Die jungen Autorinnen Luise Maier und Lara Hampe bloggen einen Briefroman (21)
Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet wieder Luise Maier auf den letzten Brief. Sie ist 1991 in Oberösterreich geboren, aufgewachsen in Niederbayern und lebt heute in Biel. Ihren ersten Roman hat sie eben abgeschlossen. Im Juni 2015 war sie Stipendiatin des Literaturkurses in Klagenfurt. Dort lernte sie auch Lara Hampe kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
*
1.10.2016
Liebe Lara
Ich kannte mal ein Kind, das wollte immerzu schaukeln. Zuerst dachten sich seine Eltern nichts dabei, aber irgendwann war es zu auffällig: Immer, wenn das Kind in seiner Wippe lag oder in den Armen der Eltern hin- und hergeschaukelt wurde, war es ruhig. Sobald man es auf einen stabilen Untergrund legte, fing es an zu jammern und zu schreien. Der Vater baute eine elektrische Wippe, kaufte drei verschiedene Schaukelpferde und baute – als das Kind schon größer war – eine Schaukel in den Garten. Die Nachbarn beschwerten sich, denn für ihr Empfinden war die Schaukel zu groß. Sie sagten, dass das Kind nur schaukeln würde, um in ihren Garten zu gaffen. Der Vater riss die große Schaukel wieder ab und baute eine kleinere. Als das Kind in die Schule kam, beschwerte sich der Lehrer, dass das Kind immer mit dem Stuhl schaukeln und damit den Unterricht stören würde, er bestellte den Vater in seine Sprechstunde und sagte: „Ihr Kind hat ADHS.“ Der Vater erklärte dem Lehrer, dass sein Kind schaukeln müsse, um glücklich zu sein. Der Lehrer verstand das nicht und verwies das Kind auf eine andere Schule. Dort ließ man es schaukeln, so viel es wollte. Sie wussten, es würde nicht umkippen. Das Kind wippte immer am richtigen Punkt nach vorne, oder zurück, je nachdem.
Das Kind wuchs heran, pendelte sich durch verschiedene Klassenzimmer und Schaukeln, schaukelte durch Kindheit und Pubertät. Es war ein schönes Kind mit langen Wimpern und großen Augen, schwarzen Haaren und einer gesunden Größe von einem Meter vierundsiebzig im ausgewachsenen Zustand. Nur auf seiner Brust vorne und am Rücken hinten wuchs mit der Zeit eine Wölbung heran, die sich zuerst niemand erklären konnte. Der Vater ging mit dem Kind zu zwölf verschiedenen Ärzten, bis endlich ein gewisser Dr. Thomen feststellte, dass das Kind ein Pendelherz hätte: es pendelte mit dem einem Schlag vor und mit dem nächsten zurück und mit der Zeit hatte es so den Brustkorb ausgehöhlt. „Deswegen muss Ihr Kind immerzu schaukeln“, erklärte der Arzt, der aussah als würde er frisch aus der Sauna kommen, so rosa war seine Haut. „Es gleicht damit seinen Herzschlag aus.“ Und nach einer kurzen Pause sagte er: „Das können wir richten.“ Er schob ein laminiertes Blatt von seiner Seite des Schreibtisches auf die Seite, an der der Vater und das Kind saßen. Auf dem Blatt war das menschliche Herz abgebildet und der Arzt fuhr mit der Spitze seines silbernen Kugelschreibers über die Abbildung und erklärte dabei, wo man das Herz des Kindes abschneiden und wo wieder zusammennähen, wo man es zusammendrücken und wo ausdehnen musste, wo man es womöglich mit einem kleinen Faden und zwei, drei Schrauben festmachen könnte und wie man die Luft aus der Wölbung im Brustraum saugen würde. „So“, sagte der Arzt. „Und nach dieser circa zwölfstündigen Operation haben Sie dann ein normales Kind und können all die Schaukeln endlich auf den Sperrmüll geben.“
Ich kannte mal ein Kind, das starb bei einer Herzoperation, weil ein gewisser Dr. Thomen versuchte, den Herzschlag mit einem kleinen Faden und zwei, drei Schrauben festzunageln, sodass das Herz, das es nicht gewohnt war, nicht zu pendeln, noch während der Operation aufhörte, zu schlagen.
Den bisherigen Briefwechsel lesen Sie hier:
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Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet wieder Luise Maier auf den letzten Brief. Sie ist 1991 in Oberösterreich geboren, aufgewachsen in Niederbayern und lebt heute in Biel. Ihren ersten Roman hat sie eben abgeschlossen. Im Juni 2015 war sie Stipendiatin des Literaturkurses in Klagenfurt. Dort lernte sie auch Lara Hampe kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
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1.10.2016
Liebe Lara
Ich kannte mal ein Kind, das wollte immerzu schaukeln. Zuerst dachten sich seine Eltern nichts dabei, aber irgendwann war es zu auffällig: Immer, wenn das Kind in seiner Wippe lag oder in den Armen der Eltern hin- und hergeschaukelt wurde, war es ruhig. Sobald man es auf einen stabilen Untergrund legte, fing es an zu jammern und zu schreien. Der Vater baute eine elektrische Wippe, kaufte drei verschiedene Schaukelpferde und baute – als das Kind schon größer war – eine Schaukel in den Garten. Die Nachbarn beschwerten sich, denn für ihr Empfinden war die Schaukel zu groß. Sie sagten, dass das Kind nur schaukeln würde, um in ihren Garten zu gaffen. Der Vater riss die große Schaukel wieder ab und baute eine kleinere. Als das Kind in die Schule kam, beschwerte sich der Lehrer, dass das Kind immer mit dem Stuhl schaukeln und damit den Unterricht stören würde, er bestellte den Vater in seine Sprechstunde und sagte: „Ihr Kind hat ADHS.“ Der Vater erklärte dem Lehrer, dass sein Kind schaukeln müsse, um glücklich zu sein. Der Lehrer verstand das nicht und verwies das Kind auf eine andere Schule. Dort ließ man es schaukeln, so viel es wollte. Sie wussten, es würde nicht umkippen. Das Kind wippte immer am richtigen Punkt nach vorne, oder zurück, je nachdem.
Das Kind wuchs heran, pendelte sich durch verschiedene Klassenzimmer und Schaukeln, schaukelte durch Kindheit und Pubertät. Es war ein schönes Kind mit langen Wimpern und großen Augen, schwarzen Haaren und einer gesunden Größe von einem Meter vierundsiebzig im ausgewachsenen Zustand. Nur auf seiner Brust vorne und am Rücken hinten wuchs mit der Zeit eine Wölbung heran, die sich zuerst niemand erklären konnte. Der Vater ging mit dem Kind zu zwölf verschiedenen Ärzten, bis endlich ein gewisser Dr. Thomen feststellte, dass das Kind ein Pendelherz hätte: es pendelte mit dem einem Schlag vor und mit dem nächsten zurück und mit der Zeit hatte es so den Brustkorb ausgehöhlt. „Deswegen muss Ihr Kind immerzu schaukeln“, erklärte der Arzt, der aussah als würde er frisch aus der Sauna kommen, so rosa war seine Haut. „Es gleicht damit seinen Herzschlag aus.“ Und nach einer kurzen Pause sagte er: „Das können wir richten.“ Er schob ein laminiertes Blatt von seiner Seite des Schreibtisches auf die Seite, an der der Vater und das Kind saßen. Auf dem Blatt war das menschliche Herz abgebildet und der Arzt fuhr mit der Spitze seines silbernen Kugelschreibers über die Abbildung und erklärte dabei, wo man das Herz des Kindes abschneiden und wo wieder zusammennähen, wo man es zusammendrücken und wo ausdehnen musste, wo man es womöglich mit einem kleinen Faden und zwei, drei Schrauben festmachen könnte und wie man die Luft aus der Wölbung im Brustraum saugen würde. „So“, sagte der Arzt. „Und nach dieser circa zwölfstündigen Operation haben Sie dann ein normales Kind und können all die Schaukeln endlich auf den Sperrmüll geben.“
Ich kannte mal ein Kind, das starb bei einer Herzoperation, weil ein gewisser Dr. Thomen versuchte, den Herzschlag mit einem kleinen Faden und zwei, drei Schrauben festzunageln, sodass das Herz, das es nicht gewohnt war, nicht zu pendeln, noch während der Operation aufhörte, zu schlagen.
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