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21.04.2017, 10:53 Uhr
Lena Gorelik
Gespräche
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Lena Gorelik hat einen Jugendroman geschrieben. Ein Gespräch

Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Lena Gorelik lebt in München. Auch als gesellschaftspolitische Autorin meldet sie sich immer wieder zu Wort: Sie schreibt Essays, etwa über Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur, gehört zu den Autoren von Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das sowie die Schullesereihe So fremd wie wir Menschen. Nach Null bis unendlich (2015) ist ihr eindrucksvoller neuer Roman Mehr Schwarz als Lila kürzlich erschienen. Sie erzählt darin von den Freunden Alex, Paul und Ratte, einer unglücklichen Liebe zu einem Lehrer und einem folgenreichen Kuss am unpassendsten Ort der Welt – auf Klassenfahrt in Auschwitz. Wie nebenher wirft Lena Gorelik dabei ganz grundlegende Fragen auf: Wie kann man Erinnerung vermitteln, wie frei kann man sein? Die Süddeutsche Zeitung lobte das Buch als „thematisch provozierenden und psychologisch fein gesponnenen Roman".

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Literaturportal Bayern: Lena Gorelik, Ihr Roman Mehr Schwarz als Lila handelt von Alex und ihren zwei besten Freunden Ratte und Paul, deren Freundschaft fast zerstört wird, als Alex Paul im KZ Auschwitz küsst. Wie kamen Sie auf die Idee, gerade diesen Schauplatz zu wählen?

Lena Gorelik: Wenn man als Autor die Diskussion über Orte, an denen so ein Verhalten unangebracht ist, schon aufmacht, muss es ein plakativer Ort sein, sonst würde es den Diskurs, der im Roman auf den Kuss folgt, gar nicht geben. Zumindest nicht in dem Ausmaß.

Mich haben beim Schreiben unterschiedliche Themen beschäftigt, und eines davon war der Erinnerungsbegriff. Wie wird Erinnerung gelebt? Inwiefern wird sie erzwungen und wie geht man in den verschiedenen Generationen damit um? In dem Zusammenhang war Auschwitz sehr naheliegend, und für mich war klar: Es muss ein Ort sein, der eine Bedeutung hat, an dem man von einem Tabu sprechen würde.

Schaut man sich dagegen die drei Figuren an, fällt auf, dass der Ort für sie keine Rolle spielt. Für sie ist die Grenzübertretung der Kuss und nicht der Ort. Diese Differenz zwischen dem, was von außen aufgeladen wird, und dem, was es für die drei bedeutet – das war für mich interessant.

Der Vorfall wird noch dadurch verschlimmert, dass ein Foto von diesem „unangebrachten Kuss“ auf Facebook und Twitter geteilt wird. Wie stehen Sie zu den Sozialen Medien, die heutzutage sehr einflussreich sind?

Man kann die mediale Öffentlichkeit in Form von Sozialen Medien nicht per se kritisieren, weil sie etwas ist, was Realität ist und immer mehr zur Realität wird. Die Frage ist nur, wie man mit dieser Öffentlichkeit umgeht und wie sehr man sie sich bewusst macht. Wie vielen Menschen ist klar, was da in den sozialen Medien passiert, auch an Meinungsbildung?

Hinzu kommen die schnelle Entwicklung und die Generationsunterschiede: Nicht einmal ich komme da noch mit, und ich bin nun wirklich kein alter Mensch. Die 16-jährigen benutzen alle Snapchat; ich bin jetzt 36 und weiß nicht mal, was das ist, und meine 46-jährigen Freunde finden es schon fortschrittlich, dass ich bei Facebook bin. Die medialen Entwicklungen waren früher langsamer – von Schallplatten zu Kassetten zu CDs – das waren ganz lange Abschnitte. Von Facebook zu Twitter zu Snapchat oder was es da alles gibt – das passiert viel schneller. Dass diese Medien, diese Art von Kommunikation allgegenwärtig sind, ist Realität. Wir müssen damit aber bewusst umgehen.

Für die drei Freunde im Roman ist der Kuss im KZ ein privater Moment, für sie hat er keine mediale Symbolkraft. Alex ist verknallt, alles andere ist ihr vollkommen egal, und dann wird durch die „Veröffentlichung“ eine riesige Sache daraus, auf die sie keinen Einfluss mehr nehmen kann. Der Schritt in die Öffentlichkeit ist nicht ihre Entscheidung.

Hat man sich früher bewusst dafür entschieden, mit einer Nachricht an die Öffentlichkeit zu gehen, ein bestimmtes Leserpublikum anzusprechen, wird sie einem heute oft entrissen. Eine Sache wird in den Sozialen Medien einfach öffentlich und erhält dadurch eine viel größere, unkontrollierbare Breitenwirkung. Wenn ich etwas bei Facebook oder Twitter reinstelle, kann ich nicht steuern, wer das liest oder weiterverbreitet. Darüber, finde ich, wird viel zu wenig geredet. Der kompetente Umgang mit Sozialen Medien müsste eigentlich ein Schulfach sein.

Die drei Freunde, um die es im Roman geht, kennen sich von der Schule. Sie sind alle sehr unterschiedlich, in ihrer Klasse eher Außenseiter. Woher haben Sie sich die Inspiration für die Figuren geholt? Wie kamen Sie zum Beispiel auf die Idee, eine der Figuren „Ratte“ zu nennen?

Grundsätzlich – und ich glaube, das zieht sich durch alle meine Bücher – interessieren mich Außenseiter; Figuren, die irgendwie auffallen und nicht dem Mainstream entsprechen. Freiwillig oder nicht, das ist nochmal eine andere Sache. Mich interessiert das Anders-Sein, das Ausbrechen-Wollen oder das Sich-Am-Rand-Bewegen-Müssen, weil man nach außen gedrängt wurde. Es war also klar, dass ich nicht über den Klassenschönling schreiben würde. Über Konformität zu schreiben, ist keine Herausforderung für mich. Meine Ideen für die Figuren sind immer eine Mischung aus Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen, die in meinem Kopf entsteht.

Ich hatte in den letzten zwei, drei Jahren meiner Schulzeit auch zwei beste Freunde, ein Mädchen und einen Jungen. Es war nicht dieselbe Geschichte, aber eine ähnliche Konstellation: Wir drei gegen den Rest der Welt. Und dann sind da Dinge, die einem einfach so in den Kopf kommen: Ich spiele selbst gern Spiele, also spielen auch meine Figuren gern Spiele. Oder man sieht draußen einen Menschen rumlaufen und denkt sich, so könnte meine Figur aussehen …

Für die Figuren im Roman hatte ich aber lange keine Namen. Bei Ratte war mir nur relativ schnell klar, dass sie sich selbst einen Namen aussucht. Und dann saß ich mit einer Freundin im Auto und der Name entstand spontan aus dem Gespräch.

Ist diese schwierige Namensfindung auch ein Grund, warum die anderen Figuren keine Namen haben? Die werden ja zum Beispiel mit S. abgekürzt.

Ja, genau. Ich wollte das restliche Personal des Romans zwar nicht komplett als eine „dunkle Masse“ stehen lassen, aber ich habe gemerkt, dass die anderen keine Bedeutung haben. Es gibt die drei Freunde und es gibt Johnny, den jungen Lehrer. Alle anderen sind austauschbar. Wer da jetzt raucht, einen coolen Spruch ablässt oder wer mit wem in der Jugendherberge in einem Zimmer wohnt, ist vollkommen egal.

Ihr Text ist aus der Ich-Perspektive geschrieben, aber es gibt auch noch ein „Du“ im Text: Johnny. Hatten Sie das von Anfang an geplant oder entstand das mit dem Text?

Das „Du“ kam mit dem Schreiben. Ich plane ohnehin nicht viel, bevor ich schreibe. Das „Du“ hat sich erst relativ spät eingeflochten. Der Text war ganz lange ohne „Du“. Ich habe diese Unmittelbarkeit gebraucht, und ich dachte: Alex kann nicht allein sein. Sie ist kein Mensch, der gerne allein ist. Sie erzählt das Buch aus der Mitte heraus, sie beginnt ihre Erzählung nach dem Kuss und bevor sie zum zweiten Mal nach Polen fährt. Es beginnt damit, dass Paul verschwunden ist. Es ist eine Situation, in der sie ganz allein ist, und deshalb braucht sie einen Ansprechpartner.

Die Figur Johnny sollte eigentlich eine Lehrerfigur sein, das ist sie aber im Grunde gar nicht, eher ein Freund. Es gibt ja Lehrer, die versuchen, mit ihren Schülern befreundet zu sein. Haben Sie eigene Erfahrungen damit gemacht?

Früher gehörten Lehrer ganz klar einer anderen Generation an. Sie haben sich auch völlig anders angezogen als ihre Schüler. Früher kam der Mathelehrer im Anzug. Heute trägt ein Referendar die gleichen Adidas-Sneakers und den gleichen Kapuzenpulli wie seine Schüler. Die Generationengrenze verschwimmt und mit ihr das Gefühl von Altersstufen – in beide Richtungen.

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich mich jemals in einen meiner Lehrer verliebt hätte, das waren alles uralte Männer. In der 11. Klasse hatte ich aber dann eine Lateinlehrerin, die direkt von der Uni kam. Die fand ich damals wahnsinnig interessant. Und sie fühlte sich uns 18- oder 19-jährigen auch näher als den Senioren im Lehrerzimmer.

Auch Johnny ist ja noch jung, selbst wenn er älter ist als Alex, Ratte und Paul. Er fühlt sich mit den drei Freunden tausendmal wohler als mit den älteren Lehrerkollegen. Deswegen ist Johnny diese Figur zwischendrin. Und deshalb so spannend für die drei: weil auch sie in diese Altersstufe streben – nach zwischendrin. Zwischendrin ist ein Lebensgefühl.

 

Interview: Sophie Obwexer