Zum 125. Geburtstag von Nelly Sachs
Nelly Sachs hat die Welttragödie des 20. Jahrhunderts in lyrische Bilder gefasst wie kaum jemand anderes. Vor 125 Jahren wurde sie in Berlin geboren. Eine Erinnerung an Leben und Werk einer großen Dichterin.
Auf den Fotografien sieht man eine kleine, zarte, zerbrechlich wirkende Frau. Ihre großen, leicht auseinanderstehenden, runden Augen blicken einen milde an. Auf den erhaltenen Tonbandaufnahmen erklingt eine zitternde, gleichsam schwebende Stimme. Nelly Sachs erinnert an eine würdevolle ältere Dame, eine Großtante aus Berlin, die man lange nicht mehr besucht hat. Doch ein Besuch lohnt sich.
Am 10. Dezember jährt sich ihr Geburtstag zum 125. Mal. Vielen jungen Menschen sagt der Name heute kaum noch etwas, und auch im aktuellen Literaturdiskurs spielt Nelly Sachs keine Rolle. Dabei kann der Beitrag der Lyrikerin zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts kaum hoch genug eingeschätzt werden, und das nicht nur wegen des Literaturnobelpreises, mit dem sie im Jahr 1966 (zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon) ausgezeichnet wurde.
Keine andere Dichterin hat dem Leiden Israels und der Juden im 20. Jahrhundert eine derart ergreifende lyrische Stimme verliehen wie sie. Nelly Sachs ist nicht einzuordnen in eine literarische Strömung, ihr Werk ist gleichermaßen zeitlos wie eigen und unverwechselbar. Wie entstanden diese Gedichte? Wie hat Nelly Sachs gelebt? Eine Anregung, sich anlässlich ihres Geburtstages an sie zu erinnern und ihre Gedichte wieder zur Hand zu nehmen.
Kindheit in Berlin
Nelly (eigentlich Leonie) Sachs wird am 10. Dezember 1891 in der Maaßenstraße 15 in Berlin geboren, als Tochter des Fabrikanten William Sachs und seiner Frau Margarete. Das kleine Mädchen interessiert sich für Sagen und Märchen, wenn der Vater Klavier spielt, tanzt sie gerne dazu. Als sie zum 15. Geburtstag ein Buch von Selma Lagerlöf geschenkt bekommt, schreibt sie der schwedischen Dichterin, und es entsteht eine Korrespondenz, die viele Jahre andauern wird. Im Alter von 17 Jahren verliebt Nelly sich in einen Mann, der große Bedeutung in ihrem Leben erlangen wird und den sie als „Quelle ihres Schaffens“ bezeichnet. Sie leidet aus Liebe, nimmt kaum noch Nahrung zu sich und ist geplagt von Todessehnsucht, so dass sie sich zeitweise in Obhut eines Psychiaters begeben muss.
Das Schreiben hilft ihr bei der Genesung. Die junge Frau verfasst Erzählungen, erste Gedichte erscheinen in der Vossischen Zeitung und im Tagblatt. Im Jahr 1930 stirbt der Vater, und Nelly Sachs steht fortan eng und alleine an der Seite ihrer Mutter. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden noch einige ihrer Gedichte in der Zeitschrift des jüdischen Kulturbundes Der Morgen veröffentlicht. Dann wird die Situation lebensbedrohlich.
Flucht nach Schweden
Der erwähnte Geliebte, dessen Identität Nelly Sachs zeit ihres Lebens geheim hält, ist im Widerstand gegen Hitler tätig. 1937 wird er verhaftet und gefoltert, wobei es Hinweise darauf gibt, dass Nelly Sachs Zeugin seiner Misshandlungen gewesen sein könnte. Schließlich wird er ermordet.
In den folgenden qualvollen Monaten bemüht sich Nelly Sachs um eine Möglichkeit, gemeinsam mit ihrer Mutter Deutschland zu verlassen. Im November 1938 bittet sie Selma Lagerlöf um Hilfe, die sich mit einem Empfehlungsschreiben für sie einsetzt. Doch die gewünschte Ausreise nach Schweden gestaltet sich schwierig. Das Land nimmt Flüchtlinge nur noch vorübergehend auf und verlangt Bürgschaften für eine Weiterreise nach Amerika. Im Mai 1940 erhält Nelly Sachs von den Nationalsozialisten schließlich den Befehl, sich für den Abtransport in ein Arbeitslager zu stellen. Ein Gestapo-Offizier rät ihr, das Schriftstück zu zerreißen und Berlin sofort zu verlassen. Noch einmal fragt sie bei der schwedischen Botschaft nach und erfährt, dass die Einreiseerlaubnis bereits vorliegt. In letzter Sekunde entkommen sie und ihre Mutter am 16. Mai 1940 aus Deutschland.
Schreiben im Exil
In Stockholm lebt Nelly Sachs in sehr einfachen Verhältnissen, in wechselnden Zimmern und Wohnungen, bis sie im Oktober 1941 von der Jüdischen Gemeinde für sich und ihre Mutter eine Einzimmerwohnung in der Bergsundstraße 23 zur Miete erhält. Hier beginnt sie die Arbeit an ihrem Hauptwerk. Sie schreibt nachts im Dunkeln in der Küche, um die Mutter nicht zu stören – in ihrer „Kajüte“, wie sie es nennt. Um sich ein bisschen Geld zu verdienen, beginnt sie alsbald auch mit Übersetzungen schwedischer Lyrik ins Deutsche.
Im Winter 1943/44 entsteht der Zyklus In den Wohnungen des Todes. In dem Gedichtband, erschienen zuerst im Ost-Berliner Aufbau Verlag im Jahr 1947, erhebt sich ein jüdische Stimme, die das Martyrium des eigenen Volkes in Worte fasst. Nelly Sachs findet Bilder und entwirft Chiffren für das an sich Unsagbare: „O die Schornsteine/ Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,/ Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch/ Durch die Luft – “. Schornsteine werden zum Weg für „Flüchtlinge aus Rauch“, Finger, die den Sand aus Totenschuhen leeren, werden schon morgen „Staub sein/ In den Schuhen Kommender“. Nelly Sachs verfasst „Gebete für den toten Bräutigam“ und entwirft „Grabinschriften in die Luft geschrieben“, die sich auf ermordete Menschen beziehen, die sie persönlich gekannt hat. Sie schreibt in einer sprachlichen Intensität über den Holocaust und das „Leiden Israels“ wie außer ihr vielleicht nur noch Paul Celan. Wie kaum eine andere Dichterin widerlegt sie Theodor W. Adornos später zurückgenommenes Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“.
Nelly Sachs im Jahr der Literaturnobelpreisverleihung 1966
Literarischer Erfolg
In den darauf folgenden Jahren veröffentlicht Nelly Sachs mehrere Gedichtbände und auch szenische Arbeiten. Überdies bringt sie Sammelbände mit schwedischer Lyrik heraus. Wie über Nacht beginnen die Jahre ihres literarischen Erfolgs. So erhält sie 1958 den Lyrikpreis des Schwedischen Schriftstellerverbandes, 1959 einen Literaturpreis des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Als der Südwestfunk 1959 das Mysterienspiel Eli ausstrahlt, wird Nelly Sachs endlich auch in der Bundesrepublik einer größeren Öffentlichkeit bekannt.
1961 erscheint im Suhrkamp Verlag die Lyriksammlung Fahrt ins Staublose. Lektor von Nelly Sachs ist Hans Magnus Enzensberger, der sie in Stockholm aufsucht und mit ihr immer wieder an ihren Gedichten arbeitet. Sie schätzt den jungen Redakteur und Dichter sehr, er ist ihr „ein Trost“. (Auf Anfrage, ob er für diesen Artikel zu einem Gespräch über Nelly Sachs bereit sei, lässt Enzensberger über sein Büro mitteilen, er bedauere, dass er keine Interviews geben möchte. „Dafür gibt es zwei einfache Gründe: sein Geburtsdatum und seine Faulheit.“)
1965 erhält Nelly Sachs schließlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, am 10. Dezember 1966, an ihrem Geburtstag, nimmt sie in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegen. Den Großteil des Preisgeldes verteilt die in einfachen Verhältnissen lebende Dichterin an „Hilfesuchende der ganzen Welt“, wie sie sagt.
Dichterfreunde
Nelly Sachs unterhält freundschaftliche Beziehungen zu Literaten wie Ilse Aichinger, die erst kürzlich, am 11. November 2016, gestorben ist, zu Hilde Domin oder Alfred Andersch, der ihr Werk in Westdeutschland bekannt macht. Eine literarische Verwandtschaft ließe sich mit der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar feststellen, deren Lyrik von vergleichbarer Kraft und Magie ist. Kolmar wurde im Jahr 1943 vermutlich in einem Konzentrationslager ermordet. Geboren aber ist sie wie Nelly Sachs am 10. Dezember, drei Jahre nach ihr im Jahr 1894, ebenfalls in Berlin.
Einen intensiven und liebevollen Kontakt pflegt Nelly Sachs mit Paul Celan. Über 16 Jahre lang schreiben sie sich, sie tauschen sich über Persönliches und Literarisches aus und schicken sich gegenseitig ihre Gedichte. Es kommt zu Begegnungen in Zürich, Paris und Stockholm.
Ihr Briefwechsel wird später im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. „Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, schreibt Nelly Sachs im Oktober 1959 an Celan, sie will ihn schützen vor seiner eigenen Traurigkeit und Verzweiflung. Er indes warnt sie vor der Literaturszene in Deutschland. Von der Gruppe 47 etwa ist ihm übel mitgespielt worden. Als er bei einem Treffen 1952 sein Gedicht „Todesfuge“ vorträgt, muss er sich antisemitisch verhöhnen lassen. Im Februar 1960 schreibt er an Nelly Sachs: „Sie ahnen nicht, wer alles zu den Niederträchtigen gehört, nein, Nelly Sachs, Sie ahnen es nicht! [...] Einige schreiben sogar Gedichte. Sie schreiben, diese Menschen, Gedichte! Was schreiben sie nicht alles, die Verlogenen!“
Der Briefwechsel zeigt, wie sehr Nelly Sachs und Paul Celan darunter leiden, zu den Überlebenden der Shoah zu gehören. Nelly Sachs ist von Verfolgungsängsten und Todeswünschen geplagt: „Eine Nazi-Spiritist-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setzte.“ Sie ringt immer wieder mit einem Nervenleiden, mehrfach hält sie sich in einer Klinik in Beckomberga auf, wo sie sich auch einer Elektroschocktherapie unterziehen muss.
Wie sehr die Einsamkeit Paul Celan und Nelly Sachs schließlich gefangennimmt, zeigt das stille Ende des Briefwechsel im Jahr 1969 – ohne ein Wort des Abschieds. In dem Gedicht „Zürich. Zum Storchen“, das Celan Nelly Sachs gewidmet hat, heißt es: „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,/ dein Mund/ sprach sich dem Aug zu, ich hörte:/ „Wir/ wissen ja nicht, weißt du,/ wir/ wissen ja nicht,/ was/ gilt...“.
Das Grab von Nelly Sachs in Stockholm
Planetenlyrik
Die Lyrik von Nelly Sachs weist verschiedenartige Einflüsse auf. Da wären etwa Die Legenden des Baal-schem, chassidische Erzählungen, in denen jahrhundertealte jüdische Mystik und Weisheit Osteuropas verdichtet sind. Martin Buber hat diese Legenden zusammengetragen. Auch das Sohar, das heilige Buch der Kabbala, studiert Nelly Sachs. Intensiv befasst sie sich überdies mit dem Werk Schwerkraft und Gnade der französischen Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil, die auch jüdischer Abstammung war, aber dem Katholizismus nahestand. Nicht zu vergessen sind der Expressionismus und die damalige schwedische Gegenwartslyrik, die sie ja selbst ins Deutsche übersetzt.
Nelly Sachs' Gedichte erlangen jedoch eine eigenständige Kraft, die ihr Werk aus der Literatur des 20. Jahrhunderts hervorhebt. Sicherlich sind die schwerwiegendsten jene, die sich mit dem Massenmord an den Juden in den Konzentrationslagern befassen. In diesen Versen sprechen die ermordeten Greise, die Mütter, die Waisenkinder. Die Motive kreisen um den Staub, um Rauch, Sand, Haare und um leere Schuhe – Fußspuren führen ins Nichts, Schwellen haben keine Türen, Augen kein Licht mehr. Nelly Sachs fasst den Schmerz des gesamten Planeten Erde, ja des Kosmos in Worte. Ihr sind die Lüfte vom Märtyrerschrei verbrannt, die Erde ist ein „Waisenstern“, ein „Planetengreis“, ein „Milchstraßenbettler/ mit dem Wind als Blindenhund“, ja, die Sterne selbst sind „entgleist“, – „und das Feuer in der Tiefe der Erde/ weiß schon um unseren Zerfall.“ Sie fragt das schuldig gewordene Universum selbst, wie all das geschehen konnte: „Und Sonne und Mond sind weitergegangen –/ zwei schieläugige Zeugen, die nichts gesehen haben.“
Nimmt man ihre Gedichte erstmals zur Hand, stellt sich unweigerlich ein Eindruck ein: Hier steht etwas nie zuvor Gelesenes. Alles ist eigen und speziell, der Ton, die Worte, Komposita wie „Aschenzeit“, „Schlafmuschel“, „Herzensbett“, Adjektive wie „erinnerungsentzündet“, „nachtbehaust“, „traumgebogen“, „abschiedsschwarz“. Es sind kosmische Begegnungen mit „Gestirnen nur von Sehnsucht angezündet“ – „in einem früheren Weltall ohne Zeit“. In diesen sprachmächtigen, aber sprachlos machenden Gedichten wird nicht weniger als die gesamte Tragödie menschlicher Existenz im Universum verhandelt.
Ihr Verhältnis zur Sprache drückt Nelly Sachs in diesen Gedichtzeilen an Paul Celan aus: „Alle Worte Flüchtlinge/ in ihre unsterblichen Verstecke/ wo die Zeugungskraft ihre Sterngeburten/ buchstabieren muß“. Wer weiß, vielleicht birgt eine neue Generation von Lesern die Worte der Nelly Sachs aus ihren unsterblichen Verstecken, damit die Zwiesprache mit ihr, mit dem Menschen und dem Kosmos weitergeht. Denn, wie es in ihrem Gedicht „Chassidische Schriften“ heißt: „Alles ist Heil im Geheimnis/ und lebt aus der Erinnerung/ und aus Vergessenheit graut der Tod.“
Nelly Sachs stirbt am 12. Mai 1970 in Stockholm an Krebs, am Tag von Paul Celans Beerdigung.
Der in Weiden geborene Stefan Wirner lebt seit 1990 als Journalist und Autor in Berlin. Seit Januar 2012 arbeitet er als Redaktionsleiter der „drehscheibe“, des Magazins für Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. Wirner schreibt Glossen für verschiedene Zeitungen und Artikel, u.a. für Amnesty International. Als Autor von drei „cut-up-Romanen“ (Verbrecher Verlag, Berlin) und Gedichten (Love to Go, 2011) ist Stefan Wirner belletristisch hervorgetreten. Als Lyriker sieht er sich in der Tradition des französischen surrealistischen Dichters René Char.
Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Manesse Verlag, Zürich 1992.
Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988.
Nelly Sachs: Simson fällt durch Jahrtausende und andere szenische Dichtungen. DTV, München 1967.
Nelly Sachs (2010). Schriftstellerin. Berlin/Stockholm. Audio-CD, speak low.
Fritsch-Vivié, Gabriele (1993): Nelly Sachs. Rowohlt Verlag, Hamburg.
Wiedemann, Barbara (Hg.) (1996): Paul Celan/Nelly Sachs. Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
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Nelly Sachs hat die Welttragödie des 20. Jahrhunderts in lyrische Bilder gefasst wie kaum jemand anderes. Vor 125 Jahren wurde sie in Berlin geboren. Eine Erinnerung an Leben und Werk einer großen Dichterin.
Auf den Fotografien sieht man eine kleine, zarte, zerbrechlich wirkende Frau. Ihre großen, leicht auseinanderstehenden, runden Augen blicken einen milde an. Auf den erhaltenen Tonbandaufnahmen erklingt eine zitternde, gleichsam schwebende Stimme. Nelly Sachs erinnert an eine würdevolle ältere Dame, eine Großtante aus Berlin, die man lange nicht mehr besucht hat. Doch ein Besuch lohnt sich.
Am 10. Dezember jährt sich ihr Geburtstag zum 125. Mal. Vielen jungen Menschen sagt der Name heute kaum noch etwas, und auch im aktuellen Literaturdiskurs spielt Nelly Sachs keine Rolle. Dabei kann der Beitrag der Lyrikerin zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts kaum hoch genug eingeschätzt werden, und das nicht nur wegen des Literaturnobelpreises, mit dem sie im Jahr 1966 (zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon) ausgezeichnet wurde.
Keine andere Dichterin hat dem Leiden Israels und der Juden im 20. Jahrhundert eine derart ergreifende lyrische Stimme verliehen wie sie. Nelly Sachs ist nicht einzuordnen in eine literarische Strömung, ihr Werk ist gleichermaßen zeitlos wie eigen und unverwechselbar. Wie entstanden diese Gedichte? Wie hat Nelly Sachs gelebt? Eine Anregung, sich anlässlich ihres Geburtstages an sie zu erinnern und ihre Gedichte wieder zur Hand zu nehmen.
Kindheit in Berlin
Nelly (eigentlich Leonie) Sachs wird am 10. Dezember 1891 in der Maaßenstraße 15 in Berlin geboren, als Tochter des Fabrikanten William Sachs und seiner Frau Margarete. Das kleine Mädchen interessiert sich für Sagen und Märchen, wenn der Vater Klavier spielt, tanzt sie gerne dazu. Als sie zum 15. Geburtstag ein Buch von Selma Lagerlöf geschenkt bekommt, schreibt sie der schwedischen Dichterin, und es entsteht eine Korrespondenz, die viele Jahre andauern wird. Im Alter von 17 Jahren verliebt Nelly sich in einen Mann, der große Bedeutung in ihrem Leben erlangen wird und den sie als „Quelle ihres Schaffens“ bezeichnet. Sie leidet aus Liebe, nimmt kaum noch Nahrung zu sich und ist geplagt von Todessehnsucht, so dass sie sich zeitweise in Obhut eines Psychiaters begeben muss.
Das Schreiben hilft ihr bei der Genesung. Die junge Frau verfasst Erzählungen, erste Gedichte erscheinen in der Vossischen Zeitung und im Tagblatt. Im Jahr 1930 stirbt der Vater, und Nelly Sachs steht fortan eng und alleine an der Seite ihrer Mutter. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden noch einige ihrer Gedichte in der Zeitschrift des jüdischen Kulturbundes Der Morgen veröffentlicht. Dann wird die Situation lebensbedrohlich.
Flucht nach Schweden
Der erwähnte Geliebte, dessen Identität Nelly Sachs zeit ihres Lebens geheim hält, ist im Widerstand gegen Hitler tätig. 1937 wird er verhaftet und gefoltert, wobei es Hinweise darauf gibt, dass Nelly Sachs Zeugin seiner Misshandlungen gewesen sein könnte. Schließlich wird er ermordet.
In den folgenden qualvollen Monaten bemüht sich Nelly Sachs um eine Möglichkeit, gemeinsam mit ihrer Mutter Deutschland zu verlassen. Im November 1938 bittet sie Selma Lagerlöf um Hilfe, die sich mit einem Empfehlungsschreiben für sie einsetzt. Doch die gewünschte Ausreise nach Schweden gestaltet sich schwierig. Das Land nimmt Flüchtlinge nur noch vorübergehend auf und verlangt Bürgschaften für eine Weiterreise nach Amerika. Im Mai 1940 erhält Nelly Sachs von den Nationalsozialisten schließlich den Befehl, sich für den Abtransport in ein Arbeitslager zu stellen. Ein Gestapo-Offizier rät ihr, das Schriftstück zu zerreißen und Berlin sofort zu verlassen. Noch einmal fragt sie bei der schwedischen Botschaft nach und erfährt, dass die Einreiseerlaubnis bereits vorliegt. In letzter Sekunde entkommen sie und ihre Mutter am 16. Mai 1940 aus Deutschland.
Schreiben im Exil
In Stockholm lebt Nelly Sachs in sehr einfachen Verhältnissen, in wechselnden Zimmern und Wohnungen, bis sie im Oktober 1941 von der Jüdischen Gemeinde für sich und ihre Mutter eine Einzimmerwohnung in der Bergsundstraße 23 zur Miete erhält. Hier beginnt sie die Arbeit an ihrem Hauptwerk. Sie schreibt nachts im Dunkeln in der Küche, um die Mutter nicht zu stören – in ihrer „Kajüte“, wie sie es nennt. Um sich ein bisschen Geld zu verdienen, beginnt sie alsbald auch mit Übersetzungen schwedischer Lyrik ins Deutsche.
Im Winter 1943/44 entsteht der Zyklus In den Wohnungen des Todes. In dem Gedichtband, erschienen zuerst im Ost-Berliner Aufbau Verlag im Jahr 1947, erhebt sich ein jüdische Stimme, die das Martyrium des eigenen Volkes in Worte fasst. Nelly Sachs findet Bilder und entwirft Chiffren für das an sich Unsagbare: „O die Schornsteine/ Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,/ Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch/ Durch die Luft – “. Schornsteine werden zum Weg für „Flüchtlinge aus Rauch“, Finger, die den Sand aus Totenschuhen leeren, werden schon morgen „Staub sein/ In den Schuhen Kommender“. Nelly Sachs verfasst „Gebete für den toten Bräutigam“ und entwirft „Grabinschriften in die Luft geschrieben“, die sich auf ermordete Menschen beziehen, die sie persönlich gekannt hat. Sie schreibt in einer sprachlichen Intensität über den Holocaust und das „Leiden Israels“ wie außer ihr vielleicht nur noch Paul Celan. Wie kaum eine andere Dichterin widerlegt sie Theodor W. Adornos später zurückgenommenes Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“.
Nelly Sachs im Jahr der Literaturnobelpreisverleihung 1966
Literarischer Erfolg
In den darauf folgenden Jahren veröffentlicht Nelly Sachs mehrere Gedichtbände und auch szenische Arbeiten. Überdies bringt sie Sammelbände mit schwedischer Lyrik heraus. Wie über Nacht beginnen die Jahre ihres literarischen Erfolgs. So erhält sie 1958 den Lyrikpreis des Schwedischen Schriftstellerverbandes, 1959 einen Literaturpreis des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Als der Südwestfunk 1959 das Mysterienspiel Eli ausstrahlt, wird Nelly Sachs endlich auch in der Bundesrepublik einer größeren Öffentlichkeit bekannt.
1961 erscheint im Suhrkamp Verlag die Lyriksammlung Fahrt ins Staublose. Lektor von Nelly Sachs ist Hans Magnus Enzensberger, der sie in Stockholm aufsucht und mit ihr immer wieder an ihren Gedichten arbeitet. Sie schätzt den jungen Redakteur und Dichter sehr, er ist ihr „ein Trost“. (Auf Anfrage, ob er für diesen Artikel zu einem Gespräch über Nelly Sachs bereit sei, lässt Enzensberger über sein Büro mitteilen, er bedauere, dass er keine Interviews geben möchte. „Dafür gibt es zwei einfache Gründe: sein Geburtsdatum und seine Faulheit.“)
1965 erhält Nelly Sachs schließlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, am 10. Dezember 1966, an ihrem Geburtstag, nimmt sie in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegen. Den Großteil des Preisgeldes verteilt die in einfachen Verhältnissen lebende Dichterin an „Hilfesuchende der ganzen Welt“, wie sie sagt.
Dichterfreunde
Nelly Sachs unterhält freundschaftliche Beziehungen zu Literaten wie Ilse Aichinger, die erst kürzlich, am 11. November 2016, gestorben ist, zu Hilde Domin oder Alfred Andersch, der ihr Werk in Westdeutschland bekannt macht. Eine literarische Verwandtschaft ließe sich mit der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar feststellen, deren Lyrik von vergleichbarer Kraft und Magie ist. Kolmar wurde im Jahr 1943 vermutlich in einem Konzentrationslager ermordet. Geboren aber ist sie wie Nelly Sachs am 10. Dezember, drei Jahre nach ihr im Jahr 1894, ebenfalls in Berlin.
Einen intensiven und liebevollen Kontakt pflegt Nelly Sachs mit Paul Celan. Über 16 Jahre lang schreiben sie sich, sie tauschen sich über Persönliches und Literarisches aus und schicken sich gegenseitig ihre Gedichte. Es kommt zu Begegnungen in Zürich, Paris und Stockholm.
Ihr Briefwechsel wird später im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. „Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, schreibt Nelly Sachs im Oktober 1959 an Celan, sie will ihn schützen vor seiner eigenen Traurigkeit und Verzweiflung. Er indes warnt sie vor der Literaturszene in Deutschland. Von der Gruppe 47 etwa ist ihm übel mitgespielt worden. Als er bei einem Treffen 1952 sein Gedicht „Todesfuge“ vorträgt, muss er sich antisemitisch verhöhnen lassen. Im Februar 1960 schreibt er an Nelly Sachs: „Sie ahnen nicht, wer alles zu den Niederträchtigen gehört, nein, Nelly Sachs, Sie ahnen es nicht! [...] Einige schreiben sogar Gedichte. Sie schreiben, diese Menschen, Gedichte! Was schreiben sie nicht alles, die Verlogenen!“
Der Briefwechsel zeigt, wie sehr Nelly Sachs und Paul Celan darunter leiden, zu den Überlebenden der Shoah zu gehören. Nelly Sachs ist von Verfolgungsängsten und Todeswünschen geplagt: „Eine Nazi-Spiritist-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setzte.“ Sie ringt immer wieder mit einem Nervenleiden, mehrfach hält sie sich in einer Klinik in Beckomberga auf, wo sie sich auch einer Elektroschocktherapie unterziehen muss.
Wie sehr die Einsamkeit Paul Celan und Nelly Sachs schließlich gefangennimmt, zeigt das stille Ende des Briefwechsel im Jahr 1969 – ohne ein Wort des Abschieds. In dem Gedicht „Zürich. Zum Storchen“, das Celan Nelly Sachs gewidmet hat, heißt es: „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,/ dein Mund/ sprach sich dem Aug zu, ich hörte:/ „Wir/ wissen ja nicht, weißt du,/ wir/ wissen ja nicht,/ was/ gilt...“.
Das Grab von Nelly Sachs in Stockholm
Planetenlyrik
Die Lyrik von Nelly Sachs weist verschiedenartige Einflüsse auf. Da wären etwa Die Legenden des Baal-schem, chassidische Erzählungen, in denen jahrhundertealte jüdische Mystik und Weisheit Osteuropas verdichtet sind. Martin Buber hat diese Legenden zusammengetragen. Auch das Sohar, das heilige Buch der Kabbala, studiert Nelly Sachs. Intensiv befasst sie sich überdies mit dem Werk Schwerkraft und Gnade der französischen Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil, die auch jüdischer Abstammung war, aber dem Katholizismus nahestand. Nicht zu vergessen sind der Expressionismus und die damalige schwedische Gegenwartslyrik, die sie ja selbst ins Deutsche übersetzt.
Nelly Sachs' Gedichte erlangen jedoch eine eigenständige Kraft, die ihr Werk aus der Literatur des 20. Jahrhunderts hervorhebt. Sicherlich sind die schwerwiegendsten jene, die sich mit dem Massenmord an den Juden in den Konzentrationslagern befassen. In diesen Versen sprechen die ermordeten Greise, die Mütter, die Waisenkinder. Die Motive kreisen um den Staub, um Rauch, Sand, Haare und um leere Schuhe – Fußspuren führen ins Nichts, Schwellen haben keine Türen, Augen kein Licht mehr. Nelly Sachs fasst den Schmerz des gesamten Planeten Erde, ja des Kosmos in Worte. Ihr sind die Lüfte vom Märtyrerschrei verbrannt, die Erde ist ein „Waisenstern“, ein „Planetengreis“, ein „Milchstraßenbettler/ mit dem Wind als Blindenhund“, ja, die Sterne selbst sind „entgleist“, – „und das Feuer in der Tiefe der Erde/ weiß schon um unseren Zerfall.“ Sie fragt das schuldig gewordene Universum selbst, wie all das geschehen konnte: „Und Sonne und Mond sind weitergegangen –/ zwei schieläugige Zeugen, die nichts gesehen haben.“
Nimmt man ihre Gedichte erstmals zur Hand, stellt sich unweigerlich ein Eindruck ein: Hier steht etwas nie zuvor Gelesenes. Alles ist eigen und speziell, der Ton, die Worte, Komposita wie „Aschenzeit“, „Schlafmuschel“, „Herzensbett“, Adjektive wie „erinnerungsentzündet“, „nachtbehaust“, „traumgebogen“, „abschiedsschwarz“. Es sind kosmische Begegnungen mit „Gestirnen nur von Sehnsucht angezündet“ – „in einem früheren Weltall ohne Zeit“. In diesen sprachmächtigen, aber sprachlos machenden Gedichten wird nicht weniger als die gesamte Tragödie menschlicher Existenz im Universum verhandelt.
Ihr Verhältnis zur Sprache drückt Nelly Sachs in diesen Gedichtzeilen an Paul Celan aus: „Alle Worte Flüchtlinge/ in ihre unsterblichen Verstecke/ wo die Zeugungskraft ihre Sterngeburten/ buchstabieren muß“. Wer weiß, vielleicht birgt eine neue Generation von Lesern die Worte der Nelly Sachs aus ihren unsterblichen Verstecken, damit die Zwiesprache mit ihr, mit dem Menschen und dem Kosmos weitergeht. Denn, wie es in ihrem Gedicht „Chassidische Schriften“ heißt: „Alles ist Heil im Geheimnis/ und lebt aus der Erinnerung/ und aus Vergessenheit graut der Tod.“
Nelly Sachs stirbt am 12. Mai 1970 in Stockholm an Krebs, am Tag von Paul Celans Beerdigung.
Der in Weiden geborene Stefan Wirner lebt seit 1990 als Journalist und Autor in Berlin. Seit Januar 2012 arbeitet er als Redaktionsleiter der „drehscheibe“, des Magazins für Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. Wirner schreibt Glossen für verschiedene Zeitungen und Artikel, u.a. für Amnesty International. Als Autor von drei „cut-up-Romanen“ (Verbrecher Verlag, Berlin) und Gedichten (Love to Go, 2011) ist Stefan Wirner belletristisch hervorgetreten. Als Lyriker sieht er sich in der Tradition des französischen surrealistischen Dichters René Char.
Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Manesse Verlag, Zürich 1992.
Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988.
Nelly Sachs: Simson fällt durch Jahrtausende und andere szenische Dichtungen. DTV, München 1967.
Nelly Sachs (2010). Schriftstellerin. Berlin/Stockholm. Audio-CD, speak low.
Fritsch-Vivié, Gabriele (1993): Nelly Sachs. Rowohlt Verlag, Hamburg.
Wiedemann, Barbara (Hg.) (1996): Paul Celan/Nelly Sachs. Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.