Eine Rezension zu "Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin
Das Literaturblatt Baden-Württemberg ist eine 1993 als Literaturblatt für Baden und Württemberg gegründete Zweimonatszeitschrift für Literatur. Sie wird von der Journalistin und Publizistin Irene Ferchl herausgegeben und über Buchhandlungen, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen sowie im Abonnement vertrieben. Der folgende Beitrag erschien im Mai/Juni-Heft.
*
Muttersuche, verdichtet. Ein gutes Buch über schlechte Zeiten
von Klaus Hübner
Der Name Mariupol taucht immer mal wieder in den Nachrichten auf. Denn die bis ins 20. Jahrhundert hinein vom weitgehend friedlichen Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen und Religionen geprägte Stadt am Asowschen Meer liegt genau dort, wo sich Russen und Ukrainer seit Jahren bekriegen. Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko wurde 1920 in Mariupol geboren – und ging im Oktober 1956 im fränkischen Forchheim wortlos aus ihrer Wohnung, um in der Regnitz aus einem Leben zu scheiden, das in der Hauptsache aus Hunger, Krankheit, Gewalt und Todesangst bestanden hatte. Sie wuchs in einer Zeit auf, in der Stalin und seine Kommissare die einst blühende Ukraine in ein bestialisches Schlachthaus verwandelten, ins blutende Herz der sowjetischen Finsternis. Hautnah erlebte sie den deutschen Überfall auf ihre Heimat, die Schrecknisse des berüchtigten „Unternehmens Barbarossa“ und die nicht minder grausame Rückeroberung des verwüsteten Landes durch die Rote Armee. Letztlich hatten sie und ihr Mann „wahrscheinlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen der Zwangsarbeit in Deutschland oder dem Tod in der Ukraine“. In den letzten beiden Kriegsjahren, als Arbeitssklavin in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns im permanent bombardierten Leipzig, wurde alles noch schlimmer. Und als die früheren „Ostarbeiter“ nach Kriegsende zu „Displaced Persons“ wurden, ging das tägliche Elend auf andere Art und Weise weiter.
Im welthistorisch einschneidenden Jahr 1945 wurde Natascha Wodin in Fürth geboren, und mehr als 70 Jahre später legt die seit den achtziger Jahren anerkannte und mit zahlreichen Preisen bedachte Schriftstellerin ein Buch vor, das Jewgenias Schicksal und das ihrer Familie literarisch überzeugend vor Augen führt. Jewgenia war Nataschas Mutter: „Meine kindliche Vorstellung vom Herkunftsort meiner Mutter überdauerte Jahrzehnte in meinen inneren Dunkelkammern“. Erst spät war Natascha Wodin dazu in der Lage, diese Dunkelkammern auszuleuchten. Sie hat genau hingesehen und berichtet auch über ihre mühsame Recherchearbeit. Herausgekommen ist ein beklemmendes und höchst beeindruckendes Buch, das auch mehrfach auf ihren ersten Roman Die gläserne Stadt (1983) anspielt, der in diesem Frühjahr im Ars Vivendi Verlag neu aufgelegt wurde.
Sie kam aus Mariupol hat keinen Untertitel – kein fiktionaler Roman also, sondern eine Spurensuche in der Tradition der dokumentarischen Literatur, die in ihrem immer wieder von Fragen und Vermutungen durchsetzten Berichtsgestus an Bücher von Christa Wolf, Peter Härtling und bisweilen auch Dieter Kühn erinnert. Diese Spurensuche besitzt beträchtlichen zeithistorischen Wert. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren spielenden Passagen sind eine bewegende Anklage der menschenverachtenden Stalin-Diktatur, vor allem dort, wo die Erzählerin den Alltag ihrer Tante Lidia im karelischen „Arbeitserziehungslager“ Medweshja Gora schildert – nicht nur bei ihrer Arbeit als „Lehrerin in einer Strafkolonie für minderjährige Häftlinge“ sieht Lidia dort täglich dem Tod ins Auge. Auf den letzten hundert Seiten ihres Buches zeigt Natascha Wodin klar, ausführlich, detailliert und angereichert mit oft unglaublich brutalen Dokumenten und Zitaten, wie es Abertausenden von Zwangsarbeitern im Deutschen Reich erging und wie wenig die beginnende Wirtschaftswunderzeit dazu bereit war, Not und Verzweiflung von „Displaced Persons“ ernst zu nehmen – nach dem Krieg erinnerten diese Menschen offenbar „an etwas, wovon niemand mehr etwas hören will“.
Natascha Wodin führt auf glaubwürdige Weise vor, wie ein Mensch zwischen den Mühlsteinen der Verhältnisse zerrieben werden kann. So todtraurig und furchtbar Jewgenias Geschichte auch sein mag – Sie kam aus Mariupol ist ein großartiges und unbedingt lesenswertes Buch. Im Wesentlichen geht es um eine Muttersuche in schrecklichen Zeiten, und damit scheint Natascha Wodins Werk ein anderes Thema zu haben als die „Lagerliteratur“ eines Imre Kertész, Primo Levi oder Jean Améry. In seiner behutsamen und eindringlichen Erzählhaltung sowie seiner klug und geschickt verdichteten poetischen Intensität aber steht es deren Meisterwerken nicht nach. Der Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ist mehr als gerechtfertigt.
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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«. Hübner ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am Institut für Deutsch als Fremdsprache, die beide zur Universität München gehören.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017. 365 S., € 19,95.
Dies.: Die gläserne Stadt. Roman (1983). Mit einem Nachwort von Jan Schulz-Ojala. Ars Vivendi Verlag, Cadolzburg 2017. 280 S., € 20,-.
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Das Literaturblatt Baden-Württemberg ist eine 1993 als Literaturblatt für Baden und Württemberg gegründete Zweimonatszeitschrift für Literatur. Sie wird von der Journalistin und Publizistin Irene Ferchl herausgegeben und über Buchhandlungen, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen sowie im Abonnement vertrieben. Der folgende Beitrag erschien im Mai/Juni-Heft.
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Muttersuche, verdichtet. Ein gutes Buch über schlechte Zeiten
von Klaus Hübner
Der Name Mariupol taucht immer mal wieder in den Nachrichten auf. Denn die bis ins 20. Jahrhundert hinein vom weitgehend friedlichen Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen und Religionen geprägte Stadt am Asowschen Meer liegt genau dort, wo sich Russen und Ukrainer seit Jahren bekriegen. Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko wurde 1920 in Mariupol geboren – und ging im Oktober 1956 im fränkischen Forchheim wortlos aus ihrer Wohnung, um in der Regnitz aus einem Leben zu scheiden, das in der Hauptsache aus Hunger, Krankheit, Gewalt und Todesangst bestanden hatte. Sie wuchs in einer Zeit auf, in der Stalin und seine Kommissare die einst blühende Ukraine in ein bestialisches Schlachthaus verwandelten, ins blutende Herz der sowjetischen Finsternis. Hautnah erlebte sie den deutschen Überfall auf ihre Heimat, die Schrecknisse des berüchtigten „Unternehmens Barbarossa“ und die nicht minder grausame Rückeroberung des verwüsteten Landes durch die Rote Armee. Letztlich hatten sie und ihr Mann „wahrscheinlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen der Zwangsarbeit in Deutschland oder dem Tod in der Ukraine“. In den letzten beiden Kriegsjahren, als Arbeitssklavin in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns im permanent bombardierten Leipzig, wurde alles noch schlimmer. Und als die früheren „Ostarbeiter“ nach Kriegsende zu „Displaced Persons“ wurden, ging das tägliche Elend auf andere Art und Weise weiter.
Im welthistorisch einschneidenden Jahr 1945 wurde Natascha Wodin in Fürth geboren, und mehr als 70 Jahre später legt die seit den achtziger Jahren anerkannte und mit zahlreichen Preisen bedachte Schriftstellerin ein Buch vor, das Jewgenias Schicksal und das ihrer Familie literarisch überzeugend vor Augen führt. Jewgenia war Nataschas Mutter: „Meine kindliche Vorstellung vom Herkunftsort meiner Mutter überdauerte Jahrzehnte in meinen inneren Dunkelkammern“. Erst spät war Natascha Wodin dazu in der Lage, diese Dunkelkammern auszuleuchten. Sie hat genau hingesehen und berichtet auch über ihre mühsame Recherchearbeit. Herausgekommen ist ein beklemmendes und höchst beeindruckendes Buch, das auch mehrfach auf ihren ersten Roman Die gläserne Stadt (1983) anspielt, der in diesem Frühjahr im Ars Vivendi Verlag neu aufgelegt wurde.
Sie kam aus Mariupol hat keinen Untertitel – kein fiktionaler Roman also, sondern eine Spurensuche in der Tradition der dokumentarischen Literatur, die in ihrem immer wieder von Fragen und Vermutungen durchsetzten Berichtsgestus an Bücher von Christa Wolf, Peter Härtling und bisweilen auch Dieter Kühn erinnert. Diese Spurensuche besitzt beträchtlichen zeithistorischen Wert. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren spielenden Passagen sind eine bewegende Anklage der menschenverachtenden Stalin-Diktatur, vor allem dort, wo die Erzählerin den Alltag ihrer Tante Lidia im karelischen „Arbeitserziehungslager“ Medweshja Gora schildert – nicht nur bei ihrer Arbeit als „Lehrerin in einer Strafkolonie für minderjährige Häftlinge“ sieht Lidia dort täglich dem Tod ins Auge. Auf den letzten hundert Seiten ihres Buches zeigt Natascha Wodin klar, ausführlich, detailliert und angereichert mit oft unglaublich brutalen Dokumenten und Zitaten, wie es Abertausenden von Zwangsarbeitern im Deutschen Reich erging und wie wenig die beginnende Wirtschaftswunderzeit dazu bereit war, Not und Verzweiflung von „Displaced Persons“ ernst zu nehmen – nach dem Krieg erinnerten diese Menschen offenbar „an etwas, wovon niemand mehr etwas hören will“.
Natascha Wodin führt auf glaubwürdige Weise vor, wie ein Mensch zwischen den Mühlsteinen der Verhältnisse zerrieben werden kann. So todtraurig und furchtbar Jewgenias Geschichte auch sein mag – Sie kam aus Mariupol ist ein großartiges und unbedingt lesenswertes Buch. Im Wesentlichen geht es um eine Muttersuche in schrecklichen Zeiten, und damit scheint Natascha Wodins Werk ein anderes Thema zu haben als die „Lagerliteratur“ eines Imre Kertész, Primo Levi oder Jean Améry. In seiner behutsamen und eindringlichen Erzählhaltung sowie seiner klug und geschickt verdichteten poetischen Intensität aber steht es deren Meisterwerken nicht nach. Der Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ist mehr als gerechtfertigt.
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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«. Hübner ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am Institut für Deutsch als Fremdsprache, die beide zur Universität München gehören.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017. 365 S., € 19,95.
Dies.: Die gläserne Stadt. Roman (1983). Mit einem Nachwort von Jan Schulz-Ojala. Ars Vivendi Verlag, Cadolzburg 2017. 280 S., € 20,-.