische, panische, ohrenversengende Quieken der Schweine, die ganz bestimmt einen Begriff vom Tod haben in diesem Moment auf dem Hof, im Gegensatz noch zu mir, dem Bub von vielleicht drei Jahren, dem womöglich in diesem Augenblick, da die Männer die Säue in den Laster treiben, die Schweine selber eine allererste Idee vom Tod geben, von seiner Grauenhaftigkeit, Unausweichlichkeit und Selbstverständlichkeit.
So, liebe Mundartlyriker, jetzt seid's ihr dran.
Ende
Bauernfeind, Eva; Ettl, Hubert; Pöschl, Kristina (Hg.) (2014): Vastehst me – Bairische Gedichte aus 40 Jahren, lichtung verlag, Viechtach.
Brehm, Friedl (Hg.) (1975): Sagst wasd magst. Mundartdichtung heute aus Baiern und Österreich. Ehrenwirth Verlag GmbH & Co. KG, München.
Greiner, Ulrich (2009): Ulrich Greiners Lyrikverführer. Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten. Verlag C.H. Beck, München.
Englmaier, Rupert (1975): Altbayerische Mundartdichtung. Dissertation. Selbstverlag, Würzburg.
Kaspar, Peter (Hg.) (2014): Bairisches Poeticum. Mundartgedichte aus zwölf Jahrhunderten. edition vulpes e.K., Regensburg.
McCormack, R. W. B. (20081): Tief in Bayern. Eine Ethnographie. Neuveröffentlichung im Wilhelm Goldmann Verlag, München.
Externe Links:Mundartylirk - eine besondere Literaturform
Bairische Dialekte im Historischen Lexikon Bayerns
Sprechender Sprachatlas von Bayern
Sprechender Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (mit angrenzendem Oberbayern)
Sprechender Sprachatlas von Niederbayern (mit angrenzendem Böhmerwald)
Gedanken zur bayerischen Mundartlyrik (4)>
Schon öfters ist Dialektdichtung als volkstümelnd, grobschlächtig oder provinziell verschrien worden. Die Lust an der Mundart und am experimentellen Sprachspiel hat indessen nicht nachgelassen – gerade in Bayern. Nicht nur dass in den letzten Jahren eine junge bayerische Musikszene entstanden ist, die in ihren Liedtexten sich des Bairischen in seiner ganzen Vielfalt bedient, vor allem die bayerischen Autorinnen und Autoren haben eine starke emotionale Bindung zum Dialekt und Authentizität des Ausdrucks entwickelt, die sich in ihrer Prosa, in ihren Theaterstücken und nicht zuletzt in ihrer Lyrik niederschlagen. Die folgenden essayistischen Ausführungen des Sozialjournalisten und Sprach-Praktikers Andreas Unger werfen einen ganz persönlichen Blick auf das Dialektale in der bayerischen Mundartlyrik. Sie bilden zugleich den Abschluss zu unserer vierteiligen Blogreihe zu diesem Thema.
V – Seinerzeit und heit
Margret Hölle schreibt in „D Zeit is a treie Glugga“ (Bauernfeind et al., S. 165):
Mit schnöiweiße Houa
stöihst wieda aaf
gsetzlweis
souchst d Sprouch zamm
owa de alt
findst nemma
weit hintan Hoils oiche
untan Hirzflech is gschlofa
dou nestlts und bröits
neie Werta aas
Das Abhandenkommen der Sprache, die Suche nach ihr, ihr Altern und Veralten und schließlich ihre Erneuerung, das sind die Themen dieser Verse. Die Mundart selbst mit den Mitteln der Mundartlyrik zu thematisieren, damit ist Hölle eine große Ausnahme. Die Mundart wird auch kaum mit anderen Spielarten des Deutschen kontrastiert. Ebenso selten werden die unzähligen Varianten des Bairischen mit ihren Soziolekten thematisiert, etwa die vielen Formen des erdigen, derben Bairisch der ländlichen Gegenden mit den vornehmen Varianten der Bogenhausener Lodenmantelträger. Ich finde es überraschend, dass sich Mundartlyriker das entgehen lassen, ebenso wie die Unterschiede zwischen Stadt und Land, arm, wohlhabend und reich, Eigentümern und Lohnarbeitern, die unterschiedlichen Abstufungen formaler Bildung und, damit korrespondierend, die jeweils individuelle Ausprägung von Standesdünkel – das alles kann das Bairische wunderbar abbilden.
Auch über das Aussterben der Mundart mag kaum jemand dichten. Stattdessen herrscht eine selbstverständliche, selbstbewusste, nicht weiter hinterfragte, begründete, überhaupt kaum thematisierte Verwendung der jeweiligen Mundart-Variante vor. Diese Selbstverständlichkeit wundert mich und löst zwiespältige Gefühle in mir aus: Wärme und Trauer. Wärme, weil es mich an früher erinnert. Und Trauer – weil es mich an früher erinnert.
VI – Münchner Madeleine
Weil ich aber keine Lust darauf habe, diesen Essay melancholisch zu beschließen, möchte ich zum Schluss noch eine Begebenheit aus der Gegenwart erzählen. Psychologen würden sagen, es handelt sich um einen Trigger, Proust-Fans würden vielleicht von einem Madeleine-Moment sprechen. Ich hatte neulich auch so einen Moment, nämlich im Imbiss vom Ali an der Großmarkthalle. Ich vermag ihn leider nur unzureichend in der Schriftsprache erzählen, ganz zu schweigen in Lyrik. Ich bin nur ein gewöhnlicher Tatsachenautor, ein Gebrauchstexteschreiber. Als solcher muss ich notgedrungen auf die spärlichen mir zur Verfügung stehenden Mittel zurückgreifen und meine Geschichte einfach so erzählen, kunstlos aber ungekünstelt, verbunden mit der Hoffnung, dass sich eines Tages ein Mundartlyriker meines Erlebnisses annehme und Dichtung erstehen lasse aus meinem persönlichen Madeleine-Moment.
Also Folgendes: Seit Jahren war ich um die Kuddelsuppe herumgeschlichen. Weiß, unklar, unscheinbar und unheimlich lag sie da in ihrer Edelstahl-Terrine zwischen der Linsen- und der Hühnersuppe. Ich stand um die Mittagszeit in Alis Imbiss am Gotzinger Platz in München, nahe der Großmarkthalle, inmitten von Müllmännern und Großhändlern, so wie fast jeden Tag, und wie fast jeden Tag reizte mich die trübe Suppe, von der ich nur eines wusste: Auf ihrem Boden schwammen Kuddeln. Ich hatte, glaube ich, noch nie richtige Kuddeln gegessen. Mal ein saueres Lüngerl oder gebratene Nieren, das schon. Aber Kuddeln, das war doch eine ganz andere Nummer. Niemand scheint so recht zu wissen, woraus sie eigentlich bestehen: nur aus gesäubertem Darm? Aus Rindszungenstücken? Aus allem, was nicht Muskelfleisch, Knochen oder Borsten waren? Oder auch all diesem? Das waren so die Fragen, die ich mit mir trug und die mich bewogen, mir doch lieber Linsensuppe in die weiße Schale schöpfen zu lassen.
Bis zu jenem Tag, an dem ich spontan umdisponierte: „Die Kuddelsuppe hätt ich gern.“ Alis Frau zuckt, schaut mich mit entsetzten Augen an. Zittert die Kelle in ihren Händen? „Bist du sicher“, fragt sie mich und schiebt, damit keine Missverständnisse entstehen, gleich hinterher: „Ich mach sie jeden Tag selber, jeden Tag frisch. Die Suppe ist berühmt in München, die Leute kommen aus der ganzen Stadt dafür. Aber ich selber – ich ess sie lieber nicht.“ Aber ich!, sage ich und fühle mich wie seinerzeit kurz vorm Bungeejump – euphorisch, entschlossen und bereit für eine große Dummheit. Heute ist es so weit, heut ess ich die Kuddelsuppe. „Musst sie ja nicht aufessen“, sagt sie und schüttet zwei Schlag milchige, lauwarme Suppe in die weiße Schale.
Ich setze mich, rühre mit dem Löffel um. Meine Nase erhascht einen Duftfetzen, ich halte inne. Der Löffel gleitet in meinen Mund. Da ist der Hof, auf dem mein Vater aufgewachsen ist, die Schafe und Hühner, der Misthaufen mit dem rostigen Kran daneben. Die gekalkten, feuchten Wände vom Saustall, die Weizenberge, Frauen mit Kopftuch, die hailen, der Fendt, der grüne Kartoffelernter, die Erdbatzen und Erdäpfel, die stumpfen Dielen des alten Bauernhauses, das große Jesusbild in dem goldenen Rahmen überm Bett meiner Großeltern, die dunkel gebeizte Anrichte im Wohnzimmer, der Herrgottswinkel, das Tischtuch aus Plastikfolie, Omas Pelz, der nach Lavendel riecht, ihre schwarze Ledertasche, Opas Strohhut, seine blauen Augen, der hölzerne Schuhauszieher, der bleiche Blaumann, das wackelige Geländer, die steile Stiege, das würzige Kraftfutter, das zu essen mein Vater mir verboten hatte und schließlich, von ganz ganz hinten, aus der hintersten Schlinge meiner Gehirnwindungen, die aussehen wie Darmwindungen: das frenetische, panische, ohrenversengende Quieken der Schweine, die ganz bestimmt einen Begriff vom Tod haben in diesem Moment auf dem Hof, im Gegensatz noch zu mir, dem Bub von vielleicht drei Jahren, dem womöglich in diesem Augenblick, da die Männer die Säue in den Laster treiben, die Schweine selber eine allererste Idee vom Tod geben, von seiner Grauenhaftigkeit, Unausweichlichkeit und Selbstverständlichkeit.
So, liebe Mundartlyriker, jetzt seid's ihr dran.
Ende
Bauernfeind, Eva; Ettl, Hubert; Pöschl, Kristina (Hg.) (2014): Vastehst me – Bairische Gedichte aus 40 Jahren, lichtung verlag, Viechtach.
Brehm, Friedl (Hg.) (1975): Sagst wasd magst. Mundartdichtung heute aus Baiern und Österreich. Ehrenwirth Verlag GmbH & Co. KG, München.
Greiner, Ulrich (2009): Ulrich Greiners Lyrikverführer. Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten. Verlag C.H. Beck, München.
Englmaier, Rupert (1975): Altbayerische Mundartdichtung. Dissertation. Selbstverlag, Würzburg.
Kaspar, Peter (Hg.) (2014): Bairisches Poeticum. Mundartgedichte aus zwölf Jahrhunderten. edition vulpes e.K., Regensburg.
McCormack, R. W. B. (20081): Tief in Bayern. Eine Ethnographie. Neuveröffentlichung im Wilhelm Goldmann Verlag, München.