Ein Auszug aus dem neuen Roman von Nicole Eick
Nicole Eick wurde 1957 in Karlsruhe geboren und lebt als Sozialpädagogin im oberfränkischen Coburg. Sie ist Gewinnerin des Kulturwettbewerbs „Coburg im Jahr 2010“, 2009 gründete sie die Coburger Autorengruppe SCHREIBSAND mit. 2012 erschien ihr erster Roman Abfall, ein Sozialkrimi. Ihr zweiter aktueller Roman und raus bist du ist in ihrer Wahlheimat verortet und führt die LeserInnen aufs Coburger Sambafestival, aber auch in die Bamberger Innenstadt. Es ist ein Buch über das Leben und den Tod, der Auszählvers zieht sich durch die gesamte Handlung: Ist man schon „raus“, wenn man im Pflegeheim auf den Tod wartet? Oder gibt es noch eine letzte Ausfahrt? Wir veröffentlichen einen Auszug aus Nicole Eicks neuem Roman, der im September 2016 im Iatros-Verlag erschienen ist.
*
Klappentext
Franziska Krötzer hat sich das Praktikum im Johanna-Stift einfacher vorgestellt. Sie ist schließlich keine Anfängerin, hat die Vierzig überschritten und studiert Psychologie mehr aus persönlichem Interesse an Biografiearbeit denn aus Not.
Aber im Johanna-Stift kreuzen Menschen ihren Weg, deren letzte Ausfahrt „Tod“ heißt. Die Begegnung mit ihnen bringt auch Franziskas dunkles Geheimnis ans Licht.
Franziska Krötzer ist zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert. Und sie hat sich das Praktikum im Johanna-Stift einfacher vorgestellt.
Doch dann kreuzen Menschen ihren Weg, deren Lebensgeschichte sie mehr berührt als erwartet: Die gleichaltrige krebskranke Sonja, Mutter eines kleinen Sohnes, die im Pflegeheim nur noch auf den Tod wartet. Der demente Herr Zimmerer mit einer abenteuerlichen Fluchtgeschichte über den „Todesstreifen“ der ehemaligen DDR. Die betagte Frau Seeler, deren Sohn zunächst gar nicht Franziskas Kragenweite ist ...
Franziska muss sich endlich ihren eigenen seelischen Abgründen stellen: Ihre Tochter Melanie hat schließlich ein Recht zu erfahren, was da vor 21 Jahren beim Sambafestival passiert ist ...
*
Leseprobe
Der Doc setzte sich an die Bettkante, und Frau Freund klappte den Laptop zu, ohne ihn auszumachen.
„Wie ist Ihnen die Chemo bekommen? Irgendwelche Nebenwirkungen?“
Frau Freund öffnete den Mund und zeigte wortlos auf die vielen roten Bläschen, die jetzt sichtbar wurden. „Ich kann kaum essen. Nur Pudding und Brei. Und der hängt mir zum Hals heraus.“
„Machen Sie regelmäßige Mundpflege?“
Die Frage richtete sich an Schwester Meike, aber Frau Freund antwortete. „Das kann ich doch selber. Es hilft halt wenig.“
„Schmerzen?“
„Wie immer. Rücken, Hüften, Beine.“
„Können Sie gehen?“
„Mit Krücken, ja. Und nur, wenn ich mein Korsett trage.“
„Bitte mal hinlegen.“ Er nahm den Laptop vom Schoß seiner Patientin und stellte ihn auf den Nachttisch. Meike betätigte die Bettautomatik, um das Kopfteil abzusenken. Doktor Hagen stützte Frau Freund behutsam an den Schultern, damit sie bequem liegen konnte. Sie zog ihr Shirt in die Höhe, bis zu den Rippen, die sich oberhalb der eingesunken Bauchdecke sehr spitz abzeichneten.
„Wo ist jetzt Ihr Korsett?“, fragte der Doc stirnrunzelnd.
Frau Freund deutete auf den Stuhl beim Schreibtisch. „Es drückt und scheuert. Ich will es nicht ständig tragen.“
Der Doc berührte leicht die geröteten Stellen, die sich über Frau Freunds Bauch zogen. „Ich schreibe Ihnen etwas auf. Sie müssen das Korsett tragen, auch wenn Sie nur sitzen. Die Gefahr, dass wieder Wirbel brechen, ist zu groß. Sie wissen das. Sie könnten eine Querschnittlähmung bekommen.“
„Und wenn schon.“ Sie drehte den Kopf zur Seite, weg vom besorgten Blick des Arztes.
Ich hielt die Luft an, glaubte, sie würde gleich weinen, und keiner wüsste dann, wie sie zu trösten wäre. Am wenigsten ich. Aber es geschah nichts.
Das heißt, es geschah doch etwas, es klopfte nämlich erneut an der Tür, und ein flachsblonder Junge streckte seinen Kopf herein. Über ihm tauchte der dazugehörige Vater auf, Herr Freund, ein Mann mit einem Glatzkopf, der ihn älter wirken ließ als er vermutlich war.
Als sie im Zimmer waren, zog ich mich Richtung Tür zurück.
„Na, dann gehe ich mal wieder, wenn Ihre Familie kommt. Guten Tag Herr Freund, hallo Jan.“ Dr. Reinke-Speerschneider gab den beiden die Hand, wuschelte kurz über Jans Blondschopf und nickte Frau Freund zu. Dann schob er Schwester Meike und mich nach draußen.
Er drückte Meike die Patientenakte und das ausgestellte Rezept in die Hand und wandte sich mir zu.
„Frau Freund hat einen Krebs, dessen Primärtumor unbekannt ist. Brust wahrscheinlich. Die Knochenmetastasen breiten sich aus, die Chemo schlägt nicht an, es ist ziemlich aussichtslos. Sprechen Sie mit ihr. Vielleicht hilft es.“
Damit gab er mir die Hand und lächelte mir aufmunternd zu. „Sie haben solch eine Bewohnerin hier nicht erwartet, stimmt’s? Sie gehört auch nicht hierher. Aber leider fehlt uns noch ein Hospiz. Und ihr Mann wollte sie in der Nähe haben. Auch wenn er sie nicht zuhause pflegen kann. Soviel ich weiß, wohnen sie in einer kleinen Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus ohne Aufzug. Da bleibt nur das Pflegeheim.“
Er nickte mir nochmals zu und folgte Meike zum Stützpunkt. Frau Freund war schließlich nicht seine einzige Patientin.
Ich blieb ratlos vor der Zimmertür zurück, hinter der zwei glatzköpfige Erwachsene und ein flachsblonder Junge so etwas wie ein Familienleben führten. Willkommen, Frau Freund. Willkommen im letzten Lebensabschnitt.
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Nicole Eick wurde 1957 in Karlsruhe geboren und lebt als Sozialpädagogin im oberfränkischen Coburg. Sie ist Gewinnerin des Kulturwettbewerbs „Coburg im Jahr 2010“, 2009 gründete sie die Coburger Autorengruppe SCHREIBSAND mit. 2012 erschien ihr erster Roman Abfall, ein Sozialkrimi. Ihr zweiter aktueller Roman und raus bist du ist in ihrer Wahlheimat verortet und führt die LeserInnen aufs Coburger Sambafestival, aber auch in die Bamberger Innenstadt. Es ist ein Buch über das Leben und den Tod, der Auszählvers zieht sich durch die gesamte Handlung: Ist man schon „raus“, wenn man im Pflegeheim auf den Tod wartet? Oder gibt es noch eine letzte Ausfahrt? Wir veröffentlichen einen Auszug aus Nicole Eicks neuem Roman, der im September 2016 im Iatros-Verlag erschienen ist.
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Klappentext
Franziska Krötzer hat sich das Praktikum im Johanna-Stift einfacher vorgestellt. Sie ist schließlich keine Anfängerin, hat die Vierzig überschritten und studiert Psychologie mehr aus persönlichem Interesse an Biografiearbeit denn aus Not.
Aber im Johanna-Stift kreuzen Menschen ihren Weg, deren letzte Ausfahrt „Tod“ heißt. Die Begegnung mit ihnen bringt auch Franziskas dunkles Geheimnis ans Licht.
Franziska Krötzer ist zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert. Und sie hat sich das Praktikum im Johanna-Stift einfacher vorgestellt.
Doch dann kreuzen Menschen ihren Weg, deren Lebensgeschichte sie mehr berührt als erwartet: Die gleichaltrige krebskranke Sonja, Mutter eines kleinen Sohnes, die im Pflegeheim nur noch auf den Tod wartet. Der demente Herr Zimmerer mit einer abenteuerlichen Fluchtgeschichte über den „Todesstreifen“ der ehemaligen DDR. Die betagte Frau Seeler, deren Sohn zunächst gar nicht Franziskas Kragenweite ist ...
Franziska muss sich endlich ihren eigenen seelischen Abgründen stellen: Ihre Tochter Melanie hat schließlich ein Recht zu erfahren, was da vor 21 Jahren beim Sambafestival passiert ist ...
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Leseprobe
Der Doc setzte sich an die Bettkante, und Frau Freund klappte den Laptop zu, ohne ihn auszumachen.
„Wie ist Ihnen die Chemo bekommen? Irgendwelche Nebenwirkungen?“
Frau Freund öffnete den Mund und zeigte wortlos auf die vielen roten Bläschen, die jetzt sichtbar wurden. „Ich kann kaum essen. Nur Pudding und Brei. Und der hängt mir zum Hals heraus.“
„Machen Sie regelmäßige Mundpflege?“
Die Frage richtete sich an Schwester Meike, aber Frau Freund antwortete. „Das kann ich doch selber. Es hilft halt wenig.“
„Schmerzen?“
„Wie immer. Rücken, Hüften, Beine.“
„Können Sie gehen?“
„Mit Krücken, ja. Und nur, wenn ich mein Korsett trage.“
„Bitte mal hinlegen.“ Er nahm den Laptop vom Schoß seiner Patientin und stellte ihn auf den Nachttisch. Meike betätigte die Bettautomatik, um das Kopfteil abzusenken. Doktor Hagen stützte Frau Freund behutsam an den Schultern, damit sie bequem liegen konnte. Sie zog ihr Shirt in die Höhe, bis zu den Rippen, die sich oberhalb der eingesunken Bauchdecke sehr spitz abzeichneten.
„Wo ist jetzt Ihr Korsett?“, fragte der Doc stirnrunzelnd.
Frau Freund deutete auf den Stuhl beim Schreibtisch. „Es drückt und scheuert. Ich will es nicht ständig tragen.“
Der Doc berührte leicht die geröteten Stellen, die sich über Frau Freunds Bauch zogen. „Ich schreibe Ihnen etwas auf. Sie müssen das Korsett tragen, auch wenn Sie nur sitzen. Die Gefahr, dass wieder Wirbel brechen, ist zu groß. Sie wissen das. Sie könnten eine Querschnittlähmung bekommen.“
„Und wenn schon.“ Sie drehte den Kopf zur Seite, weg vom besorgten Blick des Arztes.
Ich hielt die Luft an, glaubte, sie würde gleich weinen, und keiner wüsste dann, wie sie zu trösten wäre. Am wenigsten ich. Aber es geschah nichts.
Das heißt, es geschah doch etwas, es klopfte nämlich erneut an der Tür, und ein flachsblonder Junge streckte seinen Kopf herein. Über ihm tauchte der dazugehörige Vater auf, Herr Freund, ein Mann mit einem Glatzkopf, der ihn älter wirken ließ als er vermutlich war.
Als sie im Zimmer waren, zog ich mich Richtung Tür zurück.
„Na, dann gehe ich mal wieder, wenn Ihre Familie kommt. Guten Tag Herr Freund, hallo Jan.“ Dr. Reinke-Speerschneider gab den beiden die Hand, wuschelte kurz über Jans Blondschopf und nickte Frau Freund zu. Dann schob er Schwester Meike und mich nach draußen.
Er drückte Meike die Patientenakte und das ausgestellte Rezept in die Hand und wandte sich mir zu.
„Frau Freund hat einen Krebs, dessen Primärtumor unbekannt ist. Brust wahrscheinlich. Die Knochenmetastasen breiten sich aus, die Chemo schlägt nicht an, es ist ziemlich aussichtslos. Sprechen Sie mit ihr. Vielleicht hilft es.“
Damit gab er mir die Hand und lächelte mir aufmunternd zu. „Sie haben solch eine Bewohnerin hier nicht erwartet, stimmt’s? Sie gehört auch nicht hierher. Aber leider fehlt uns noch ein Hospiz. Und ihr Mann wollte sie in der Nähe haben. Auch wenn er sie nicht zuhause pflegen kann. Soviel ich weiß, wohnen sie in einer kleinen Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus ohne Aufzug. Da bleibt nur das Pflegeheim.“
Er nickte mir nochmals zu und folgte Meike zum Stützpunkt. Frau Freund war schließlich nicht seine einzige Patientin.
Ich blieb ratlos vor der Zimmertür zurück, hinter der zwei glatzköpfige Erwachsene und ein flachsblonder Junge so etwas wie ein Familienleben führten. Willkommen, Frau Freund. Willkommen im letzten Lebensabschnitt.