Lena Gorelik über die Zwickmühlen bei Flucht-Erzählungen
Lena Gorelik kommt 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studiert Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Lena Gorelik schreibt sowohl belletristische als auch wissenschaftliche Texte und Reiseliteratur. 2004 erscheint ihr erster Roman Meine weißen Nächte, 2007 ihr zweiter, Hochzeit in Jerusalem, der für den Deutschen Buchpreis nominiert wird. Für den Roman Die Listensammlerin (2013) erhält sie den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane Null bis unendlich (2015) und Mehr Schwarz als Lila (2017).
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„Weil Gott die Dichter auserwählt hat, grub er ihnen auf jedem Pfad eine Grube.“ Das schreibt die in Tunesien geborene Dichterin Najet Adouani, die derzeit als Gast des „Writers in Exile“-Programms des deutschen PEN in Berlin lebt, weil sie von heute auf morgen fliehen musste, ohne sich von ihren Söhnen verabschieden zu können. Denen musste sie sagen, dass sie in Urlaub fährt. Fliehen musste sie, weil sie gekämpft hat für das freie Wort und für Frauenrechte. Sie hat mit Worten gekämpft, mit der Schönheit der Sprache und der Melodie von Poesie, und deshalb musste sie ihre Heimat verlassen. „Da war nur Kälte, Blindheit, Nichts“, sagt sie über den Flug nach Deutschland.
Nun lebt sie in Berlin, und sie schreibt, und in ihren Gedichten versucht sie, festzuhalten, was sie fühlt. Sie schreibt viel über die Suche nach Freiheit, und sie schreibt über den Schmerz des Schreibens, auch des Schreiben-Müssens, und worüber sie nicht schreibt, ist: dass sie ihre Söhne vermisst. Dass sie ihre Heimat verlassen musste, bereits zum zweiten Mal übrigens. Dass sie ihre Mutter möglicherweise nie wiedersehen wird. Sie schreibt großartige, leise und mutige Gedichte, die auch ins Deutsche übersetzt werden, aber in jedem Interview, das mit ihr geführt wird, findet sich folgende Frage: „Warum schreiben Sie so wenig über ihre Flucht?“, man könnte auch sagen: über die Passage, über den Weg von hier nach dort. Sie schreibt über die Freiheit, über die Freiheit des Wortes und über die Freiheit, zu sein, und sie sehnt sich nach dem Freisein von ihrer Passage. „Selbst wenn man über Schmerzhaftes schreibt, breitet man seine Flügel aus. Ich versuche das immer. Den anderen zuliebe, die keine Stimme haben, muss ich frei sein. Nichts kann mich davon abhalten, meine Schwingen auszubreiten“, sagt Najet Adouani.
Die Wege, die wir gehen, sind wir, oder sie sind das, was uns zu dem macht, was wir sind. Schmerzvolle Momente, prägende Begegnungen, Sätze, die wir uns wortwörtlich merken, Anblicke, die wir im Kopf als Fotos knipsen und als Bilder zu merken versuchen, ebenso all das, was wir zu vergessen suchen und was wohl gerade deshalb so hartnäckig, meist in Ängste, Zweifel und Aggressionen verkleidet, zu unerwarteten Zeitpunkten an die Oberfläche kriecht: All das ist, was uns zu Individuen macht.
Von einem Ich zum anderen
Über Menschen, die auf der Flucht sind, sagt man, sie haben ihr Zuhause verloren oder ihre Heimat verlassen, aber das ist ein Euphemismus: In erster Linie verlieren sie sich selbst. Sie verlieren die Festigkeit, die das Kennen ist: Man verlässt, selbst wenn sich die eigene Heimat – und in diesem Fall würde ich Heimat in ihrem ursprünglichen Sinne als Herkunftsort, als Ort, den man am besten kennt, definieren – in einem desolaten, lebensgefährlichen Kriegszustand befindet, nicht nur die Schauplätze eines Krieges. Man verlässt Familie, man verlässt Menschen, man verlässt eine Kultur, eine Sprache, man verlässt Geräusche und Gerüche, man verlässt letztendlich sich selbst. Man nimmt nichts mit, Erinnerungen vielleicht, auch die Erinnerung an ein Grundvertrauen, an die einfache, kindliche, auch ursprüngliche Weisheit, dass Zuhause eben Zuhause ist.
Sätze wie diese – man nimmt nichts mit außer Erinnerungen – erscheinen klischeehaft, aber sie sind im Falle einer Flucht, insbesondere einer Massenflucht, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, wie die aus dem bekriegten Syrien, Realität. Die Erinnerungen ordnet man ein in eine Narration, die diesem Lebensweg, dieser „Passage“ – ein, meinem subjektiven Gefühl nach, zu französisch, zu vornehm klingendes Wort, um diese Art von Weg zu beschreiben – eine Sinnhaftigkeit gibt, die einem ein Leben danach erlaubt. So eine Passage, am bildhaftesten ist wohl die über das Mittelmeer mit schaukelnden Booten, die dem buchstäblich rettenden Ufer zustreben, ist auch ein Weg von dem, was man einmal war, zu etwas, das man sein wird, ohne eine Entscheidung darüber getroffen zu haben. Es ist ein Weg von einem Ich zu einem anderen, zu einem, das keine Grundlage, keine Konsistenz und manchmal auch keine Zukunft hat.
Diese Passage ist nichts Abgeschlossenes, die Passage ist ein ewiger Zustand. Das hat nichts mit den Alpträumen zu tun, die einen an die Überlebensangst im Mittelmeer oder den Hunger auf der Flucht erinnern, und das hat nichts zu tun mit Erinnerungen, den schönen und den schlechten, aus denen sich unsere Vergangenheit zusammensetzt. Es hat damit zu tun, dass ein Weg von einem Leben ins andere niemals abgeschlossen sein kann. Es hat damit zu tun, dass der Riss, der mit einer erzwungenen Entwurzelung beginnt, ein Teil des eigenen Ichs, der Selbstidentifikation werden muss. Das zu akzeptieren, fällt zuweilen nicht leicht. Das gilt im Übrigen für unterschiedliche Akteure: sowohl für diejenigen, die die Passage erlebt oder auch überlebt haben, als auch für uns, die wir ihr neues Leben bilden. Wenn in politischen, aber polemisch aufgeladenen Diskussionen von gelungener Integration gesprochen wird, so meint man oft didaktisch einen abgeschlossenen Prozess, als hätten die Menschen, die sich dieser Aufgabe – und muss es denn eine Aufgabe sein? – stellen müssen, eine „To-Do-Liste“ abzuarbeiten, das, was sie einmal waren, was sie geprägt hat, was sie zu Menschen gemacht hat, hinter sich zu lassen. Die Menschen, die fliehen, die im übertragenen wie buchstäblichen Sinne einen langen Weg hinter sich haben, haben nicht etwas hinter sich gelassen, sondern etwas mitgebracht. Erinnerungen, eine Kultur, eine Prägung, aber auch eben ihre Passage. Eben diesen Weg.
Wo Herz und Kopf sich zu streiten beginnen
Wenn ich über die Literatur der Passage spreche, so kann ich das in vielerlei Rollen tun. Ich kann das als Literatin tun, als jemand, dessen Arbeit und Glück und Inhalt des Lebens es ist, sich mit Literatur und Literaturen auseinanderzusetzen. Ich kann es als jemand tun, der Literatur der Passage verfasst hat: als jemand, der Passagen aufgeschrieben hat, eigene, fremde, die mir erzählt wurden, und diejenigen, die in meinem Kopf, man sagt: unter der Feder des Autors, entstanden, was aber eine Lüge ist: In erster Linie entstehen Figuren und Geschichten, entsteht Literatur da, wo Herz und Kopf sich zu streiten beginnen und man nach Worten suchen muss. Ich kann es als jemand tun, der selbst eine Passage hinter sich gebracht hat.
Als elfjähriges Kind wurde ich von meinen Eltern – so war trotz der monatelangen Vorbereitungen das Gefühl – von Zuhause nach Deutschland verfrachtet, bis ich mich in einer deutschen Schulklasse wiederfand – so passiv war auch dieses Gefühl: sich-wieder-finden, als hätte ich keine eigentliche, zumindest keine eigene, keine gewollte Bewegung vollbracht – in der ich anhand der Zahlen den Mathematikunterricht und anhand der Musiknoten den Musikunterricht erkannte und ansonsten nicht sicher sagen konnte, in welchem Schulfach ich gerade saß.
Ich könnte mich zu entscheiden versuchen, in welcher Rolle ich jetzt hier bin, und etwas zu dem Thema Literatur der Passage erzählen, aber in Wahrheit müsste ich eine andere sein: Selbst wenn ich mich entscheiden würde, hier als Literaturexpertin zu schreiben, wäre auch meine Passage, mein Weg, ein Teil der Literaturexpertin, die hier formuliert, der Weg wäre nicht abgeschlossen, und abgeschlossen – das kann ich jetzt erst, erst viele Jahre später sagen – wird er hoffentlich niemals sein.
Wenn einer Dichterin wie Najet Adouani – und sie ist nicht die Einzige, die diesem Phänomen begegnet – mit Fragen unterstellt wird, sie habe sich literarisch mit ihrer tatsächlichen, der als solchen gelebten Passage auseinanderzusetzen, so ist die Prämisse einer solchen Frage, ihr literarischer Weg müsste dem tatsächlichen folgen, aber vielleicht liegt bereits in dieser Aussage zu viel Anspruch. Möglicherweise ist da auch eine Neugierde, ein lebendiges Interesse dahinter, wir wüssten gerne, wie es war, wie es ist. Wenn wir aber solche Fragen stellen, so müssen wir auch immer bedenken, warum und wie und aus welchen Notwendigkeiten heraus jemand erzählt. Ist die Erzählung eine Antwort auf häufig gestellte Fragen? Ist der Impuls einer Antwort einer Schuldigkeit entsprungen?
Ein Dichter aus dem Iran erzählte mir vor kurzem, er habe lange Zeit das Gefühl gehabt, er müsse seine Geschichte in Deutschland und den Deutschen immer wieder erzählen, immerhin haben sie ihn aufgenommen, ihm eine Zuflucht gewährt. Dankbarkeit, die er nicht mit Taten zu stillen wusste, hat er mit Erzählungen und Geschichten gestillt. Bis der Regen nicht aufhörte und der Sommer sich nicht zeigte und er in Depressionen zu verfallen begann und anfing, genau darüber zu schreiben: über das Ausbleiben des Sommers. Über die Unendlichkeit deutscher Regentropfen. Und er erzählte mir, selbst sichtlich erstaunt, wie er damit über etwas anderes zu schreiben begann: über die Unendlichkeit deutscher Fragen. Als er aufhörte, immer und immer wieder aufs Neue zu erzählen, begann er über das zu schreiben, worauf sich die Fragen gerichtet haben: über die Passage. Und den Wunsch, diese nicht zu erzählen. Was einer der vielen Wege ist, über Schmerzhaftes, Verlorenes, Tödliches zu schreiben: Man erzählt das Schweigen und all das, was zwischen den Worten steht.
Erzählen durch Nichterzählen
Man kann auch eine Passage erzählen, indem man das Danach erzählt. Abbas Khider, ein irakischer Schriftsteller, der bereits mit 19 Jahren wegen seiner politischen Aktivitäten festgenommen wurde und nach seiner Entlassung floh, hat 2016 einen viel beachteten und mehrmals ausgezeichneten Roman mit dem Titel Ohrfeige veröffentlicht, in dem er die Geschichte eines Flüchtlings erzählt, der abgeschoben werden soll und kurz vor der Abschiebung die für ihn zuständige Mitarbeiterin der Ausländerbehörde fesselt, um sie zu zwingen, sich seine Geschichte anzuhören, und endlich keine Nummer mehr zu sein. Abbas Khider erzählt vom Bleibenwollen und Nichtbleibenkönnen. Er erzählt vom Fremdgefühl und der Angst und vom Streben danach, ein Mensch zu sein. Er erzählt eine Passage, die nicht an ein Ende führte, weil am Ende nichts war; er erzählt einen Menschen, der keinen Ort hat, weil ihn der Ort, den er verließ, nicht mehr will, und der, an dem er Zuflucht suchte, ihn ebenfalls nicht will. Abbas Khider erzählt das Danach und das, was nicht übrig blieb, vielleicht erzählt er einen Protagonisten, der kein Mensch mehr ist, und genau indem er sie nicht erzählt, erzählt er sowohl die vorangegangene als auch die bevorstehende Passage dieses Geflüchteten, der abgeschoben werden soll:
Die deutschen Fahrgäste wollen sich mit mir jedoch über nichts anderes unterhalten. Die Fragen sind immer dieselben:
Woher kommen Sie?
Wann kehren Sie in Ihr Heimatland zurück?
Der 11. September war abscheulich, sehen Sie das auch so?
Können die Araber überhaupt demokratisch denken?
Sind Sie Muslim?
Wie denken Sie über das, was die Amerikaner in Ihrem Land angestellt haben? Sehen Sie es als Befreiung oder Besatzung?
Ist das Leben jetzt besser ohne Diktatur?
Was glauben Sie – wird es mit der Demokratie dort funktionieren?
Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendienstes oder die Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?
Lücken der Leichtigkeit
Neben dem Schweigen, dem Danach, dem Davor, dem Erfinden neuer Figuren, der Verfremdung von Kontexten und Fakten, dem Sprechen über die Freiheit, wie die eingangs zitierte Autorin Najet Adouani es tut, gibt es noch viele andere Mittel und Wege, Passagen zu erzählen. In meinem ersten Roman Meine weißen Nächte – mit „erfundenen“ Protagonisten, die mit meiner Familie erstaunliche Ähnlichkeiten hatten – beschrieb ich unter anderem auch einen Teil meiner Passage: die Zeit, in der meine Familie in einem Asylantenwohnheim hinter Stacheldraht hauste, die Zeit, in der meine Großmutter täglich weinte und meine Eltern zu sprechen aufhörten oder ich mir das genauso merken musste: dass sie nicht mehr sprachen, vielleicht weil ich mir nicht merken wollte, was sie tatsächlich sagten. Ich hatte darüber geschrieben, und ich hatte es mit Humor getan, weil sich jede – noch so traurige, noch so desaströse – Geschichte mit Humor erzählen lässt und weil es auch etwas Comedyhaftes hat, wenn die Wände in einer Baracke, in der Flüchtlinge zusammengepfercht wohnen, fünfköpfige Familien in 12-qm-großen Zimmer untergebracht, so dünn sind, dass, wenn in einem Zimmer gefragt wird, wie das Wetter heute werden soll, jemand drei Zimmer weiter antwortet, dass die Sonne scheint. So kann man das erzählen, so bringt man den Leser zum Schmunzeln und wird möglicherweise auch von der Kritik dafür gefeiert, schwere Sujets mit Humor zu erzählen und der Melancholie eine Leichtigkeit zu verleihen, und was man dann nicht erzählt und was man erfolgreich verschweigt, sind die Verletzungen und die Erniedrigungen und die Verzweiflungen und auch all die anderen menschlichen Makel, die zwischen den dünnen Wänden weitergegeben werden.
Ich habe viele andere Menschen hier bei uns ankommen sehen müssen, und ich habe sie suchen sehen müssen, ein Gefühl, und ich habe über sie und ihre Suche schreiben müssen, um an diesen Ort zurückkehren zu können. Um über meine eigene Suche zu schreiben. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um diesen Ort beschreiben zu können. So viel zum Thema Passage als abgeschlossener Moment. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um ehrlich schreiben zu können, um den Humor nicht zu brauchen, nicht als Absicherung und nicht als Selbstschutz und auch nicht, um zu verbergen, wer ich tatsächlich war. Und um sagen zu können, diese Passage, die bin auch ich. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um das hier schreiben zu können:
Ich litt unter schlimmen Nebenhöhlenentzündungen, die Holzbaracke wurde nicht beheizt, der HNO-Arzt stach mir wöchentlich Spritzen durch die Stirnhöhlen, während er in einer Sprache auf mich einredete, die ich nicht verstand, und vorher schlug ich auf meine Mutter ein, weil sie mich diesem Mann überließ. Abends kam das Fieber und kam der Husten, meine Großmutter weinte immerzu, nicht aus Sorge um meine Gesundheit, sie weinte, weil sie dieses neue Leben nicht verstand. Meine Eltern weinten nie.
Mir ist kalt, und das Flüchtlingswohnheim kriecht in mich und breitet sich aus wie ein Fieber. Am nächsten Morgen stehe ich auf, zu früh, von der Angst vor Erinnerungen aus dem Bett gejagt, und mir fehlt die Erkältung, mir fehlt die verstopfte Nase und der Halsschmerz beim Schlucken. Das Fieberthermometer zeigt 36,9, Kopfschmerzen habe ich nicht, aber der Körper fühlt sich fiebrig an, es schüttelt mich, ich setze mich auf den Boden mit dem Rücken an die Heizung. Ich wurde überfahren. Hör mir zu, sagt mir jemand, der mich sehr gut kennt, hör mir genau zu. Das war einmal. Das Flüchtlingswohnheim, das bist nicht du. Das sagt er, aber er behält nicht Recht. Ich bin das Kind, das vor einem Lastwagen stand und Essenspakete entgegennahm, Dosen mit passierten Tomaten und Mais und Thunfisch, es trug sie ins Zimmer und stellte sie auf das Fensterbrett, weil in der Küche wurden Lebensmittel ständig geklaut. Ich bin das Kind, das bis heute keine Dosen erträgt. Ich bin das Kind, das sich nachts in den Schlaf zu husten versucht, das von Geräuschen so vieler Fremder geweckt wird, sobald es mal in den Schlaf findet. Das Kind liegt im oberen Stockbett und zählt die Löcher in der weißen Decke, und wenn es geweckt wird, so vergräbt es die Nase in der blaukarierten, unangenehm gestärkten Bettwäsche, die alle zwei Wochen beim Wohnheimchef, einem Bulgaren, den die Erwachsenen regelmäßig für verschiedene Zwecke zu bestechen versuchen, gewechselt werden kann.
Das Kind ist zu einer Frau geworden, und die Frau hat in verschiedenen Ländern, Städten gelebt, in vielen Wohnungen, Häusern, Hotels, in Hunderten Betten geschlafen, aber jedes verlassen, sobald sie karierte Bettwäsche sah.
Ich fühle mich fiebrig, auch zwei Tage nach diesem Besuch, auch als meine Mutter mich fragt: Wie war es denn nun, im Wohnheim? Ich gebe keine Antwort darauf, weil die Antwort nur eine Frage sein kann: Warum hast du niemals geweint?
Wir legen uns unsere Geschichten zurecht. Ich habe geweint, sagt meine Mutter, heimlich habe ich geweint, nachts habe ich geweint, immer nur um dich. Um mich, wundere ich mich und blicke sie endlich an, weil ich mich nicht an ihre streichelnden Hände erinnern kann und auch nicht an beschützende Worte. Ja, immer nur um dich, weil ich dachte, dein Bruder ist groß, deine Großmutter hat ihr Leben gelebt, dein Vater kommt schon zurecht, aber was wird mit dir, wenn mir etwas zustoßen sollte, was wird mit dir, dem Kind, das in diesem Land keinen Menschen kennt?
Nachts, sagt meine Mutter, wenn du gehustet hast, damals, als du so krank warst, und ich unterbreche sie, ja, ich weiß, die Wände waren so dünn, sagt meine Mutter. Die Wände zwischen den Zimmern wie die Außenwände: dünne Holzbretter, aneinander gezimmert, und die lustigen Geschichten aus dem Wohnheim gehen so: Fragte einer in seinem Zimmer, wie das Wetter heute sei, so antwortete jemand, der drei Zimmer weiter lebte, die Sonne wird scheinen. Nachts, sagt meine Mutter, wenn du gehustet hast, damals, als du so krank warst, da schrie der Mann aus dem Zimmer nebenan, dessen viel jüngere Frau ihm immerzu drohte, ihn zu verlassen, warum nur habe er sie hergebracht: Tut das Kind weg! Bringt eure Tochter raus, so kann meine Frau nicht schlafen! Weißt du noch, sagt meine Mutter, nächtelang saß ich neben dir, habe deine Brust gestreichelt, damit der Husten aufhört, und deine Stirn glühte immerzu. Ich erinnere mich nicht, und ich sage nicht, aber ich habe doch oben im Stockbett geschlafen, wie willst du da neben mir gesessen haben. Ich weiß nichts, die Erinnerung betrügt mich, seit ich das Wohnheimgelände nach 23 Jahren wieder betreten habe. Was hat mein Vater gemacht, hat er den Mann zurück angebrüllt, frage ich, und meine Mutter, die nur mit den Schultern zuckt, das weiß ich nicht mehr, auch sie ist von der Erinnerung betrogen.
Wenn ich das hier, 23 Jahre nachdem ich es erlebt habe, ein Jahr nachdem ich es aufgeschrieben habe, vorlese, dann denke ich, dass die Passage nicht nur nicht abgeschlossen ist. Ich denke, dass ich mich vielleicht genau in ihrer Mitte befinde.
Weiterschreiben
Wann und wie und wer erzählt also diese Passagen? In Zeiten, in denen sich laute, erboste, hämische Stimmen gegen Menschen aus anderen Ländern erheben, in denen so viele, die Angst haben vor Phänomenen, die sie nicht näher zu definieren wissen, lauthals mit Begriffen wie Überfremdung um sich werfen, bekommen Geschichten von Passagen eine besondere Bedeutung. Und eine größere Bedeutung bekommt auch die Frage, wer und warum und wie sie erzählt werden.
So wichtig das Erzählen dieser Geschichten ist, so interessant sie auch in diesen Zeiten erscheinen, muss man Acht darauf geben, welche Bilder man erzählt. Und warum. Derzeit haben Autoren ein Portal gegründet, das Weiterschreiben heißt: Es geht darum, geflüchteten Autoren dabei zu helfen, literarisch Fuß in Deutschland zu fassen. Es geht aber auch darum, dass man sich als Autoren begegnet – ein Autor, der einem Kollegen die Hand schüttelt, ein Mensch, der einem anderen begegnet – nicht darum, Hilfe in Hierarchiegebilden weiterzugeben. Jeder der Autoren, die bei diesem Projekt mitmachen und sich Hilfe bei Übersetzungen oder Netzwerkkontakten erhoffen, hat in seinem Eingangsstatement deutlich gemacht, als Autor, nicht als geflüchteter Autor wahrgenommen werden zu wollen. Wir Autoren, die wir derzeit immer mehr auch zu politischen, engagierten Autoren werden, müssen aufpassen, dass wir in unserem lauten Einstehen für Demokratie, Vielfalt, Vielstimmigkeit mit dem Zweck, anderen, die keine Stimme haben, eine zu verleihen, uns unserer Haltung bewusst sind. Der Grat ist schmal, und wir wissen nicht immer, wann wir ihn übertreten. Das geht dann so:
Fremdschämen: das ist, wenn man sich für Fremde schämt.
Ich bleibe sitzen, und ich schüttle meinen Kopf, und ich blicke auf meine Schuhe, und vielleicht laufe ich auch rot an, um das letzte Klischee zu erfüllen, aber später denke ich, vielleicht hätte ich aufstehen müssen, etwas sagen. Mit anderen Worten: Später kommt der Fremdscham das „Fremd“ abhanden.
Ich saß da nur so, rutschte unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her, blickte ungeduldig auf die Uhr, wieder zur Bühne. Suchte nach Spuren von Entrüstung in ihrem Blick. Auf der Bühne stand eine Frau. Die Frau stammte aus Afghanistan. Sie hatte eine dieser Geschichten erlebt, von denen man gerne glauben würde, es gäbe sie nur auf der Leinwand, in Romanen. Vielleicht ist aber auch „überlebt“ das richtige Wort an dieser Stelle. Eine junge, kluge, schöne, ehrgeizige Juristin, die an Freiheit und Wissen glaubte, die gegen ihren Willen verheiratet wurde mit einem Mann, der sie paranoid des wiederholten Betrugs beschuldigte, der sie für diesen nie stattgefundenen Betrug schlug, ihr das Studieren verbot, sie permanent erniedrigte, später so weit ging, die gemeinsamen Söhne zu entführen.
Sie hält ein Bild hoch, auf dem sind zwei grinsende Jungs zu sehen: Zwei Jahre lang war dieses Bild das Einzige, was sie von ihren Kindern sah. So lange brauchte sie, um sie wieder zu finden. Noch mal so lange, um mit Stationen in vier Ländern Deutschland zu erreichen. Es wäre schön, wenn Deutschland das Happy End dieser Geschichte wäre, aber das ist es nicht. Viele Jahre in Flüchtlingsheimen, in denen sie als Alleinerziehende schikaniert wurde, ein psychisch erkranktes Kind, ständige Angst vor der Abschiebung, Angst vor dem Mann, der ihr nach Deutschland folgte und das Sorgerecht für die Kinder wollte. Heute, da sie auf der Bühne steht, ist es eine dieser Wundergeschichten: Aus ihr sprechen Charme und Kraft, sie arbeitet als Übersetzerin und engagiert sich ehrenamtlich, indem sie minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung hilft. Ihre Kinder sind, wie sie sagt, Menschen geworden, die anderen ein Beispiel sind.
All das erzählt sie, sie erzählt all das offen, und sie tut es auf der Bühne, und sie hat Bilder mitgebracht von ihren Kindern, ihren Vorfahren, ihrer Familie. Sie erzählt es, damit wir verstehen, was nicht zu verstehen ist, also damit wir eine Ahnung bekommen, damit die Geflüchteten Gesichter bekommen und die Gesichter Geschichten und damit die Geschichten Ängste verjagen. Das ist die Hoffnung, und einen Schritt weiter – nämlich, ob diejenigen, die Angst haben, tatsächlich diese Geschichten hören, ihnen zuhören wollen – denkt man lieber nicht.
Der Selbstschutz ist einer Machtlosigkeit, einer Verzweiflung geschuldet: Was sonst? Lieber nichts tun? Also tun wir, wir Öffentlichkeitsmacher, wir Kulturschaffende, wir, die wir meinen, eine Stimme zu haben, aber wer hört uns zu? Kaum ein Stadttheater, das nicht das Thema Flucht in einem Stück, einer Performance aufnimmt, keine Lokalzeitung, die nicht neue Nachbarn vorstellt in Serie, kein Literaturhaus, das nicht geflüchtete Autoren zu Wort kommen lässt, und Bilder, Zeichnungen, Fotografien, die Boote auf dem Mittelmeer zeigen, sind auch überall zu sehen. Dahinter steckt ein wichtiger, ein bedeutungsträchtiger Wunsch: der, lauter zu sein als die anderen. Die, die mit anderen Bildern um sich werfen, die mit Ängsten spielen, bis sie diese in Ressentiments, Überzeugungen und Wählerstimmen verwandelt haben, schlimmer vielleicht noch: in Angriffe. Wir sind uns unserer Verantwortung als Stimmen der Gesellschaft bewusst, man wird jetzt wieder politisch als Autor, Theatermacher, Künstler, mit unseren Mitteln ziehen wir in den Kampf gegen Vorurteile, Backlashes und auch gegen den Hass.
Fremdschämen
So entstehen Veranstaltungen wie diese, bei der ich unruhig, weil fremdschämend sitze – aber seien wir mal ehrlich, ich sitze nicht nur, auch ich stand auf dieser Bühne. Autoren haben Geflüchtete getroffen, haben sich ihre Geschichten angehört und sie literarisch, protokollarisch, lyrisch und journalistisch aufgeschrieben – den Geflüchteten Gesichter und den Gesichtern Geschichten gegeben, daraus ist ein Sammelband entstanden. Nun werden die Geschichten in Bibliotheken und Buchhandlungen gelesen, und – jetzt muss ich kurz zynisch werden – diejenigen, die bereits wissen, dass die Geflüchteten keine angsteinflößende Masse sind, sondern Menschen mit Schicksalen, hören diesen Geschichten zu. Die Autoren nehmen weder für Geschichten noch für das Lesen Geld, und das Publikum spendet; die Spenden kommen den Geflüchteten zugute, ein Kreislauf, der für sich funktioniert.
Eine Autorin hat für das Projekt die Geschichte dieser afghanischen Frau aufgeschrieben, die sich netterweise bereit erklärt hat, nach der Lesung auf der Bühne zu stehen und Fragen zu beantworten, auch die unverschämter Art. Ob sie Angst vor ihrem Ex-Ehemann habe, möchte jemand wissen, und wie oft er sie geschlagen habe, fragt jemand aus der vierten Reihe. Ob das Kind seine psychischen Probleme überwunden habe und mit wem die Tochter verheiratet sei, mit einem Afghanen oder einem Deutschen. Mit einem Polen, antwortet die Frau auf der Bühne, und ich achte darauf, sie verzieht kein Gesicht. Ob sie wisse, ob ihr nun auch in Deutschland lebender Ex-Ehemann von den Behörden beobachtet werde, möchte ein Zuhörer wissen, es könne immerhin sein, dass er ein Schläfer sei, einer, der mit dem IS sympathisiert.
Die Frau auf der Bühne steht mit Geduld und Freundlichkeit Rede und Antwort, sie hält der Übergriffigkeit stand und setzt ihr ein selbstbewusstes Lächeln entgegen, und ich weiß nicht, ob sie das merkt: dass sie sich beweisen muss. Der psychisch erkrankte Sohn hat seine Wut auf die deutschen Lehrer, von denen er sich diskriminiert fühlte, von denen er vielleicht/möglicherweise/wahrscheinlich diskriminiert wurde, überwunden und ist somit keine Gefahr. Auch die Tochter hat das System verlassen und hat sich keinen frauenfeindlichen muslimischen (wenn auch keinen deutschen) Mann gesucht. Wenn die Frau diese Antworten gibt, so nicken die Publikums-Köpfe. Wenn sie die Schauergeschichte ihres Lebens erzählt, so werden diese Köpfe geschüttelt, hinter mir wird gar gestöhnt, man suhlt sich in ihrem Unglück, im Mitleid zerfließt man, so wie ich beim Schreiben im Zynismus zerfließe. Später gibt es noch Wein, aber keine Häppchen, da schüttelt man noch einmal den Kopf über das eben Gehörte, die Bücher lässt man sich von den Autoren signieren, und der aus Afghanistan stammenden Frau bietet man Wasser an: Als Muslimin trinke sie sicher keinen Wein. Später werden die signierten Bücher in die Handtaschen gesteckt, die Weingläser abgeräumt, und auf dem Nachhauseweg denkt man sich als Zuhörer, wie gut man es doch hat im Leben, und das Leid der anderen, ach Gott, und hoffentlich haben die Behörden den bösen Ex-Mann dieser Frau bereits im Visier. Aber zuhause geht man zufrieden ins Bett: Heute hat man etwas Gutes getan. Man hat Geschichten von Geflüchteten gehört.
Zum Übergriff freigegeben
Ich habe zusammen mit anderen diese Geschichten erzählt. Wir haben sie erzählt, wie so viele andere das auf die eine oder andere Weise getan haben, wir haben geschrieben, um den Menschen Gesichter und den Gesichtern Geschichten zu geben, und wir taten es für das, was wir für einen guten Zweck hielten. Aber wenn ich so dasitze und die Fragen vernehme, die diese Frau beantworten muss, und nichts sage und nicht weiß, warum ich nichts sage, denke ich, vielleicht gaben wir auch Geschichten, die nicht die unseren waren, frei. Zum Übergriff frei.
Der jesidische Mann, den ich für dieses Buchprojekt interviewt hatte – es war, wir sind doch alle jetzt auch politische Stimmen, bei weitem nicht das einzige Projekt dieser Art, das ich unterstützen wollte – sagte mir vor der vorletzten Lesung aus dem Buch, er werde nicht mehr kommen. Er will nicht mehr immerzu seine Geschichte erzählen. Er ist einen Weg – eine Passage – gegangen, eine, die ihn jeden Tag aufs Neue bewegt. Diesen Weg würde er jetzt weitergehen, indem er ihn nicht mehr erzählt. Ich hätte ihn gerne für diese Worte umarmt, aber wir sprachen am Telefon miteinander, und außerdem war er sehr schüchtern. Er war einfach ein schüchterner Mensch.
Lena Gorelik über die Zwickmühlen bei Flucht-Erzählungen>
Lena Gorelik kommt 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studiert Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Lena Gorelik schreibt sowohl belletristische als auch wissenschaftliche Texte und Reiseliteratur. 2004 erscheint ihr erster Roman Meine weißen Nächte, 2007 ihr zweiter, Hochzeit in Jerusalem, der für den Deutschen Buchpreis nominiert wird. Für den Roman Die Listensammlerin (2013) erhält sie den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane Null bis unendlich (2015) und Mehr Schwarz als Lila (2017).
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„Weil Gott die Dichter auserwählt hat, grub er ihnen auf jedem Pfad eine Grube.“ Das schreibt die in Tunesien geborene Dichterin Najet Adouani, die derzeit als Gast des „Writers in Exile“-Programms des deutschen PEN in Berlin lebt, weil sie von heute auf morgen fliehen musste, ohne sich von ihren Söhnen verabschieden zu können. Denen musste sie sagen, dass sie in Urlaub fährt. Fliehen musste sie, weil sie gekämpft hat für das freie Wort und für Frauenrechte. Sie hat mit Worten gekämpft, mit der Schönheit der Sprache und der Melodie von Poesie, und deshalb musste sie ihre Heimat verlassen. „Da war nur Kälte, Blindheit, Nichts“, sagt sie über den Flug nach Deutschland.
Nun lebt sie in Berlin, und sie schreibt, und in ihren Gedichten versucht sie, festzuhalten, was sie fühlt. Sie schreibt viel über die Suche nach Freiheit, und sie schreibt über den Schmerz des Schreibens, auch des Schreiben-Müssens, und worüber sie nicht schreibt, ist: dass sie ihre Söhne vermisst. Dass sie ihre Heimat verlassen musste, bereits zum zweiten Mal übrigens. Dass sie ihre Mutter möglicherweise nie wiedersehen wird. Sie schreibt großartige, leise und mutige Gedichte, die auch ins Deutsche übersetzt werden, aber in jedem Interview, das mit ihr geführt wird, findet sich folgende Frage: „Warum schreiben Sie so wenig über ihre Flucht?“, man könnte auch sagen: über die Passage, über den Weg von hier nach dort. Sie schreibt über die Freiheit, über die Freiheit des Wortes und über die Freiheit, zu sein, und sie sehnt sich nach dem Freisein von ihrer Passage. „Selbst wenn man über Schmerzhaftes schreibt, breitet man seine Flügel aus. Ich versuche das immer. Den anderen zuliebe, die keine Stimme haben, muss ich frei sein. Nichts kann mich davon abhalten, meine Schwingen auszubreiten“, sagt Najet Adouani.
Die Wege, die wir gehen, sind wir, oder sie sind das, was uns zu dem macht, was wir sind. Schmerzvolle Momente, prägende Begegnungen, Sätze, die wir uns wortwörtlich merken, Anblicke, die wir im Kopf als Fotos knipsen und als Bilder zu merken versuchen, ebenso all das, was wir zu vergessen suchen und was wohl gerade deshalb so hartnäckig, meist in Ängste, Zweifel und Aggressionen verkleidet, zu unerwarteten Zeitpunkten an die Oberfläche kriecht: All das ist, was uns zu Individuen macht.
Von einem Ich zum anderen
Über Menschen, die auf der Flucht sind, sagt man, sie haben ihr Zuhause verloren oder ihre Heimat verlassen, aber das ist ein Euphemismus: In erster Linie verlieren sie sich selbst. Sie verlieren die Festigkeit, die das Kennen ist: Man verlässt, selbst wenn sich die eigene Heimat – und in diesem Fall würde ich Heimat in ihrem ursprünglichen Sinne als Herkunftsort, als Ort, den man am besten kennt, definieren – in einem desolaten, lebensgefährlichen Kriegszustand befindet, nicht nur die Schauplätze eines Krieges. Man verlässt Familie, man verlässt Menschen, man verlässt eine Kultur, eine Sprache, man verlässt Geräusche und Gerüche, man verlässt letztendlich sich selbst. Man nimmt nichts mit, Erinnerungen vielleicht, auch die Erinnerung an ein Grundvertrauen, an die einfache, kindliche, auch ursprüngliche Weisheit, dass Zuhause eben Zuhause ist.
Sätze wie diese – man nimmt nichts mit außer Erinnerungen – erscheinen klischeehaft, aber sie sind im Falle einer Flucht, insbesondere einer Massenflucht, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, wie die aus dem bekriegten Syrien, Realität. Die Erinnerungen ordnet man ein in eine Narration, die diesem Lebensweg, dieser „Passage“ – ein, meinem subjektiven Gefühl nach, zu französisch, zu vornehm klingendes Wort, um diese Art von Weg zu beschreiben – eine Sinnhaftigkeit gibt, die einem ein Leben danach erlaubt. So eine Passage, am bildhaftesten ist wohl die über das Mittelmeer mit schaukelnden Booten, die dem buchstäblich rettenden Ufer zustreben, ist auch ein Weg von dem, was man einmal war, zu etwas, das man sein wird, ohne eine Entscheidung darüber getroffen zu haben. Es ist ein Weg von einem Ich zu einem anderen, zu einem, das keine Grundlage, keine Konsistenz und manchmal auch keine Zukunft hat.
Diese Passage ist nichts Abgeschlossenes, die Passage ist ein ewiger Zustand. Das hat nichts mit den Alpträumen zu tun, die einen an die Überlebensangst im Mittelmeer oder den Hunger auf der Flucht erinnern, und das hat nichts zu tun mit Erinnerungen, den schönen und den schlechten, aus denen sich unsere Vergangenheit zusammensetzt. Es hat damit zu tun, dass ein Weg von einem Leben ins andere niemals abgeschlossen sein kann. Es hat damit zu tun, dass der Riss, der mit einer erzwungenen Entwurzelung beginnt, ein Teil des eigenen Ichs, der Selbstidentifikation werden muss. Das zu akzeptieren, fällt zuweilen nicht leicht. Das gilt im Übrigen für unterschiedliche Akteure: sowohl für diejenigen, die die Passage erlebt oder auch überlebt haben, als auch für uns, die wir ihr neues Leben bilden. Wenn in politischen, aber polemisch aufgeladenen Diskussionen von gelungener Integration gesprochen wird, so meint man oft didaktisch einen abgeschlossenen Prozess, als hätten die Menschen, die sich dieser Aufgabe – und muss es denn eine Aufgabe sein? – stellen müssen, eine „To-Do-Liste“ abzuarbeiten, das, was sie einmal waren, was sie geprägt hat, was sie zu Menschen gemacht hat, hinter sich zu lassen. Die Menschen, die fliehen, die im übertragenen wie buchstäblichen Sinne einen langen Weg hinter sich haben, haben nicht etwas hinter sich gelassen, sondern etwas mitgebracht. Erinnerungen, eine Kultur, eine Prägung, aber auch eben ihre Passage. Eben diesen Weg.
Wo Herz und Kopf sich zu streiten beginnen
Wenn ich über die Literatur der Passage spreche, so kann ich das in vielerlei Rollen tun. Ich kann das als Literatin tun, als jemand, dessen Arbeit und Glück und Inhalt des Lebens es ist, sich mit Literatur und Literaturen auseinanderzusetzen. Ich kann es als jemand tun, der Literatur der Passage verfasst hat: als jemand, der Passagen aufgeschrieben hat, eigene, fremde, die mir erzählt wurden, und diejenigen, die in meinem Kopf, man sagt: unter der Feder des Autors, entstanden, was aber eine Lüge ist: In erster Linie entstehen Figuren und Geschichten, entsteht Literatur da, wo Herz und Kopf sich zu streiten beginnen und man nach Worten suchen muss. Ich kann es als jemand tun, der selbst eine Passage hinter sich gebracht hat.
Als elfjähriges Kind wurde ich von meinen Eltern – so war trotz der monatelangen Vorbereitungen das Gefühl – von Zuhause nach Deutschland verfrachtet, bis ich mich in einer deutschen Schulklasse wiederfand – so passiv war auch dieses Gefühl: sich-wieder-finden, als hätte ich keine eigentliche, zumindest keine eigene, keine gewollte Bewegung vollbracht – in der ich anhand der Zahlen den Mathematikunterricht und anhand der Musiknoten den Musikunterricht erkannte und ansonsten nicht sicher sagen konnte, in welchem Schulfach ich gerade saß.
Ich könnte mich zu entscheiden versuchen, in welcher Rolle ich jetzt hier bin, und etwas zu dem Thema Literatur der Passage erzählen, aber in Wahrheit müsste ich eine andere sein: Selbst wenn ich mich entscheiden würde, hier als Literaturexpertin zu schreiben, wäre auch meine Passage, mein Weg, ein Teil der Literaturexpertin, die hier formuliert, der Weg wäre nicht abgeschlossen, und abgeschlossen – das kann ich jetzt erst, erst viele Jahre später sagen – wird er hoffentlich niemals sein.
Wenn einer Dichterin wie Najet Adouani – und sie ist nicht die Einzige, die diesem Phänomen begegnet – mit Fragen unterstellt wird, sie habe sich literarisch mit ihrer tatsächlichen, der als solchen gelebten Passage auseinanderzusetzen, so ist die Prämisse einer solchen Frage, ihr literarischer Weg müsste dem tatsächlichen folgen, aber vielleicht liegt bereits in dieser Aussage zu viel Anspruch. Möglicherweise ist da auch eine Neugierde, ein lebendiges Interesse dahinter, wir wüssten gerne, wie es war, wie es ist. Wenn wir aber solche Fragen stellen, so müssen wir auch immer bedenken, warum und wie und aus welchen Notwendigkeiten heraus jemand erzählt. Ist die Erzählung eine Antwort auf häufig gestellte Fragen? Ist der Impuls einer Antwort einer Schuldigkeit entsprungen?
Ein Dichter aus dem Iran erzählte mir vor kurzem, er habe lange Zeit das Gefühl gehabt, er müsse seine Geschichte in Deutschland und den Deutschen immer wieder erzählen, immerhin haben sie ihn aufgenommen, ihm eine Zuflucht gewährt. Dankbarkeit, die er nicht mit Taten zu stillen wusste, hat er mit Erzählungen und Geschichten gestillt. Bis der Regen nicht aufhörte und der Sommer sich nicht zeigte und er in Depressionen zu verfallen begann und anfing, genau darüber zu schreiben: über das Ausbleiben des Sommers. Über die Unendlichkeit deutscher Regentropfen. Und er erzählte mir, selbst sichtlich erstaunt, wie er damit über etwas anderes zu schreiben begann: über die Unendlichkeit deutscher Fragen. Als er aufhörte, immer und immer wieder aufs Neue zu erzählen, begann er über das zu schreiben, worauf sich die Fragen gerichtet haben: über die Passage. Und den Wunsch, diese nicht zu erzählen. Was einer der vielen Wege ist, über Schmerzhaftes, Verlorenes, Tödliches zu schreiben: Man erzählt das Schweigen und all das, was zwischen den Worten steht.
Erzählen durch Nichterzählen
Man kann auch eine Passage erzählen, indem man das Danach erzählt. Abbas Khider, ein irakischer Schriftsteller, der bereits mit 19 Jahren wegen seiner politischen Aktivitäten festgenommen wurde und nach seiner Entlassung floh, hat 2016 einen viel beachteten und mehrmals ausgezeichneten Roman mit dem Titel Ohrfeige veröffentlicht, in dem er die Geschichte eines Flüchtlings erzählt, der abgeschoben werden soll und kurz vor der Abschiebung die für ihn zuständige Mitarbeiterin der Ausländerbehörde fesselt, um sie zu zwingen, sich seine Geschichte anzuhören, und endlich keine Nummer mehr zu sein. Abbas Khider erzählt vom Bleibenwollen und Nichtbleibenkönnen. Er erzählt vom Fremdgefühl und der Angst und vom Streben danach, ein Mensch zu sein. Er erzählt eine Passage, die nicht an ein Ende führte, weil am Ende nichts war; er erzählt einen Menschen, der keinen Ort hat, weil ihn der Ort, den er verließ, nicht mehr will, und der, an dem er Zuflucht suchte, ihn ebenfalls nicht will. Abbas Khider erzählt das Danach und das, was nicht übrig blieb, vielleicht erzählt er einen Protagonisten, der kein Mensch mehr ist, und genau indem er sie nicht erzählt, erzählt er sowohl die vorangegangene als auch die bevorstehende Passage dieses Geflüchteten, der abgeschoben werden soll:
Die deutschen Fahrgäste wollen sich mit mir jedoch über nichts anderes unterhalten. Die Fragen sind immer dieselben:
Woher kommen Sie?
Wann kehren Sie in Ihr Heimatland zurück?
Der 11. September war abscheulich, sehen Sie das auch so?
Können die Araber überhaupt demokratisch denken?
Sind Sie Muslim?
Wie denken Sie über das, was die Amerikaner in Ihrem Land angestellt haben? Sehen Sie es als Befreiung oder Besatzung?
Ist das Leben jetzt besser ohne Diktatur?
Was glauben Sie – wird es mit der Demokratie dort funktionieren?
Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendienstes oder die Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?
Lücken der Leichtigkeit
Neben dem Schweigen, dem Danach, dem Davor, dem Erfinden neuer Figuren, der Verfremdung von Kontexten und Fakten, dem Sprechen über die Freiheit, wie die eingangs zitierte Autorin Najet Adouani es tut, gibt es noch viele andere Mittel und Wege, Passagen zu erzählen. In meinem ersten Roman Meine weißen Nächte – mit „erfundenen“ Protagonisten, die mit meiner Familie erstaunliche Ähnlichkeiten hatten – beschrieb ich unter anderem auch einen Teil meiner Passage: die Zeit, in der meine Familie in einem Asylantenwohnheim hinter Stacheldraht hauste, die Zeit, in der meine Großmutter täglich weinte und meine Eltern zu sprechen aufhörten oder ich mir das genauso merken musste: dass sie nicht mehr sprachen, vielleicht weil ich mir nicht merken wollte, was sie tatsächlich sagten. Ich hatte darüber geschrieben, und ich hatte es mit Humor getan, weil sich jede – noch so traurige, noch so desaströse – Geschichte mit Humor erzählen lässt und weil es auch etwas Comedyhaftes hat, wenn die Wände in einer Baracke, in der Flüchtlinge zusammengepfercht wohnen, fünfköpfige Familien in 12-qm-großen Zimmer untergebracht, so dünn sind, dass, wenn in einem Zimmer gefragt wird, wie das Wetter heute werden soll, jemand drei Zimmer weiter antwortet, dass die Sonne scheint. So kann man das erzählen, so bringt man den Leser zum Schmunzeln und wird möglicherweise auch von der Kritik dafür gefeiert, schwere Sujets mit Humor zu erzählen und der Melancholie eine Leichtigkeit zu verleihen, und was man dann nicht erzählt und was man erfolgreich verschweigt, sind die Verletzungen und die Erniedrigungen und die Verzweiflungen und auch all die anderen menschlichen Makel, die zwischen den dünnen Wänden weitergegeben werden.
Ich habe viele andere Menschen hier bei uns ankommen sehen müssen, und ich habe sie suchen sehen müssen, ein Gefühl, und ich habe über sie und ihre Suche schreiben müssen, um an diesen Ort zurückkehren zu können. Um über meine eigene Suche zu schreiben. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um diesen Ort beschreiben zu können. So viel zum Thema Passage als abgeschlossener Moment. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um ehrlich schreiben zu können, um den Humor nicht zu brauchen, nicht als Absicherung und nicht als Selbstschutz und auch nicht, um zu verbergen, wer ich tatsächlich war. Und um sagen zu können, diese Passage, die bin auch ich. Ich habe 22 Jahre gebraucht, um das hier schreiben zu können:
Ich litt unter schlimmen Nebenhöhlenentzündungen, die Holzbaracke wurde nicht beheizt, der HNO-Arzt stach mir wöchentlich Spritzen durch die Stirnhöhlen, während er in einer Sprache auf mich einredete, die ich nicht verstand, und vorher schlug ich auf meine Mutter ein, weil sie mich diesem Mann überließ. Abends kam das Fieber und kam der Husten, meine Großmutter weinte immerzu, nicht aus Sorge um meine Gesundheit, sie weinte, weil sie dieses neue Leben nicht verstand. Meine Eltern weinten nie.
Mir ist kalt, und das Flüchtlingswohnheim kriecht in mich und breitet sich aus wie ein Fieber. Am nächsten Morgen stehe ich auf, zu früh, von der Angst vor Erinnerungen aus dem Bett gejagt, und mir fehlt die Erkältung, mir fehlt die verstopfte Nase und der Halsschmerz beim Schlucken. Das Fieberthermometer zeigt 36,9, Kopfschmerzen habe ich nicht, aber der Körper fühlt sich fiebrig an, es schüttelt mich, ich setze mich auf den Boden mit dem Rücken an die Heizung. Ich wurde überfahren. Hör mir zu, sagt mir jemand, der mich sehr gut kennt, hör mir genau zu. Das war einmal. Das Flüchtlingswohnheim, das bist nicht du. Das sagt er, aber er behält nicht Recht. Ich bin das Kind, das vor einem Lastwagen stand und Essenspakete entgegennahm, Dosen mit passierten Tomaten und Mais und Thunfisch, es trug sie ins Zimmer und stellte sie auf das Fensterbrett, weil in der Küche wurden Lebensmittel ständig geklaut. Ich bin das Kind, das bis heute keine Dosen erträgt. Ich bin das Kind, das sich nachts in den Schlaf zu husten versucht, das von Geräuschen so vieler Fremder geweckt wird, sobald es mal in den Schlaf findet. Das Kind liegt im oberen Stockbett und zählt die Löcher in der weißen Decke, und wenn es geweckt wird, so vergräbt es die Nase in der blaukarierten, unangenehm gestärkten Bettwäsche, die alle zwei Wochen beim Wohnheimchef, einem Bulgaren, den die Erwachsenen regelmäßig für verschiedene Zwecke zu bestechen versuchen, gewechselt werden kann.
Das Kind ist zu einer Frau geworden, und die Frau hat in verschiedenen Ländern, Städten gelebt, in vielen Wohnungen, Häusern, Hotels, in Hunderten Betten geschlafen, aber jedes verlassen, sobald sie karierte Bettwäsche sah.
Ich fühle mich fiebrig, auch zwei Tage nach diesem Besuch, auch als meine Mutter mich fragt: Wie war es denn nun, im Wohnheim? Ich gebe keine Antwort darauf, weil die Antwort nur eine Frage sein kann: Warum hast du niemals geweint?
Wir legen uns unsere Geschichten zurecht. Ich habe geweint, sagt meine Mutter, heimlich habe ich geweint, nachts habe ich geweint, immer nur um dich. Um mich, wundere ich mich und blicke sie endlich an, weil ich mich nicht an ihre streichelnden Hände erinnern kann und auch nicht an beschützende Worte. Ja, immer nur um dich, weil ich dachte, dein Bruder ist groß, deine Großmutter hat ihr Leben gelebt, dein Vater kommt schon zurecht, aber was wird mit dir, wenn mir etwas zustoßen sollte, was wird mit dir, dem Kind, das in diesem Land keinen Menschen kennt?
Nachts, sagt meine Mutter, wenn du gehustet hast, damals, als du so krank warst, und ich unterbreche sie, ja, ich weiß, die Wände waren so dünn, sagt meine Mutter. Die Wände zwischen den Zimmern wie die Außenwände: dünne Holzbretter, aneinander gezimmert, und die lustigen Geschichten aus dem Wohnheim gehen so: Fragte einer in seinem Zimmer, wie das Wetter heute sei, so antwortete jemand, der drei Zimmer weiter lebte, die Sonne wird scheinen. Nachts, sagt meine Mutter, wenn du gehustet hast, damals, als du so krank warst, da schrie der Mann aus dem Zimmer nebenan, dessen viel jüngere Frau ihm immerzu drohte, ihn zu verlassen, warum nur habe er sie hergebracht: Tut das Kind weg! Bringt eure Tochter raus, so kann meine Frau nicht schlafen! Weißt du noch, sagt meine Mutter, nächtelang saß ich neben dir, habe deine Brust gestreichelt, damit der Husten aufhört, und deine Stirn glühte immerzu. Ich erinnere mich nicht, und ich sage nicht, aber ich habe doch oben im Stockbett geschlafen, wie willst du da neben mir gesessen haben. Ich weiß nichts, die Erinnerung betrügt mich, seit ich das Wohnheimgelände nach 23 Jahren wieder betreten habe. Was hat mein Vater gemacht, hat er den Mann zurück angebrüllt, frage ich, und meine Mutter, die nur mit den Schultern zuckt, das weiß ich nicht mehr, auch sie ist von der Erinnerung betrogen.
Wenn ich das hier, 23 Jahre nachdem ich es erlebt habe, ein Jahr nachdem ich es aufgeschrieben habe, vorlese, dann denke ich, dass die Passage nicht nur nicht abgeschlossen ist. Ich denke, dass ich mich vielleicht genau in ihrer Mitte befinde.
Weiterschreiben
Wann und wie und wer erzählt also diese Passagen? In Zeiten, in denen sich laute, erboste, hämische Stimmen gegen Menschen aus anderen Ländern erheben, in denen so viele, die Angst haben vor Phänomenen, die sie nicht näher zu definieren wissen, lauthals mit Begriffen wie Überfremdung um sich werfen, bekommen Geschichten von Passagen eine besondere Bedeutung. Und eine größere Bedeutung bekommt auch die Frage, wer und warum und wie sie erzählt werden.
So wichtig das Erzählen dieser Geschichten ist, so interessant sie auch in diesen Zeiten erscheinen, muss man Acht darauf geben, welche Bilder man erzählt. Und warum. Derzeit haben Autoren ein Portal gegründet, das Weiterschreiben heißt: Es geht darum, geflüchteten Autoren dabei zu helfen, literarisch Fuß in Deutschland zu fassen. Es geht aber auch darum, dass man sich als Autoren begegnet – ein Autor, der einem Kollegen die Hand schüttelt, ein Mensch, der einem anderen begegnet – nicht darum, Hilfe in Hierarchiegebilden weiterzugeben. Jeder der Autoren, die bei diesem Projekt mitmachen und sich Hilfe bei Übersetzungen oder Netzwerkkontakten erhoffen, hat in seinem Eingangsstatement deutlich gemacht, als Autor, nicht als geflüchteter Autor wahrgenommen werden zu wollen. Wir Autoren, die wir derzeit immer mehr auch zu politischen, engagierten Autoren werden, müssen aufpassen, dass wir in unserem lauten Einstehen für Demokratie, Vielfalt, Vielstimmigkeit mit dem Zweck, anderen, die keine Stimme haben, eine zu verleihen, uns unserer Haltung bewusst sind. Der Grat ist schmal, und wir wissen nicht immer, wann wir ihn übertreten. Das geht dann so:
Fremdschämen: das ist, wenn man sich für Fremde schämt.
Ich bleibe sitzen, und ich schüttle meinen Kopf, und ich blicke auf meine Schuhe, und vielleicht laufe ich auch rot an, um das letzte Klischee zu erfüllen, aber später denke ich, vielleicht hätte ich aufstehen müssen, etwas sagen. Mit anderen Worten: Später kommt der Fremdscham das „Fremd“ abhanden.
Ich saß da nur so, rutschte unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her, blickte ungeduldig auf die Uhr, wieder zur Bühne. Suchte nach Spuren von Entrüstung in ihrem Blick. Auf der Bühne stand eine Frau. Die Frau stammte aus Afghanistan. Sie hatte eine dieser Geschichten erlebt, von denen man gerne glauben würde, es gäbe sie nur auf der Leinwand, in Romanen. Vielleicht ist aber auch „überlebt“ das richtige Wort an dieser Stelle. Eine junge, kluge, schöne, ehrgeizige Juristin, die an Freiheit und Wissen glaubte, die gegen ihren Willen verheiratet wurde mit einem Mann, der sie paranoid des wiederholten Betrugs beschuldigte, der sie für diesen nie stattgefundenen Betrug schlug, ihr das Studieren verbot, sie permanent erniedrigte, später so weit ging, die gemeinsamen Söhne zu entführen.
Sie hält ein Bild hoch, auf dem sind zwei grinsende Jungs zu sehen: Zwei Jahre lang war dieses Bild das Einzige, was sie von ihren Kindern sah. So lange brauchte sie, um sie wieder zu finden. Noch mal so lange, um mit Stationen in vier Ländern Deutschland zu erreichen. Es wäre schön, wenn Deutschland das Happy End dieser Geschichte wäre, aber das ist es nicht. Viele Jahre in Flüchtlingsheimen, in denen sie als Alleinerziehende schikaniert wurde, ein psychisch erkranktes Kind, ständige Angst vor der Abschiebung, Angst vor dem Mann, der ihr nach Deutschland folgte und das Sorgerecht für die Kinder wollte. Heute, da sie auf der Bühne steht, ist es eine dieser Wundergeschichten: Aus ihr sprechen Charme und Kraft, sie arbeitet als Übersetzerin und engagiert sich ehrenamtlich, indem sie minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung hilft. Ihre Kinder sind, wie sie sagt, Menschen geworden, die anderen ein Beispiel sind.
All das erzählt sie, sie erzählt all das offen, und sie tut es auf der Bühne, und sie hat Bilder mitgebracht von ihren Kindern, ihren Vorfahren, ihrer Familie. Sie erzählt es, damit wir verstehen, was nicht zu verstehen ist, also damit wir eine Ahnung bekommen, damit die Geflüchteten Gesichter bekommen und die Gesichter Geschichten und damit die Geschichten Ängste verjagen. Das ist die Hoffnung, und einen Schritt weiter – nämlich, ob diejenigen, die Angst haben, tatsächlich diese Geschichten hören, ihnen zuhören wollen – denkt man lieber nicht.
Der Selbstschutz ist einer Machtlosigkeit, einer Verzweiflung geschuldet: Was sonst? Lieber nichts tun? Also tun wir, wir Öffentlichkeitsmacher, wir Kulturschaffende, wir, die wir meinen, eine Stimme zu haben, aber wer hört uns zu? Kaum ein Stadttheater, das nicht das Thema Flucht in einem Stück, einer Performance aufnimmt, keine Lokalzeitung, die nicht neue Nachbarn vorstellt in Serie, kein Literaturhaus, das nicht geflüchtete Autoren zu Wort kommen lässt, und Bilder, Zeichnungen, Fotografien, die Boote auf dem Mittelmeer zeigen, sind auch überall zu sehen. Dahinter steckt ein wichtiger, ein bedeutungsträchtiger Wunsch: der, lauter zu sein als die anderen. Die, die mit anderen Bildern um sich werfen, die mit Ängsten spielen, bis sie diese in Ressentiments, Überzeugungen und Wählerstimmen verwandelt haben, schlimmer vielleicht noch: in Angriffe. Wir sind uns unserer Verantwortung als Stimmen der Gesellschaft bewusst, man wird jetzt wieder politisch als Autor, Theatermacher, Künstler, mit unseren Mitteln ziehen wir in den Kampf gegen Vorurteile, Backlashes und auch gegen den Hass.
Fremdschämen
So entstehen Veranstaltungen wie diese, bei der ich unruhig, weil fremdschämend sitze – aber seien wir mal ehrlich, ich sitze nicht nur, auch ich stand auf dieser Bühne. Autoren haben Geflüchtete getroffen, haben sich ihre Geschichten angehört und sie literarisch, protokollarisch, lyrisch und journalistisch aufgeschrieben – den Geflüchteten Gesichter und den Gesichtern Geschichten gegeben, daraus ist ein Sammelband entstanden. Nun werden die Geschichten in Bibliotheken und Buchhandlungen gelesen, und – jetzt muss ich kurz zynisch werden – diejenigen, die bereits wissen, dass die Geflüchteten keine angsteinflößende Masse sind, sondern Menschen mit Schicksalen, hören diesen Geschichten zu. Die Autoren nehmen weder für Geschichten noch für das Lesen Geld, und das Publikum spendet; die Spenden kommen den Geflüchteten zugute, ein Kreislauf, der für sich funktioniert.
Eine Autorin hat für das Projekt die Geschichte dieser afghanischen Frau aufgeschrieben, die sich netterweise bereit erklärt hat, nach der Lesung auf der Bühne zu stehen und Fragen zu beantworten, auch die unverschämter Art. Ob sie Angst vor ihrem Ex-Ehemann habe, möchte jemand wissen, und wie oft er sie geschlagen habe, fragt jemand aus der vierten Reihe. Ob das Kind seine psychischen Probleme überwunden habe und mit wem die Tochter verheiratet sei, mit einem Afghanen oder einem Deutschen. Mit einem Polen, antwortet die Frau auf der Bühne, und ich achte darauf, sie verzieht kein Gesicht. Ob sie wisse, ob ihr nun auch in Deutschland lebender Ex-Ehemann von den Behörden beobachtet werde, möchte ein Zuhörer wissen, es könne immerhin sein, dass er ein Schläfer sei, einer, der mit dem IS sympathisiert.
Die Frau auf der Bühne steht mit Geduld und Freundlichkeit Rede und Antwort, sie hält der Übergriffigkeit stand und setzt ihr ein selbstbewusstes Lächeln entgegen, und ich weiß nicht, ob sie das merkt: dass sie sich beweisen muss. Der psychisch erkrankte Sohn hat seine Wut auf die deutschen Lehrer, von denen er sich diskriminiert fühlte, von denen er vielleicht/möglicherweise/wahrscheinlich diskriminiert wurde, überwunden und ist somit keine Gefahr. Auch die Tochter hat das System verlassen und hat sich keinen frauenfeindlichen muslimischen (wenn auch keinen deutschen) Mann gesucht. Wenn die Frau diese Antworten gibt, so nicken die Publikums-Köpfe. Wenn sie die Schauergeschichte ihres Lebens erzählt, so werden diese Köpfe geschüttelt, hinter mir wird gar gestöhnt, man suhlt sich in ihrem Unglück, im Mitleid zerfließt man, so wie ich beim Schreiben im Zynismus zerfließe. Später gibt es noch Wein, aber keine Häppchen, da schüttelt man noch einmal den Kopf über das eben Gehörte, die Bücher lässt man sich von den Autoren signieren, und der aus Afghanistan stammenden Frau bietet man Wasser an: Als Muslimin trinke sie sicher keinen Wein. Später werden die signierten Bücher in die Handtaschen gesteckt, die Weingläser abgeräumt, und auf dem Nachhauseweg denkt man sich als Zuhörer, wie gut man es doch hat im Leben, und das Leid der anderen, ach Gott, und hoffentlich haben die Behörden den bösen Ex-Mann dieser Frau bereits im Visier. Aber zuhause geht man zufrieden ins Bett: Heute hat man etwas Gutes getan. Man hat Geschichten von Geflüchteten gehört.
Zum Übergriff freigegeben
Ich habe zusammen mit anderen diese Geschichten erzählt. Wir haben sie erzählt, wie so viele andere das auf die eine oder andere Weise getan haben, wir haben geschrieben, um den Menschen Gesichter und den Gesichtern Geschichten zu geben, und wir taten es für das, was wir für einen guten Zweck hielten. Aber wenn ich so dasitze und die Fragen vernehme, die diese Frau beantworten muss, und nichts sage und nicht weiß, warum ich nichts sage, denke ich, vielleicht gaben wir auch Geschichten, die nicht die unseren waren, frei. Zum Übergriff frei.
Der jesidische Mann, den ich für dieses Buchprojekt interviewt hatte – es war, wir sind doch alle jetzt auch politische Stimmen, bei weitem nicht das einzige Projekt dieser Art, das ich unterstützen wollte – sagte mir vor der vorletzten Lesung aus dem Buch, er werde nicht mehr kommen. Er will nicht mehr immerzu seine Geschichte erzählen. Er ist einen Weg – eine Passage – gegangen, eine, die ihn jeden Tag aufs Neue bewegt. Diesen Weg würde er jetzt weitergehen, indem er ihn nicht mehr erzählt. Ich hätte ihn gerne für diese Worte umarmt, aber wir sprachen am Telefon miteinander, und außerdem war er sehr schüchtern. Er war einfach ein schüchterner Mensch.