Die jungen Autorinnen Luise Maier und Lara Hampe bloggen einen Briefroman (22)
Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet Lara Hampe auf den letzten Brief von Luise Maier. Sie ist 1994 geboren, in München und Paris aufgewachsen und hat bereits mehrere literarische Texte publiziert. 2014 las sie beim Open Mike, 2015 war sie Teilnehmerin des Klagenfurter Literaturkurses. Dort lernte sie auch Luise Maier kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
*
Liebe Luise, du,
auf dem Heimweg bin ich dann noch bei der Strudlhofstiege vorbei:
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
So wie ich mich an dich wende, schreibe ich einmal einen Brief. Ich beginne den Brief mit: Lieber, du.
Ich streiche durch; nein, ich streiche nicht durch, ich lösche, ich schreibe nicht mit der Hand, weil er meine Schrift nicht lesen kann; er sagte zwar, das sei doch schön, so ein verkrakelter Brief, so habe man mehr davon, man könne ihn einmal lesen und noch einmal, mehrmals. Aber schon wie er es sagt, ist mir der Gedanke zuwider geworden: dass er da sitzen muss, an seinem Schreibtisch vielleicht, hat er sich den Brief bis in den dritten Stock aufgespart, oder hat er ihn aus dem Briefkasten genommen und mit dem Zeigefinger aufgeschlitzt, und ihn, die steilen Treppen nehmend, gelesen?, und also meine Schrift entziffern muss, weil ich sie, schnell rauschend, nicht entworren habe, weil sonst etwas anderes dagestanden hätte. Einen Liebesbrief nicht lesen können, das ist mir eine zu dumme Geschichte, also tippe ich fortan in Helvetica. Auf der Hälfte bemerke ich, dass Helvetica die voreingestellte Schrift des Schreibprogramms ist, und eigentlich stört mich das nicht, es hat mich letzte Woche auch nicht gestört, nicht beim Erstverfassen der Antwort an Frau Amelie Stelzl, Vertreterin der Wohngesellschaft für Block A bis H, auch nicht an Frau Turek, Betreffzeile: „Kontoauflösung zeitnah“ und nicht einmal an meine Mutter, die mir einen Link geschickt hatte zu einem Beitrag der Sendung „Radiowelt“, doch nun befällt mich die plötzliche Ahnung, dass dies nicht genug ist, dass Helvetica einfach nicht reicht, obwohl sie sich schnell tippen lässt, und das, was ich geschrieben habe und nun noch einmal lese, ernst nimmt.
Ich probiere es mit Garamond-Antiqua, und weil sie mir so vertraut vorkommt, so leichtfüßig und schwermütig zugleich, und ich aber die Wirkung von außen nicht einzuschätzen weiß oder vielmehr mir ein Vergleichen vom Inhalt zu ebendiesem Schriftbild schier unmöglich erscheint, lese ich nach:
„Garamond Antiqua, entstanden aus der karolingischen Minuskel-Schrift, um 800 (Schriftbild relativ rund, ausschließlich Kleinbuchstaben), die sich Mitte des 12. Jahrhunderts zum gotischen Minuskel wandelte – Bögen wurden zu Ecken, Ecken wurden zur gebrochenen Schrift, genannt Frakturschrift. Während des 15. Jahrhunderts —
Siehe: Renaissance-Humanismus.
Siehe Petrarca (vergleiche hierzu: selbstbewusst, auf Kritik empfindlich und schnell zu maßloser Polemik gegen wirkliche oder vermeintliche Neider und Feinde bereit; siehe weiter: Bewunderung der griechischen Kultur bei bescheidenen Griechischkenntnissen).
Siehe Rhetorik als Zentraldisziplin!
Siehe wilde, tote Landschaft!
Siehe: Wilde, Tote, Landschaft. — beschäftigten sich die Gelehrten viel mit der Antike. Hierzu lasen sie die Abschriften von antiken Texten, welche häufig in karolingischer Minuskel geschrieben waren. Sie hielten die karolingische Minuskel für eine antike Schrift. Eine andere Schrift, mit der die Gelehrten damals viel zu tun hatten, war die tatsächlich antike und nur aus Großbuchstaben bestehende „Capitalis Monumentalis“. Sie kombinierten die vermeintlich antike karolingische Minuskel mit der antiken
Capitalis Monumentalis.
Schon kurze Zeit später, 1540, schuf der Franzose Claude Garamond eine Schrift, die heute noch zu den meistverwendeten Schriften für Mengentext gehört, die französische Renaissance-Antiqua „Garamond“. Die Antiqua verbreitete sich rasch in Europa – mit einer Ausnahme. In Deutschland tat man sich aus verschiedenen Gründen schwer mit der neuen Schrift. Kurz vor dem Auftreten der Antiqua hatte Gutenberg den Buchdruck erfunden und eine gebrochene Schrift entwickelt. Dadurch hatte die Antiqua schlechte Startbedingungen. Von Gutenbergs Schrift ausgehend wurde die gebrochene Schrift weiterentwickelt, bis viele Leute dachten, die Fraktur sei eine Schrift deutscher Herkunft. Dass sie ursprünglich aus Frankreich kam, interessierte niemanden mehr, und so nannte man die Fraktur „deutsche Schrift“ und die Antiqua „lateinische Schrift“, da auch in Deutschland lateinische Texte stets in Antiqua gesetzt wurden.
Es entstand ein regelrechter Antiqua-Fraktur-Streit in Deutschland. Man weiß nicht ganz, ob man über diesen Streit lachen oder weinen soll.
Siehe: Man weiß nicht ganz, ob man lachen oder weinen soll.
Siehe: Man weiß nicht, ob man lacht oder weint.
Siehe: Man weiß nicht, was jetzt schlimmer ist, lachen oder weinen.
Siehe: Weinen, weil man weiß, dass einen jemand beobachtet.
Nachdem also beide Schriften nebeneinander benutzt wurden, war es durchaus denkbar, dass die Fraktur im Laufe der Zeit durch die Antiqua verdrängt würde. Doch dazu kam es lange Zeit nicht.
Siehe: Man weiß nicht, wie lange es dazu nicht kam.
Siehe: Man weiß jetzt nichts mehr. Lieber, du.
Siehe: Lieber, du, ich möchte einmal ein Stück sehen, in dem ein Mann abendfüllend weint.
Erst war es Napoleon, von dem man sich mit der „deutschen“ Schrift abgrenzen wollte.
Siehe: Abgrenzung.
Siehe: Vorhang.
Siehe: Theater.
Siehe: Liebe, du, und in dem Stück gibt es, wie gewohnt, keinen Vorhang, der am Ende fallen könnte.
Aber auch ohne ihn fanden Nationalisten immer wieder Gründe dafür, dass die Fraktur als Schrift für deutsche Texte beibehalten wurde. Berühmte Menschen, die die Umstellung auf die Antiqua befürwortet haben, waren Goethe und die Gebrüder Grimm.“
__ 17.10.16
Den bisherigen Briefwechsel lesen Sie hier:
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Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet Lara Hampe auf den letzten Brief von Luise Maier. Sie ist 1994 geboren, in München und Paris aufgewachsen und hat bereits mehrere literarische Texte publiziert. 2014 las sie beim Open Mike, 2015 war sie Teilnehmerin des Klagenfurter Literaturkurses. Dort lernte sie auch Luise Maier kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
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Liebe Luise, du,
auf dem Heimweg bin ich dann noch bei der Strudlhofstiege vorbei:
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
So wie ich mich an dich wende, schreibe ich einmal einen Brief. Ich beginne den Brief mit: Lieber, du.
Ich streiche durch; nein, ich streiche nicht durch, ich lösche, ich schreibe nicht mit der Hand, weil er meine Schrift nicht lesen kann; er sagte zwar, das sei doch schön, so ein verkrakelter Brief, so habe man mehr davon, man könne ihn einmal lesen und noch einmal, mehrmals. Aber schon wie er es sagt, ist mir der Gedanke zuwider geworden: dass er da sitzen muss, an seinem Schreibtisch vielleicht, hat er sich den Brief bis in den dritten Stock aufgespart, oder hat er ihn aus dem Briefkasten genommen und mit dem Zeigefinger aufgeschlitzt, und ihn, die steilen Treppen nehmend, gelesen?, und also meine Schrift entziffern muss, weil ich sie, schnell rauschend, nicht entworren habe, weil sonst etwas anderes dagestanden hätte. Einen Liebesbrief nicht lesen können, das ist mir eine zu dumme Geschichte, also tippe ich fortan in Helvetica. Auf der Hälfte bemerke ich, dass Helvetica die voreingestellte Schrift des Schreibprogramms ist, und eigentlich stört mich das nicht, es hat mich letzte Woche auch nicht gestört, nicht beim Erstverfassen der Antwort an Frau Amelie Stelzl, Vertreterin der Wohngesellschaft für Block A bis H, auch nicht an Frau Turek, Betreffzeile: „Kontoauflösung zeitnah“ und nicht einmal an meine Mutter, die mir einen Link geschickt hatte zu einem Beitrag der Sendung „Radiowelt“, doch nun befällt mich die plötzliche Ahnung, dass dies nicht genug ist, dass Helvetica einfach nicht reicht, obwohl sie sich schnell tippen lässt, und das, was ich geschrieben habe und nun noch einmal lese, ernst nimmt.
Ich probiere es mit Garamond-Antiqua, und weil sie mir so vertraut vorkommt, so leichtfüßig und schwermütig zugleich, und ich aber die Wirkung von außen nicht einzuschätzen weiß oder vielmehr mir ein Vergleichen vom Inhalt zu ebendiesem Schriftbild schier unmöglich erscheint, lese ich nach:
„Garamond Antiqua, entstanden aus der karolingischen Minuskel-Schrift, um 800 (Schriftbild relativ rund, ausschließlich Kleinbuchstaben), die sich Mitte des 12. Jahrhunderts zum gotischen Minuskel wandelte – Bögen wurden zu Ecken, Ecken wurden zur gebrochenen Schrift, genannt Frakturschrift. Während des 15. Jahrhunderts —
Siehe: Renaissance-Humanismus.
Siehe Petrarca (vergleiche hierzu: selbstbewusst, auf Kritik empfindlich und schnell zu maßloser Polemik gegen wirkliche oder vermeintliche Neider und Feinde bereit; siehe weiter: Bewunderung der griechischen Kultur bei bescheidenen Griechischkenntnissen).
Siehe Rhetorik als Zentraldisziplin!
Siehe wilde, tote Landschaft!
Siehe: Wilde, Tote, Landschaft. — beschäftigten sich die Gelehrten viel mit der Antike. Hierzu lasen sie die Abschriften von antiken Texten, welche häufig in karolingischer Minuskel geschrieben waren. Sie hielten die karolingische Minuskel für eine antike Schrift. Eine andere Schrift, mit der die Gelehrten damals viel zu tun hatten, war die tatsächlich antike und nur aus Großbuchstaben bestehende „Capitalis Monumentalis“. Sie kombinierten die vermeintlich antike karolingische Minuskel mit der antiken
Capitalis Monumentalis.
Schon kurze Zeit später, 1540, schuf der Franzose Claude Garamond eine Schrift, die heute noch zu den meistverwendeten Schriften für Mengentext gehört, die französische Renaissance-Antiqua „Garamond“. Die Antiqua verbreitete sich rasch in Europa – mit einer Ausnahme. In Deutschland tat man sich aus verschiedenen Gründen schwer mit der neuen Schrift. Kurz vor dem Auftreten der Antiqua hatte Gutenberg den Buchdruck erfunden und eine gebrochene Schrift entwickelt. Dadurch hatte die Antiqua schlechte Startbedingungen. Von Gutenbergs Schrift ausgehend wurde die gebrochene Schrift weiterentwickelt, bis viele Leute dachten, die Fraktur sei eine Schrift deutscher Herkunft. Dass sie ursprünglich aus Frankreich kam, interessierte niemanden mehr, und so nannte man die Fraktur „deutsche Schrift“ und die Antiqua „lateinische Schrift“, da auch in Deutschland lateinische Texte stets in Antiqua gesetzt wurden.
Es entstand ein regelrechter Antiqua-Fraktur-Streit in Deutschland. Man weiß nicht ganz, ob man über diesen Streit lachen oder weinen soll.
Siehe: Man weiß nicht ganz, ob man lachen oder weinen soll.
Siehe: Man weiß nicht, ob man lacht oder weint.
Siehe: Man weiß nicht, was jetzt schlimmer ist, lachen oder weinen.
Siehe: Weinen, weil man weiß, dass einen jemand beobachtet.
Nachdem also beide Schriften nebeneinander benutzt wurden, war es durchaus denkbar, dass die Fraktur im Laufe der Zeit durch die Antiqua verdrängt würde. Doch dazu kam es lange Zeit nicht.
Siehe: Man weiß nicht, wie lange es dazu nicht kam.
Siehe: Man weiß jetzt nichts mehr. Lieber, du.
Siehe: Lieber, du, ich möchte einmal ein Stück sehen, in dem ein Mann abendfüllend weint.
Erst war es Napoleon, von dem man sich mit der „deutschen“ Schrift abgrenzen wollte.
Siehe: Abgrenzung.
Siehe: Vorhang.
Siehe: Theater.
Siehe: Liebe, du, und in dem Stück gibt es, wie gewohnt, keinen Vorhang, der am Ende fallen könnte.
Aber auch ohne ihn fanden Nationalisten immer wieder Gründe dafür, dass die Fraktur als Schrift für deutsche Texte beibehalten wurde. Berühmte Menschen, die die Umstellung auf die Antiqua befürwortet haben, waren Goethe und die Gebrüder Grimm.“
__ 17.10.16
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