Literarische Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek (1): Das Wessobrunner Gebet
Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.
Weltbewegendes – unauffällig, aber stilsicher
Einem ahnungslosen Betrachter des Wessobrunner Codex drängt sich dessen eigentliche Sensation nicht unbedingt auf. Mehr noch: Ihm könnte ohne Weiteres entgehen, was sich auf den mittlerweile so prominenten Blättern 65v und 66r verbirgt. Eingebettet in eine ansonsten durchgehend in lateinischer Sprache gehaltenen Handschrift, findet sich dort das eigentliche Herzstück des Codex, das sogenannte „Wessobrunner Gebet“.
Dieses gliedert sich in zwei Abteilungen: Die erste bildet das älteste bis dato in deutscher Sprache erhaltene Stabreimgedicht, das in 9 Versen nichts weniger als die creatio ex nihilo, die Erschaffung der Welt aus dem Nichts, thematisiert und als „Wessobrunner Schöpfungshymnus“ Bekanntheit erlangt hat.
Stabreim als Versmaß
Als Stabreim wird ein im Germanischen übliches Versmaß bezeichnet. Der Begriff Stab- geht auf das Altnordische stafr zurück, was unter anderem „Laut“ oder auch „Buchstabe“ bedeutet. Diese Reimform basiert auf Alliterationen, eine rhetorische Figur, bei der die betonten Stammsilben aufeinanderfolgender Wörter oder zusammengehörender Wortgruppen über den gleichen Anfangslaut verfügen, wie beispielsweise bei der Redensart „bei Wind und Wetter“. Der Stabreim erfüllt dabei durchaus praktische Zwecke: Sein Ursprung liegt vor dem Einsetzen der Schrift und somit in einer Zeit, in der erzählte Stoffe mündlich tradiert wurden und dadurch bedingt noch keine feste Form erlangt hatten, sondern im Zuge jedes Vortrags neu improvisiert wurden. Um lange und komplexe Geschichten vortragen zu können, bedurfte es gewisser Erinnerungsstützen, die während eines Vortrags als eine Art Skelett fungierten und so die Form wahrten.
An den Hymnus schließt sich ein Prosa-Gebet an, das eigentliche „Wessobrunner Gebet“, dessen Bezeichnung zumeist jedoch auf beide Abschnitte bezogen wird. Hierin bittet das Ich des Textes um den Beistand Gottes und die Ausstattung mit den göttlichen Gaben des Glaubens und der Weisheit, um dem Bösen zu widerstehen und im Sinne des göttlichen Gebotes zu handeln und dieses auf Erden verwirklichen zu können:
Etwas vom Dichter
Das erfuhr ich bei den Menschen │ als das erstaunlichste Wissen:
daß die Erde nicht war │ noch das Firmament,
weder Baum [hier fehlt ein Wort] │ noch Berg,
kein [fehlt wahrscheinlich: Stern] │ und auch die Sonne nicht schien,
noch der Mond leuchtete │ und auch das herrliche Meer nicht war.
Als da nichts existierte │ an Enden und Wenden,
da war der eine │ allmächtige Gott,
das freigebigste aller Wesen, │ und bei ihm waren viele
herrliche (gute) Geister │ Und Gott [ist?] heilig ...
Gott, allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen und den Menschen so viel Gutes gegeben hast, gewähre mir in Deiner Güte rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und das Böse zu meiden und Deinen Willen zu tun (zu wirken).
WER SEINE SÜNDEN NICHT BEREUEN WILL, KOMMT DEREINST DORTHIN, WO SIE IHN NICHT MEHR REUEN KÖNNEN [d.h. wo er sie nicht mehr bereuen kann, weil es zu spät ist] UND ER SICH IHRER NICHT MEHR SCHÄMEN KANN.
(Pörnbacher, Hans [20114]: Das Wessobrunner Gebet. Hg. v. Katholischen Pfarramt St. Johannes der Täufer, Wessobrunn. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, S. 19)
Entstehung und Herkunft
Obwohl das „Wessobrunner Gebet“ als die erste christliche Dichtung in Volkssprache gilt, lassen sich viele Grundfragen zur Entstehung des Textes bisher nicht eindeutig klären. Der mutmaßlich dem Klerus angehörende Autor verfasste den Text wohl zu missionarischen Zwecken einer weniger gebildeten Schicht von Christen. Auch die Entstehungszeit des Gebets lässt sich nicht exakt datieren. Die Trägerhandschrift, der Wessobrunner Codex, wurde im Jahr 814 vollendet, die Entstehung des Gebets selbst wird um 800 verortet. Ihre Namen haben Codex und Gebet nach dem Ort ihrer Provenienz erhalten, dem Benediktinerkloster Wessobrunn im oberbayerischen Landkreis Weilheim-Schongau.
Kloster Wessobrunn gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach einem Kupferstich von Michael Wening
Gegen Wessobrunn als Entstehungsort des Textes sprechen jedoch mehrere Gründe. Wahrscheinlicher ist, dass der Text seinen Ursprung in einem Kloster der Diözese Augsburg hat und von dort aus, wohl als Geschenk, im 11. Jahrhundert in die Obhut des Klosters Wessobrunn übergeben wurde. Im Zuge der Säkularisation wurden in Bayern in den Jahren 1802 und 1803 kirchliche Güter eingezogen und in staatliche Obhut überantwortet. Mit der Aufhebung des Klosters Wessobrunn im Jahre 1803 gelangte so auch der Wessobrunner Codex an die Münchener Hofbibliothek – die Vorgängerinstitution der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek.
Sekundärliteratur:
Montag, Ulrich et al. (2003): Deutsche Literatur des Mittelalters. Handschriften aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München mit Heinrich Wittenwilers Ring als kostbarer Neuerwerbung. Bayerische Staatsbibliothek Schatzkammer 2003. Ausstellung 28. Mai – 24. August 2003 (Kulturstiftung der Länder, Patrimonia 249). München, S. 18f.
Pörnbacher, Hans (20114): Das Wessobrunner Gebet. Hg. v. Katholischen Pfarramt St. Johannes der Täufer, Wessobrunn. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg.
Steinhoff, Hans-Hugo (1998): Wessobrunner Gebet. In: Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. Berlin.
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Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.
Weltbewegendes – unauffällig, aber stilsicher
Einem ahnungslosen Betrachter des Wessobrunner Codex drängt sich dessen eigentliche Sensation nicht unbedingt auf. Mehr noch: Ihm könnte ohne Weiteres entgehen, was sich auf den mittlerweile so prominenten Blättern 65v und 66r verbirgt. Eingebettet in eine ansonsten durchgehend in lateinischer Sprache gehaltenen Handschrift, findet sich dort das eigentliche Herzstück des Codex, das sogenannte „Wessobrunner Gebet“.
Dieses gliedert sich in zwei Abteilungen: Die erste bildet das älteste bis dato in deutscher Sprache erhaltene Stabreimgedicht, das in 9 Versen nichts weniger als die creatio ex nihilo, die Erschaffung der Welt aus dem Nichts, thematisiert und als „Wessobrunner Schöpfungshymnus“ Bekanntheit erlangt hat.
Stabreim als Versmaß
Als Stabreim wird ein im Germanischen übliches Versmaß bezeichnet. Der Begriff Stab- geht auf das Altnordische stafr zurück, was unter anderem „Laut“ oder auch „Buchstabe“ bedeutet. Diese Reimform basiert auf Alliterationen, eine rhetorische Figur, bei der die betonten Stammsilben aufeinanderfolgender Wörter oder zusammengehörender Wortgruppen über den gleichen Anfangslaut verfügen, wie beispielsweise bei der Redensart „bei Wind und Wetter“. Der Stabreim erfüllt dabei durchaus praktische Zwecke: Sein Ursprung liegt vor dem Einsetzen der Schrift und somit in einer Zeit, in der erzählte Stoffe mündlich tradiert wurden und dadurch bedingt noch keine feste Form erlangt hatten, sondern im Zuge jedes Vortrags neu improvisiert wurden. Um lange und komplexe Geschichten vortragen zu können, bedurfte es gewisser Erinnerungsstützen, die während eines Vortrags als eine Art Skelett fungierten und so die Form wahrten.
An den Hymnus schließt sich ein Prosa-Gebet an, das eigentliche „Wessobrunner Gebet“, dessen Bezeichnung zumeist jedoch auf beide Abschnitte bezogen wird. Hierin bittet das Ich des Textes um den Beistand Gottes und die Ausstattung mit den göttlichen Gaben des Glaubens und der Weisheit, um dem Bösen zu widerstehen und im Sinne des göttlichen Gebotes zu handeln und dieses auf Erden verwirklichen zu können:
Etwas vom Dichter
Das erfuhr ich bei den Menschen │ als das erstaunlichste Wissen:
daß die Erde nicht war │ noch das Firmament,
weder Baum [hier fehlt ein Wort] │ noch Berg,
kein [fehlt wahrscheinlich: Stern] │ und auch die Sonne nicht schien,
noch der Mond leuchtete │ und auch das herrliche Meer nicht war.
Als da nichts existierte │ an Enden und Wenden,
da war der eine │ allmächtige Gott,
das freigebigste aller Wesen, │ und bei ihm waren viele
herrliche (gute) Geister │ Und Gott [ist?] heilig ...
Gott, allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen und den Menschen so viel Gutes gegeben hast, gewähre mir in Deiner Güte rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und das Böse zu meiden und Deinen Willen zu tun (zu wirken).
WER SEINE SÜNDEN NICHT BEREUEN WILL, KOMMT DEREINST DORTHIN, WO SIE IHN NICHT MEHR REUEN KÖNNEN [d.h. wo er sie nicht mehr bereuen kann, weil es zu spät ist] UND ER SICH IHRER NICHT MEHR SCHÄMEN KANN.
(Pörnbacher, Hans [20114]: Das Wessobrunner Gebet. Hg. v. Katholischen Pfarramt St. Johannes der Täufer, Wessobrunn. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, S. 19)
Entstehung und Herkunft
Obwohl das „Wessobrunner Gebet“ als die erste christliche Dichtung in Volkssprache gilt, lassen sich viele Grundfragen zur Entstehung des Textes bisher nicht eindeutig klären. Der mutmaßlich dem Klerus angehörende Autor verfasste den Text wohl zu missionarischen Zwecken einer weniger gebildeten Schicht von Christen. Auch die Entstehungszeit des Gebets lässt sich nicht exakt datieren. Die Trägerhandschrift, der Wessobrunner Codex, wurde im Jahr 814 vollendet, die Entstehung des Gebets selbst wird um 800 verortet. Ihre Namen haben Codex und Gebet nach dem Ort ihrer Provenienz erhalten, dem Benediktinerkloster Wessobrunn im oberbayerischen Landkreis Weilheim-Schongau.
Kloster Wessobrunn gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach einem Kupferstich von Michael Wening
Gegen Wessobrunn als Entstehungsort des Textes sprechen jedoch mehrere Gründe. Wahrscheinlicher ist, dass der Text seinen Ursprung in einem Kloster der Diözese Augsburg hat und von dort aus, wohl als Geschenk, im 11. Jahrhundert in die Obhut des Klosters Wessobrunn übergeben wurde. Im Zuge der Säkularisation wurden in Bayern in den Jahren 1802 und 1803 kirchliche Güter eingezogen und in staatliche Obhut überantwortet. Mit der Aufhebung des Klosters Wessobrunn im Jahre 1803 gelangte so auch der Wessobrunner Codex an die Münchener Hofbibliothek – die Vorgängerinstitution der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek.
Montag, Ulrich et al. (2003): Deutsche Literatur des Mittelalters. Handschriften aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München mit Heinrich Wittenwilers Ring als kostbarer Neuerwerbung. Bayerische Staatsbibliothek Schatzkammer 2003. Ausstellung 28. Mai – 24. August 2003 (Kulturstiftung der Länder, Patrimonia 249). München, S. 18f.
Pörnbacher, Hans (20114): Das Wessobrunner Gebet. Hg. v. Katholischen Pfarramt St. Johannes der Täufer, Wessobrunn. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg.
Steinhoff, Hans-Hugo (1998): Wessobrunner Gebet. In: Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. Berlin.