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Von Musen und Museen

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Kulturallmende-Leiterin Verena Nolte vor dem Kunstmuseum Dnipro. Foto: Judith Leister

Zum zweiten Mal beginnt Kulturallmende das Literaturprojekt Eine Brücke aus Papier mit einem mehrtägigen deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen. Als Ort wurde diesmal Dnipro im Osten der Ukraine ausgewählt. Die Münchner Kulturjournalistin und Projekt-Mitkuratorin Judith Leister erzählt in Blogs von ihren Beobachtungen in der hierzulande nahezu unbekannten Millionenstadt – vom Treffen selbst. Näheres zum Projekt finden Sie hier ...

Im Literaturmuseum Dnipro hat einmal Puschkin gewohnt und sich von einer Räuberpistole inspirieren lassen. Im Kunstmuseum gäbe es viel zu sehen, aber nur ein Bruchteil des Bestands wird tatsächlich gezeigt.

Man könnte sagen, dass die Künste Dnipro in die Gene gelegt wurden. Zarin Katharina, die ihren Beinamen „die Große“ übrigens dem Aufklärer Voltaire verdankt, und Fürst Potjomkin wollten nämlich eine „schöne“ Stadt bauen. Die nach Petersburg und Moskau drittwichtigste Stadt des Reiches sollte die Bürger durch Architektur, Kunst und Musik inspirieren, die weitläufigen Parks sollten ihnen Erholung bieten. Dass die Antike das Vorbild dafür stellte, sieht man noch heute an den tempelähnlichen Bauten mit Säulen und Giebeln, die das Stadtbild prägen. Dnipro ist ein Freilichtmuseum der Architektur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts – zumindest dort, wo es nicht mit raketenförmigen Hochhäusern in die Zukunft strebt. In den von der Schwerkraft gedrückten Häusern finden sich Perlen eigener Art, Museen mit außerordentlichen Sammlungen. Aber nicht alle sind leicht zu finden. Und nicht alle haben Besucher.

Das Literaturmuseum liegt zwar prominent am Hauptprospekt, wendet ihm aber fast beleidigt den Rücken zu. Die frühere Villa des Generals Insow ist nämlich älter als der Prospekt. Es war eines der ersten Steinhäuser der Stadt und lag früher in einem Park. General Insow ist heute vor allem noch bekannt, weil er im Jahr 1820 zwei Wochen lang Gastgeber Alexander Puschkins war. Das aufmüpfige Genie war wegen eines Spottgedichts nach Jekaterinoslaw strafversetzt worden. Hier schrieb Puschkin das Poem Die Räuberbrüder, angeregt von der Flucht zweier Räuber aus dem Gefängnis. Darin fleht ein Räuber seinen Bruder im Fieberwahn um Gnade für einen Greis an, den die beiden einst ermordeten – woraufhin der Ältere keine Greise mehr umbringen kann. Puschkin sagte über sein Poem ganz zu Recht: „Als Sujet – c’est un tour de force. Aber was den Stil betrifft, habe ich nichts Besseres geschrieben.

Mit Puschkin ist es ein bisschen wie mit Goethe. Auch er war fast überall. Foto: Kulturallmende

Das Museum zeigt Fotos, Manuskripte und Interieurs der ukrainischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, die oft mit den ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen, der Befreiung einer unterdrückten Sprache und Literatur, zu tun haben. Vom Pickwick-Club im Gefolge von Dickens, der Zeitschrift Die Steppe und einigen Avantgardisten des 20. Jahrhunderts reichen die Eindrücke bis zum „Sozrealismus“. Über Puschkin findet man außer dem Halbrelief mit Porträt am Eingang nicht mehr viel. Falls man im Museum jemals Pläne gehegt haben sollte, den Innenhof zu begrünen, dann haben diese sich spätestens mit der Eröffnung eines Supermarkts nebenan zerschlagen. Denn die Anlieferung der Lebensmittel erfolgt über den Hof. Jetzt zittert das ehrwürdige Gemäuer tagsüber unter den Vibrationen der Dieselmotoren.

Die meisten kommen aus Europa: Besucherstatistik im Kunstmuseum Dnipro. Foto: Judith Leister

In einer Parallelstraße zum Hauptprospekt liegt das Kunstmuseum Dnipro. Aus dem Kassenhäuschen eilt eine freundliche Dame mit einer Schachtel Pin-Nadeln auf uns zu. Wir möchten bitte auf der Landkarte markieren, woher wir kommen. Wir setzen also einen weiteren Piekser im dicht bepinnten Mitteleuropa. Im großen rosafarbenen Russland steckt keine einzige Nadel. Wurde die Karte erst nach Beginn des Ukraine-Krieg angebracht? Das Kunstmuseum hat nämlich eine lange Tradition. Den Grundstock seiner Sammlung verdankt es einer Initiative der „Wissenschaftlichen Gesellschaft Jekaterynoslaw“ aus dem Jahr 1914. Es muss ein Bildungsverein des selbstbewussten Bürgertums gewesen sein, der mit der Revolution unterging. Die erste Ausstellung fand im früheren Palast Potjomkins statt. Eine Zeitlang residierte das Museum auch im späteren „Hotel Ukraina“.

Multifunktionshalle aus dem 18. Jahrhundert: Der frühere Gouverneurspalast Potjomkins und heutige Studentenpalast diente auch einmal als Ausstellungshalle. Foto: Judith Leister

Heute sollen mehrere tausend europäische Kunstwerke aus dem 16. bis 21. Jahrhundert im Besitz des Kunstmuseums sein. Der ukrainische Gelehrte Dmytro Jawornizky spendete aus seiner Sammlung hinzu; aus der Eremitage und der Tretjakow-Galerie kamen weitere Ergänzungen. Darunter sind Gemälde und Skulpturen von Schischkin, Borovikovskiy, Lewitan, Korowin, Repin, Serow, sogar der avantgardistische Künstlermaler David Burljuk ist vertreten. Als Prunkstück gilt Marie Baschkirtsews Im Atelier (1881). Die junge Adelige aus dem Kreis Poltawa hatte in Paris als Malerin reüssiert. Zu Gesicht bekommt man von den reichen Schätzen des Kunstmuseums allerdings nur rund hundert Gemälde, von der Ikonenmalerei über Monumentalgemälde und Herrscherporträts sowie die ortstypische Petrykiwka-Blumenmalerei bis zur New-Age-Romantik ukrainischer Zeitgenossen.

Fragender Blick einer weltoffenen jungen Frau: Marie Baschkirtsews Im Atelier (1881). Foto: Judith Leister

Es sagt viel über den Kassenstand des Museums aus, dass vor uns das Licht an- und nach uns wieder ausgeschaltet wird. Eine kleine Dame mit rot-schwarzem Haar weicht nicht von meiner Seite, erklärt mir vor dem Porträt Peters des Großen, dass dieser zwei Meter groß war, weshalb es mit dem Inkognito-durchs-Land-Reisen nicht so gut klappte, vor dem Abschied des Soldaten, dass der Militärdienst unter dem Zaren auch einmal mehrere Jahrzehnte dauern konnte, und flüstert beziehungsreich „Ajwasowskij“, als wir zu einem Bild des Marinemalers kommen. Dessen Werke fahren bei Auktionen Millionen ein, weil sie speziell bei Russen als sichere Geldanlage gelten. Unten am Ausgang erwartet uns schon die nette Dame aus dem Kassenhäuschen und berät uns zu einigen anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Kriegsdienst als jahrzehntelanger Abschied von zuhause: Gemälde im Kunstmuseum Dnipro. Foto: Judith Leister

 

Judith Leister lebt in München. Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Osteuropa ist als freie Kulturjournalistin für NZZ, F.A.Z., Deutschlandfunk, SWR2 und SR2 tätig.

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