Siegertext der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo
Die Schriftstellerin, Publizistin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo wurde im Jahr 2016 mit dem 40. Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Die gebürtige Britin lebt heute in Berlin und erhielt die Auszeichnung für ihren Text Herr Gröttrup setzt sich hin, in dem sie sich satirisch mit dem Frühstücksritual eines deutschen Ehepaares auseinandersetzt – und so mit der Mentalität eines ganzen Landes. Wer die Lesung versäumt hat, kann den Siegertext nun noch einmal nachlesen. Wir veröffentlichen ihn ungekürzt.
*
Herr Gröttrup setzt sich hin
Von Sharon Dodua Otoo
Bitte sorgen Sie dafür, dass Sie bequem auf Ihrem Platz sitzen. Es sollte Ihnen weder zu heiß noch zu kalt sein. Kratzen Sie sich ruhig am linken Ellenbogen, wenn Ihnen danach ist. Wenn Sie husten oder niesen müssen, wäre jetzt die angemessene Zeit dafür. Die Geschichte sollten Sie ausgedruckt in Ihrer rechten Hand halten. Heben Sie langsam Ihre linke Hand,und halten Sie schließlich damit Ihr linkes Auge zu. Nun können Sie anfangen zu lesen.
Er wusste es genau, deswegen war jegliche weitere Diskussion vollkommen unnötig: Er hatte ganz einfach recht. Die Lippen fest zusammengepresst blieb er neben dem Herd stehen, schaute mit leicht hochgezogenen Augenbrauen weiter selbstgefällig auf die Armbanduhr und beschloss, keinen Unsinn mehr zu dulden.
Also seufzte Frau Gröttrup.
Gleichzeitig nahm sie ein Ei aus dem Topf, dann das zweite und schreckte beide mit ein paar gekonnten Handgriffen ab. Die Stille in der Küche war inzwischen messerscharf. Abgesehen von dem Blubbern des kochenden Wassers war nur noch das Atmen zweier Menschen zu hören. Person Nummer zwei, Frau Gröttrup, stöhnte mehrmals – aber ganz leise und fast unauffällig. Person Nummer eins war Herr Gröttrup. Er nickte, während er durch die Nase atmete: tief ein, tief aus.
Helmut Gröttrup, achtundsiebzig Jahre alt, einundneunzig Kilogramm, ein Meter dreiundachtzig, war deutscher Ingenieur (Raketenspezialist, seit neun Jahren pensioniert), Erfinder und Schach-Genie. Die wochenendlichen Radtouren musste er bedauerlicherweise vor zwei Jahren sein lassen, weil er es mit dem Knie hatte. Inzwischen genoss er seinen neuen Status als regelmäßiger Sonntagsfahrer. Gleich nach der Kirche kutschierte er gerne, samt Frau und Wackeldackel, stundenlang die Hauptstraßen entlang, „Im Frühtau zu Berge“ singend, während ihre Hand auf seinem Oberschenkel lag. Er freute sich über die Pünktlichkeit der Regionalbahn, die schattigen Stellen in seinem Schrebergarten während des Hochsommers und die kleine, verlässliche Flasche Underberg am Ende des Tages. Er fand bei Rot über die Ampel gehende Jugendliche, das Anglisieren des Genitivs und das Einfach-drauflos-duzen weniger gut. Wenn jemensch ihn in seiner Gegenwart als „Christ“ bezeichnet hätte, hätte er „mit Verlaub“ korrigiert: Er war überzeugter Protestant. Wenn jemensch ihn allerdings als „Cis-Mann“ bezeichnet hätte, hätte er vor lauter Irritation bestimmt die Augen zusammengekniffen. Und wenn jemensch ihn als „weiß“ bezeichnet hätte, hätte er dies entweder als Synonym für „deutsch“ aufgefasst oder sich gefragt, ob dies als Beleidigung zu verstehen war. Oder beides.
Eine Frage der Tagesverfassung.
Seine über die Jahre im Wesentlichen gleich gebliebene Morgenroutine würde heute bald mit Beginn des gemeinsamen Frühstücks – genauer gesagt, mit dem Essen des Eis – enden. Normalerweise war sie, Frau Gröttrup, die Chefin der Küche, und seine Aufgaben waren es, die Post hereinzuholen, die Außentemperatur zu kontrollieren und die Schuhe zu putzen. Die Aufteilung fand er eigentlich passend, doch in letzter Zeit erlaubte sich seine Ehefrau einige kleine Fehltritte, die dazu führten, dass er nun alles haargenau kontrollieren musste. Sie war einfach nicht so konzentriert bei der Sache wie er. Und so kam es, dass er jeden Morgen ungefähr acht Minuten zusätzlich einplante, um auch kurz am Herd stehenzubleiben. Das hatte sich in letzter Zeit als sehr gewinnbringend herausgestellt.
Jetzt konnte er sich aber endlich an den Frühstückstisch setzen, da anscheinend alles in Ordnung war. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Herr Gröttrup gefasst und zufrieden aus der Küche zurück ins Esszimmer. Er hatte zwar kurz überlegt, Frau Gröttrup, die gewiss nicht so stark war wie er, auch noch mit dem Tragen des Tabletts zu unterstützen, entschied sich aber dagegen, da er ihr heute Morgen wirklich genug beratend zur Seite gestanden hatte.
Frau Gröttrup ging hinter Herrn Gröttrup her. Auf einem kleinen Tablett balancierte sie dabei die Butter, die Milch, den Gouda, drei Tomaten, den Orangensaft (frisch gepresst), das Besteck, zwei Gläser, zwei Kaffeetassen und eben die Eier. Brot, Salz und Pfeffer standen bereits auf dem Tisch. Sie würde für die Kaffeekanne, die Teller und den Zucker noch einmal zurück in die Küche gehen müssen. Ihre Hände zitterten, weil das Tablett eigentlich ein bisschen zu schwer für sie war. Doch seitdem er angefangen hatte, schon abends seine Kleidung zurecht zulegen, war es morgens Frau Gröttrup viel lieber, allein das Frühstück zum Tisch zu bringen.
Es klapperte ein wenig, als sie das Tablett auf den Tisch stellte, doch kippte nichts um. Sie war in ihrem Leben mehr als einmal ermahnt worden, extra darauf zu achten. Herr Gröttrup betrachtete trotzdem das ganze Geschehen kritisch – was Frau Gröttrup natürlich noch zittriger hätte machen können. Weil sie sich aber auch auf das Frühstücksei heute Morgen besonders freute (allein – aus anderen Gründen als Herr Gröttrup), fiel es ihr nicht auf. Nachdem sie das Tablett leer geräumt hatte, lief sie noch einmal los. Frau Gröttrup kam ein zweites Mal ins Esszimmer, jetzt mit den restlichen Sachen. Inzwischen lag auch die heutige Ausgabe des Merkurs auf dem Tisch: Herr Gröttrup las mit sichtlich großer Freude vom langersehnten Umbau der Münchner Stadtbibliothek. Es duftete angenehm nach heißem Kaffee und frisch gebackenem Brot. Frau Gröttrup interessierte sich weder für Zeitungen noch Stadtbibliotheken. Hätte Herr Gröttrup darüber nachgedacht, hätte er festgestellt, dass er überhaupt nicht mehr wusste, wofür sie sich interessierte. Sie stellte Teller auf den Tisch – einen vor ihn, einen vor sich –, bevor sie sich dann auch endlich hinsetzte. Genau in dem Moment schlugen die Glocken sieben Uhr dreißig, als wäre alles perfekt inszeniert. Während Frau Gröttrup die Eier in die Eierbecher stellte und einen auf seinem Teller, einen auf ihrem Teller platzierte, griff Herr Gröttrup, ohne aufzusehen, nach einem Eierlöffel. Die Bibliothek würde wohl pünktlich zum nächsten Frühjahr fertig werden. Auch das Budget schien diesmal realistisch kalkuliert worden zu sein. Außerdem, stellte er nebenbei fest, war heute sein Ei richtig abgeschreckt worden, denn es fühlte sich einfach angenehm warm an. Herr Gröttrup war völlig zufrieden mit seiner W...
„Was ist denn das?!“
Gott sei Dank ist Frau Gröttrup nichts aus der Hand gefallen, doch als er schrie, war sie dabei gewesen, ihrem Mann Kaffee einzugießen – und erschrak.
„Helmut?“
Ein Tröpfchen Kaffee sickerte ärgerlicherweise in die Tischdecke. Zum Glück konnte sie aber den braunen Fleck gut mit der Zuckerdose verstecken (Weißwäsche war sowieso heute dran). Herr Gröttrup hingegen hatte einige gelbe Kleckse unterschiedlicher Größe auf seiner Krawatte, eine Tatsache, die ihn – gelinde gesagt – höchst unzufrieden machte. Nachdem er die Spitze des Eis gepellt und ein wenig Salz und Pfeffer darüber gestreut hatte, wollte Herr Gröttrup, noch während er las, es genüsslich auslöffeln. Er hätte es auch, wenn ihn das Ei nur nicht – auf absolut unvorhersehbare Art und Weise – angespritzt hätte. Mit anderen Worten:
Das. Ei. War. Noch. Weich.
Wie konnte das nur sein? Er ließ das Ei augenblicklich auf seinen Teller fallen und befreite seine Krawatte von dem gelben klebrigen Chaos mit seiner frisch gebügelten Baumwollserviette. Verärgert schaute Herr Gröttrup hoch. Frau Gröttrup aß ihr Ei in Ruhe. Es war ihr allerdings anzusehen, dass sie sich anstrengte, nicht loszuprusten. Die Anzeichen dafür waren nicht an ihrer Körperhaltung festzumachen, denn ihre Hände waren immer noch ruhig. Sie tupfte zwar vorsichtig ihren Mund mit ihrer Serviette ab, dabei waren ihre Lippen still. Doch Herr Gröttrup konnte genau sehen, wie Schadenfreude über ihr Gesicht huschte und einen Ort zum Ausruhen in ihren Augen fand.
„Das waren doch auf die Sekunde siebeneinhalb Minuten! Oder etwa nicht?“ Herr Gröttrup klang weniger selbstsicher, als er wollte.
Frau Gröttrup reagierte zunächst nicht. Irritiert sah Herr Gröttrup noch einmal herunter zum Ei. Es war tatsächlich immer noch weich. Dabei hat er doch alle Vorschriften ... ähh ... Schritte einge halten. An dem kleinen, mit einem schwarzen Edding geschriebenen “H” auf seinem Ei hatte er bereits zweifelsfrei festgestellt, dass die Eier nicht versehentlich vertauscht worden waren. Und an einem womöglich niedrigeren Luftdruck in der Küche könnte es ja auch nicht liegen. Vielleicht war der Kühlschrank heute Morgen viel kälter gewesen als sonst? Das würde er gleich kontrollieren ... Wie eine Kettensäge drang die Stimme seiner Frau in seine Rechnungen und Gleichungen ein:
„Ich koche dir noch ein Ei, ja?“
Er konnte nur nicken. Frau Gröttrup blinzelte mehrmals, beide schwiegen. Im nächsten Moment standen sie gleichzeitig auf. Sie, weil sie ganz schrecklich, ganz dringend und vor allem ganz allein hinter geschlossener Tür „husten” musste, und er, weil er nur noch im Kopf hatte, nach der Temperatur des Kühlschranks zu schauen. Erst jetzt sah er, dass ihre Haare wirklich viel grauer als seine geworden waren.
„Helmut, ich mach das schon“, versicherte ihm Frau Gröttrup. „Brauchst nicht mitkommen.“ Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie fort. Also waren die beiden allein im Esszimmer: Herr Gröttrup und das Ei, das sich traute, noch weich zu sein.
Bleiben Sie bitte weiterhin sitzen, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Nehmen Sie Ihre linke Hand vom Kopf weg, und reichen Sie die Geschichte von der rechten Hand zur linken. Heben Sie als Nächstes Ihre rechte Hand langsam zum Kopf, und halten Sie damit Ihr rechtes Auge zu. Sie können jetzt weiterlesen.
Manchmal wache ich auf und denke: Heute bin ich ein Ei.
Zugegeben: Das passiert mir nicht oft. Wer will schon ein Ei sein? Nicht wirklich rund, nicht wirklich stabil, nicht wirklich attraktiv. Ich habe viel öfter morgens gedacht: Heute bin ich Crème brûlée oder ein Lottogewinn oder ein Sonnenaufgang. Wenigstens haben die Menschen Freude dran! Aber heute wollte ich einfach als etwas Belangloses durchgehen. Keine große Aufregung. Vor allem kein Chaos verursachen! Einfach ein Ei sein. Auf der sicheren Seite bleiben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich diesmal wirklich gekocht würde. Sonst, wenn ich das Ei-Sein gewählt habe, bin ich immer den ganzen Tag einfach im Kühlschrank geblieben. Gröttrups hatten gestern aber nur noch ein Ei zu Hause. Das fiel Irmi leider abends so spät ein, dass ihr keine Zeit blieb, noch schnell einkaufen zu gehen.
„Irmi“ wird sie übrigens nie von Lebenden genannt. Das letzte Mal, als sie diesen Namen hörte, wohnte sie noch bei ihren Eltern und hatte gerade angefangen, sich heimlich mit ihrem damaligen Freund zu treffen. Er hat sie so genannt. Und ihre Oma auch. Seit seiner Pensionierung wurde Irmi von ihrem Mann nur noch „Mutti“ genannt, obwohl sie keine Kinder hatten. Wenn es wenigstens liebevoll gemeint gewesen wäre.
Wie dem auch sei, während sie frühmorgens betete, erinnerte sich Irmi, dass Ada heute kommen würde. Diese Frau putzte immer montags und donnerstags bei den Gröttrups und fing an den jeweiligen Tagen so früh an, dass es selbst mir nicht klar ist, ob Irmis Mann überhaupt weiß, dass es eine Ada gibt. Zwei Eier wurden jedenfalls, eingewickelt in reichliche Mengen an Küchenrolle, von Ada mitgebracht. Ja, normalerweise wäre ein Ei völlig ausreichend gewesen. Ada hatte aber irgendwie bereits eine Vorahnung davon, was am Frühstückstisch passieren würde. Und so bin ich heute zu den Gröttrups gelangt.
Ich bilde mir selten ein Urteil über die Menschen, denen ich begegne. Ich versuche sie immer so zu betrachten, dass ich an ihren wahren Kern rankomme. Das kann ich inzwischen ganz gut, besonders in Deutschland. Aber selbst Wesen wie ich haben manchmal schlechte Tage (ich wollte ja einfach im Kühlschrank chillen), und so, wie Irmis Mann drauf war, habe ich gedacht: Den muss ich ein wenig provozieren.
Also beschloss ich, nicht hart zu werden.
Meine Gründe für diese Entscheidung hätte Irmis Mann niemals nachvollziehen können. Das ist nicht verwunderlich, denn er hatte ja ausschließlich seine Art von Menschenkörper und ein sterbliches Leben bei der ersten großen Verteilung geschenkt bekommen (das ist übrigens überhaupt nicht abfällig gemeint, ich habe ja nicht mal das geschafft). Irmi schnitt damals etwas besser ab als ihr Mann. Somit war es ihr tatsächlich herzlich egal, ob das Ei sieben oder siebzehn Minuten lang kochte. Es ging nicht einmal darum, dass ihr Mann das Ei irgendwie besonders haben wollte. So etwas Uneindeutiges wie „sehr festes Eiweiß und mittelweiches Eigelb“, wie Irmi das eigentlich mag, fand er schlicht unausstehlich. Das Frühstücksei sollte hart sein. Punkt. Gleichzeitig war es ihr allerdings klar, dass es bei dem Streit heute morgen nicht wirklich um das Ei ging. Oder die Wasserverschwendung, die damit einhergeht, wenn ein Ei zu lange kocht. Oder das unnötige In-die-Höhe-Treiben der Stromrechnung. Und deswegen schaltete Irmi während des Vortrags ihres Mannes innerlich irgendwann ab und nahm sein Ei einfach wie gewünscht aus dem Wasser. Es wirkte vielleicht wie Resignation. Tatsächlich war es ein leidenschaftsloser, pragmatischer Akt. Sie hatte Angst, dass das wachsende stumpfe Gefühl in den Schläfen sich später zur Migräne entwickeln könnte – was ärgerlich gewesen wäre, weil sie heute Nachmittag endlich nach einem Eierkocher schauen wollte. Die sinnlose Diskussion war die Sache nicht wert.
Irmi hätte theoretisch die Möglichkeit gehabt, von Ada eine detaillierte Begründung für meine Entscheidung zu bekommen. Sie verspielte die Chance, indem sie sich mit dem Gedanken zufrieden gab, dass sie wegen ihrer neuen Lesebrille einfach besser die Herduhr lesen konnte als ihr Ehemann. Ohnehin redete Irmi sehr wenig mit Ada (sie wusste nicht einmal, dass Ada inzwischen fließend Deutsch sprach), somit entgingen ihr jede Menge Informationen. Und ihr Mann behielt darum fast immer die Oberhand.
Das war mal anders. In ihrem ersten gemeinsamen Leben hatte Irmi nicht nur die Hosen an, sondern den ganzen Anzug, inklusive Fedora-Hut und Gehstock. Es war zum Beispiel nicht etwa er, sondern Irmi, die sich damals mit den Russen getroffen und verhandelt hatte. Gleich nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Gleich nachdem Irmis Mann stotternd im Hausflur erschien und in jede Himmelsrichtung schaute, sogar durch Irmi hindurch, nur nicht ihr direkt ins Gesicht. Gleich nachdem beide Kinder (in der ersten Verteilung gab es ja auch einen Sohn und eine Tochter) Irmis Lippenstift gefunden hatten.
Ungünstig, o! Das war ihr Lieblings-Lippenstift!
Lieblings-Lippenstift? Das war ihr einziger Lippenstift!
Ihr einziger Lippenstift?! Wirklich sehr ungünstig, o!
Klein Peter stand bereits in der „Nun schäm dich!“-Ecke, seine kurzen Arme schaffte er nicht ganz ineinander zu verschränken, darum sah er, obwohl er sich alle Mühe gab, eher gequält als wütend aus. Das Töchterchen grinste den Vater mit fett bemalten Lippen und Zähnen an, während Irmi gnadenlos mit ihrem Mann schimpfte. „Die Treppe fegt man von OBEN!“, zischte sie irgendwann und drückte gleichzeitig ihrem Mann eine Windel voll Kleinkind in die Arme. Noch am selben Tag verlangte sie allen Ernstes ein Treffen mit Sergei Pawlowitsch Koroljow (einer Art russischer Wernher von Braun). Tatsächlich überlebten alle Gröttrups die Jahre nach dem Krieg, weil sie von Koroljow höchstpersönlich in die Sowjetunion gebracht worden waren. Darüber wird heutzutage im Hause Gröttrup nicht mehr geredet. Doch an jenem Tag war ich Irmis letzter Lippenstift. Und ich erinnere mich noch genau, wie groß die Erleichterung war, als Irmis Mann erfuhr, dass er nicht zwischen Raketenbau und Familie wählen musste, wie manch einer seiner Kollegen. Das hatte er allein Irmi zu verdanken. Aber er wusste es nicht mehr. Seit der zweiten großen Verteilung geht es auffällig vielen Menschen seiner Art so.
Als deutsches Ei nicht hart zu werden ist keine so große Leistung. Deutlich schwieriger ist es für mich, auszuhalten, dass ihr Lebenden ausschließlich mittels dieses Gefängnisses namens Sprache kommuniziert.
Sprachen und ihre Kategorien, o!
Menschen und ihre Kategorien!
Sie sind nicht ganz dicht, o! Sie sind nicht ganz dicht.
Also immer wenn ich etwas Schriftliches werde, versuche ich (meist vergeblich) die Inhalte zu ignorieren. Und als ihr das Jahr 1862 geschrieben habt, war ich als Epizentrum eines Erdbebens in Accra unterwegs. Das war vielleicht schwer. Ich habe mich wirklich sehr zusammenreißen müssen, um nicht einfach bei der Zerstörung der europäischen Festungen zu bleiben. Es sollte ja nicht wie eine „Strafe Gottes“ aussehen, sondern eher wie eine sogenannte „Naturkatastrophe“.
Ähnlich ging es mir vergangene Woche in Berlin, als Helmut Kohl die deutsche Bundestagswahl zum vierten Mal gewann. Zu gerne wäre ich in einem strategischen Moment plötzlich hochgeklappt, so dass er auf dem Weg zum Podest hätte stolpern – eventuell auch hinfallen – müssen. Vor laufenden Fernsehkameras. Dieser Anblick hätte mir gut getan. Es sollte aber diesmal nicht sein (oder ehrlicher: Es ist mir ausdrücklich verboten worden), aber irgendwann einmal werde ich wieder ein wichtiger roter Teppich sein. In ziemlich genau zwanzig Jahren wird ein anderer Politiker Opfer meiner Ungnade sein (er wird Robert Mugabe heißen, wenn nichts dazwischen kommt, und wir werden uns in Harare befinden). Aber ich greife zu weit vor.
Wir sind bei Gröttrups. Die dritte große Verteilung steht bald an – heute ist der Tag, an dem es Irmi und ihrem Mann bewusst werden wird. Ich habe gehofft, dass ich heute auch endlich geboren werden darf, aber mein Plan mit dem Ei-Sein ist nicht aufgegangen. Weil ich Irmis Mann gegenüber so ungeduldig und rechthaberisch gewesen bin, weiß ich jetzt schon, dass es bei dieser Runde wohl wieder nichts wird. Ich weiß es, weil es immer noch keine Bilder gibt.
Das ist der Unterschied zwischen den Ungeborenen und den Verstorbenen. Auch wenn Verstorbene selber nicht mehr auf Fotos, in Zeichnungen oder durch Erzählungen wahrnehmbar sind, tröstet es sie, zu wissen, dass das Leben der Liebsten weitergeht. Tote haben Bilder. Die, die noch nie gelebt haben, warten noch darauf.
Nehmen Sie bitte Ihre rechte Hand vom Kopf weg. Sie können, wenn Sie möchten, nun die Geschichte mit beiden Händen festhalten.
Bei dem Gedanken, dass ein Ei möglicherweise eigene Ideen und Präferenzen haben könnte, musste Herr Gröttrup unfreiwillig den Kopf schütteln. Was für ein Unfug! Er überlegte kurz, den Gedanken ad absurdum zu führen, indem er es fixierte – einige Sekunden lang – und sich anschließend räusperte, als würde er anfangen, einen einseitigen Dialog mit ihm zu führen. Doch just in dem Moment kam Irmi mit seinem zweiten Ei ins Esszimmer. Das Paar hätte kurzerhand noch einmal mit dem Frühstück anfangen können, als hätte es den ersten Anlauf gar nicht gegeben, als würden die Glocken erst jetzt sieben Uhr dreißig schlagen. Jedoch hielt es Herr Gröttrup mit seiner – nun nicht mehr ganz so makellosen – Krawatte nicht mehr aus. Er entschuldigte sich bei Irmi und versicherte ihr, während er aus dem Zimmer schritt, dass er gleich wieder da sein würde. Und eh Irmi wieder nach Luft schnappen konnte, war Herr Gröttrup schon oben im Badezimmer. Die zweite große Überraschung des Tages: Eine Unbekannte stand bereits dort und sortierte die Wäsche. Er vermied ihre Augen. Hätte er in sie geschaut, wenn auch nur flüchtig, hätte er nicht leugnen können, dass sie ihm seltsam vertraut vorkam_en.
„Wer bist du?“, stammelte Herr Gröttrup.
„Ich bin die Ada.“
Sie antwortete, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als dass sie seine Unterhose in der Hand halten würde, während sie sich kennenlernten.
„Ada?“, erwiderte er. Schweißperlen formten sich auf seiner Stirn.
„Ich bin deine Putzfrau.“
„Duzen wir uns?“
„Sie haben damit angefangen.“
Wohl wahr. Herr Gröttrup hatte nun mehrere Probleme gleichzeitig. Um sich zu helfen, gab er ihr die Hand. Er wollte sich eigentlich vorstellen. Ada hatte das allerdings als Kontrolle gedeutet – als wolle er seine Unterhose prüfen. Hätte Herr Gröttrup Ada vernünftig angeschaut, wie es sich gehört, wäre er nicht in die Situation gekommen, dass sie sich die Hände schüttelten, mit seinem Schlüpfer zwischen den Fingern.
Vielleicht aber doch.
Alle Menschen, die Ada unterschätzen, bereuen es irgendwann.
Zurück im Wohnzimmer sah er, wie Irmi am Tisch saß und auf ihn wartete. Sie stellte ihm keine Fragen, und das war ihm auch recht so.
Herr Gröttrup setzte sich hin.
Und Ada fing an, die Toilette im Obergeschoss zu putzen.
Siegertext der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo>
Die Schriftstellerin, Publizistin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo wurde im Jahr 2016 mit dem 40. Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Die gebürtige Britin lebt heute in Berlin und erhielt die Auszeichnung für ihren Text Herr Gröttrup setzt sich hin, in dem sie sich satirisch mit dem Frühstücksritual eines deutschen Ehepaares auseinandersetzt – und so mit der Mentalität eines ganzen Landes. Wer die Lesung versäumt hat, kann den Siegertext nun noch einmal nachlesen. Wir veröffentlichen ihn ungekürzt.
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Herr Gröttrup setzt sich hin
Von Sharon Dodua Otoo
Bitte sorgen Sie dafür, dass Sie bequem auf Ihrem Platz sitzen. Es sollte Ihnen weder zu heiß noch zu kalt sein. Kratzen Sie sich ruhig am linken Ellenbogen, wenn Ihnen danach ist. Wenn Sie husten oder niesen müssen, wäre jetzt die angemessene Zeit dafür. Die Geschichte sollten Sie ausgedruckt in Ihrer rechten Hand halten. Heben Sie langsam Ihre linke Hand,und halten Sie schließlich damit Ihr linkes Auge zu. Nun können Sie anfangen zu lesen.
Er wusste es genau, deswegen war jegliche weitere Diskussion vollkommen unnötig: Er hatte ganz einfach recht. Die Lippen fest zusammengepresst blieb er neben dem Herd stehen, schaute mit leicht hochgezogenen Augenbrauen weiter selbstgefällig auf die Armbanduhr und beschloss, keinen Unsinn mehr zu dulden.
Also seufzte Frau Gröttrup.
Gleichzeitig nahm sie ein Ei aus dem Topf, dann das zweite und schreckte beide mit ein paar gekonnten Handgriffen ab. Die Stille in der Küche war inzwischen messerscharf. Abgesehen von dem Blubbern des kochenden Wassers war nur noch das Atmen zweier Menschen zu hören. Person Nummer zwei, Frau Gröttrup, stöhnte mehrmals – aber ganz leise und fast unauffällig. Person Nummer eins war Herr Gröttrup. Er nickte, während er durch die Nase atmete: tief ein, tief aus.
Helmut Gröttrup, achtundsiebzig Jahre alt, einundneunzig Kilogramm, ein Meter dreiundachtzig, war deutscher Ingenieur (Raketenspezialist, seit neun Jahren pensioniert), Erfinder und Schach-Genie. Die wochenendlichen Radtouren musste er bedauerlicherweise vor zwei Jahren sein lassen, weil er es mit dem Knie hatte. Inzwischen genoss er seinen neuen Status als regelmäßiger Sonntagsfahrer. Gleich nach der Kirche kutschierte er gerne, samt Frau und Wackeldackel, stundenlang die Hauptstraßen entlang, „Im Frühtau zu Berge“ singend, während ihre Hand auf seinem Oberschenkel lag. Er freute sich über die Pünktlichkeit der Regionalbahn, die schattigen Stellen in seinem Schrebergarten während des Hochsommers und die kleine, verlässliche Flasche Underberg am Ende des Tages. Er fand bei Rot über die Ampel gehende Jugendliche, das Anglisieren des Genitivs und das Einfach-drauflos-duzen weniger gut. Wenn jemensch ihn in seiner Gegenwart als „Christ“ bezeichnet hätte, hätte er „mit Verlaub“ korrigiert: Er war überzeugter Protestant. Wenn jemensch ihn allerdings als „Cis-Mann“ bezeichnet hätte, hätte er vor lauter Irritation bestimmt die Augen zusammengekniffen. Und wenn jemensch ihn als „weiß“ bezeichnet hätte, hätte er dies entweder als Synonym für „deutsch“ aufgefasst oder sich gefragt, ob dies als Beleidigung zu verstehen war. Oder beides.
Eine Frage der Tagesverfassung.
Seine über die Jahre im Wesentlichen gleich gebliebene Morgenroutine würde heute bald mit Beginn des gemeinsamen Frühstücks – genauer gesagt, mit dem Essen des Eis – enden. Normalerweise war sie, Frau Gröttrup, die Chefin der Küche, und seine Aufgaben waren es, die Post hereinzuholen, die Außentemperatur zu kontrollieren und die Schuhe zu putzen. Die Aufteilung fand er eigentlich passend, doch in letzter Zeit erlaubte sich seine Ehefrau einige kleine Fehltritte, die dazu führten, dass er nun alles haargenau kontrollieren musste. Sie war einfach nicht so konzentriert bei der Sache wie er. Und so kam es, dass er jeden Morgen ungefähr acht Minuten zusätzlich einplante, um auch kurz am Herd stehenzubleiben. Das hatte sich in letzter Zeit als sehr gewinnbringend herausgestellt.
Jetzt konnte er sich aber endlich an den Frühstückstisch setzen, da anscheinend alles in Ordnung war. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Herr Gröttrup gefasst und zufrieden aus der Küche zurück ins Esszimmer. Er hatte zwar kurz überlegt, Frau Gröttrup, die gewiss nicht so stark war wie er, auch noch mit dem Tragen des Tabletts zu unterstützen, entschied sich aber dagegen, da er ihr heute Morgen wirklich genug beratend zur Seite gestanden hatte.
Frau Gröttrup ging hinter Herrn Gröttrup her. Auf einem kleinen Tablett balancierte sie dabei die Butter, die Milch, den Gouda, drei Tomaten, den Orangensaft (frisch gepresst), das Besteck, zwei Gläser, zwei Kaffeetassen und eben die Eier. Brot, Salz und Pfeffer standen bereits auf dem Tisch. Sie würde für die Kaffeekanne, die Teller und den Zucker noch einmal zurück in die Küche gehen müssen. Ihre Hände zitterten, weil das Tablett eigentlich ein bisschen zu schwer für sie war. Doch seitdem er angefangen hatte, schon abends seine Kleidung zurecht zulegen, war es morgens Frau Gröttrup viel lieber, allein das Frühstück zum Tisch zu bringen.
Es klapperte ein wenig, als sie das Tablett auf den Tisch stellte, doch kippte nichts um. Sie war in ihrem Leben mehr als einmal ermahnt worden, extra darauf zu achten. Herr Gröttrup betrachtete trotzdem das ganze Geschehen kritisch – was Frau Gröttrup natürlich noch zittriger hätte machen können. Weil sie sich aber auch auf das Frühstücksei heute Morgen besonders freute (allein – aus anderen Gründen als Herr Gröttrup), fiel es ihr nicht auf. Nachdem sie das Tablett leer geräumt hatte, lief sie noch einmal los. Frau Gröttrup kam ein zweites Mal ins Esszimmer, jetzt mit den restlichen Sachen. Inzwischen lag auch die heutige Ausgabe des Merkurs auf dem Tisch: Herr Gröttrup las mit sichtlich großer Freude vom langersehnten Umbau der Münchner Stadtbibliothek. Es duftete angenehm nach heißem Kaffee und frisch gebackenem Brot. Frau Gröttrup interessierte sich weder für Zeitungen noch Stadtbibliotheken. Hätte Herr Gröttrup darüber nachgedacht, hätte er festgestellt, dass er überhaupt nicht mehr wusste, wofür sie sich interessierte. Sie stellte Teller auf den Tisch – einen vor ihn, einen vor sich –, bevor sie sich dann auch endlich hinsetzte. Genau in dem Moment schlugen die Glocken sieben Uhr dreißig, als wäre alles perfekt inszeniert. Während Frau Gröttrup die Eier in die Eierbecher stellte und einen auf seinem Teller, einen auf ihrem Teller platzierte, griff Herr Gröttrup, ohne aufzusehen, nach einem Eierlöffel. Die Bibliothek würde wohl pünktlich zum nächsten Frühjahr fertig werden. Auch das Budget schien diesmal realistisch kalkuliert worden zu sein. Außerdem, stellte er nebenbei fest, war heute sein Ei richtig abgeschreckt worden, denn es fühlte sich einfach angenehm warm an. Herr Gröttrup war völlig zufrieden mit seiner W...
„Was ist denn das?!“
Gott sei Dank ist Frau Gröttrup nichts aus der Hand gefallen, doch als er schrie, war sie dabei gewesen, ihrem Mann Kaffee einzugießen – und erschrak.
„Helmut?“
Ein Tröpfchen Kaffee sickerte ärgerlicherweise in die Tischdecke. Zum Glück konnte sie aber den braunen Fleck gut mit der Zuckerdose verstecken (Weißwäsche war sowieso heute dran). Herr Gröttrup hingegen hatte einige gelbe Kleckse unterschiedlicher Größe auf seiner Krawatte, eine Tatsache, die ihn – gelinde gesagt – höchst unzufrieden machte. Nachdem er die Spitze des Eis gepellt und ein wenig Salz und Pfeffer darüber gestreut hatte, wollte Herr Gröttrup, noch während er las, es genüsslich auslöffeln. Er hätte es auch, wenn ihn das Ei nur nicht – auf absolut unvorhersehbare Art und Weise – angespritzt hätte. Mit anderen Worten:
Das. Ei. War. Noch. Weich.
Wie konnte das nur sein? Er ließ das Ei augenblicklich auf seinen Teller fallen und befreite seine Krawatte von dem gelben klebrigen Chaos mit seiner frisch gebügelten Baumwollserviette. Verärgert schaute Herr Gröttrup hoch. Frau Gröttrup aß ihr Ei in Ruhe. Es war ihr allerdings anzusehen, dass sie sich anstrengte, nicht loszuprusten. Die Anzeichen dafür waren nicht an ihrer Körperhaltung festzumachen, denn ihre Hände waren immer noch ruhig. Sie tupfte zwar vorsichtig ihren Mund mit ihrer Serviette ab, dabei waren ihre Lippen still. Doch Herr Gröttrup konnte genau sehen, wie Schadenfreude über ihr Gesicht huschte und einen Ort zum Ausruhen in ihren Augen fand.
„Das waren doch auf die Sekunde siebeneinhalb Minuten! Oder etwa nicht?“ Herr Gröttrup klang weniger selbstsicher, als er wollte.
Frau Gröttrup reagierte zunächst nicht. Irritiert sah Herr Gröttrup noch einmal herunter zum Ei. Es war tatsächlich immer noch weich. Dabei hat er doch alle Vorschriften ... ähh ... Schritte einge halten. An dem kleinen, mit einem schwarzen Edding geschriebenen “H” auf seinem Ei hatte er bereits zweifelsfrei festgestellt, dass die Eier nicht versehentlich vertauscht worden waren. Und an einem womöglich niedrigeren Luftdruck in der Küche könnte es ja auch nicht liegen. Vielleicht war der Kühlschrank heute Morgen viel kälter gewesen als sonst? Das würde er gleich kontrollieren ... Wie eine Kettensäge drang die Stimme seiner Frau in seine Rechnungen und Gleichungen ein:
„Ich koche dir noch ein Ei, ja?“
Er konnte nur nicken. Frau Gröttrup blinzelte mehrmals, beide schwiegen. Im nächsten Moment standen sie gleichzeitig auf. Sie, weil sie ganz schrecklich, ganz dringend und vor allem ganz allein hinter geschlossener Tür „husten” musste, und er, weil er nur noch im Kopf hatte, nach der Temperatur des Kühlschranks zu schauen. Erst jetzt sah er, dass ihre Haare wirklich viel grauer als seine geworden waren.
„Helmut, ich mach das schon“, versicherte ihm Frau Gröttrup. „Brauchst nicht mitkommen.“ Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie fort. Also waren die beiden allein im Esszimmer: Herr Gröttrup und das Ei, das sich traute, noch weich zu sein.
Bleiben Sie bitte weiterhin sitzen, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Nehmen Sie Ihre linke Hand vom Kopf weg, und reichen Sie die Geschichte von der rechten Hand zur linken. Heben Sie als Nächstes Ihre rechte Hand langsam zum Kopf, und halten Sie damit Ihr rechtes Auge zu. Sie können jetzt weiterlesen.
Manchmal wache ich auf und denke: Heute bin ich ein Ei.
Zugegeben: Das passiert mir nicht oft. Wer will schon ein Ei sein? Nicht wirklich rund, nicht wirklich stabil, nicht wirklich attraktiv. Ich habe viel öfter morgens gedacht: Heute bin ich Crème brûlée oder ein Lottogewinn oder ein Sonnenaufgang. Wenigstens haben die Menschen Freude dran! Aber heute wollte ich einfach als etwas Belangloses durchgehen. Keine große Aufregung. Vor allem kein Chaos verursachen! Einfach ein Ei sein. Auf der sicheren Seite bleiben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich diesmal wirklich gekocht würde. Sonst, wenn ich das Ei-Sein gewählt habe, bin ich immer den ganzen Tag einfach im Kühlschrank geblieben. Gröttrups hatten gestern aber nur noch ein Ei zu Hause. Das fiel Irmi leider abends so spät ein, dass ihr keine Zeit blieb, noch schnell einkaufen zu gehen.
„Irmi“ wird sie übrigens nie von Lebenden genannt. Das letzte Mal, als sie diesen Namen hörte, wohnte sie noch bei ihren Eltern und hatte gerade angefangen, sich heimlich mit ihrem damaligen Freund zu treffen. Er hat sie so genannt. Und ihre Oma auch. Seit seiner Pensionierung wurde Irmi von ihrem Mann nur noch „Mutti“ genannt, obwohl sie keine Kinder hatten. Wenn es wenigstens liebevoll gemeint gewesen wäre.
Wie dem auch sei, während sie frühmorgens betete, erinnerte sich Irmi, dass Ada heute kommen würde. Diese Frau putzte immer montags und donnerstags bei den Gröttrups und fing an den jeweiligen Tagen so früh an, dass es selbst mir nicht klar ist, ob Irmis Mann überhaupt weiß, dass es eine Ada gibt. Zwei Eier wurden jedenfalls, eingewickelt in reichliche Mengen an Küchenrolle, von Ada mitgebracht. Ja, normalerweise wäre ein Ei völlig ausreichend gewesen. Ada hatte aber irgendwie bereits eine Vorahnung davon, was am Frühstückstisch passieren würde. Und so bin ich heute zu den Gröttrups gelangt.
Ich bilde mir selten ein Urteil über die Menschen, denen ich begegne. Ich versuche sie immer so zu betrachten, dass ich an ihren wahren Kern rankomme. Das kann ich inzwischen ganz gut, besonders in Deutschland. Aber selbst Wesen wie ich haben manchmal schlechte Tage (ich wollte ja einfach im Kühlschrank chillen), und so, wie Irmis Mann drauf war, habe ich gedacht: Den muss ich ein wenig provozieren.
Also beschloss ich, nicht hart zu werden.
Meine Gründe für diese Entscheidung hätte Irmis Mann niemals nachvollziehen können. Das ist nicht verwunderlich, denn er hatte ja ausschließlich seine Art von Menschenkörper und ein sterbliches Leben bei der ersten großen Verteilung geschenkt bekommen (das ist übrigens überhaupt nicht abfällig gemeint, ich habe ja nicht mal das geschafft). Irmi schnitt damals etwas besser ab als ihr Mann. Somit war es ihr tatsächlich herzlich egal, ob das Ei sieben oder siebzehn Minuten lang kochte. Es ging nicht einmal darum, dass ihr Mann das Ei irgendwie besonders haben wollte. So etwas Uneindeutiges wie „sehr festes Eiweiß und mittelweiches Eigelb“, wie Irmi das eigentlich mag, fand er schlicht unausstehlich. Das Frühstücksei sollte hart sein. Punkt. Gleichzeitig war es ihr allerdings klar, dass es bei dem Streit heute morgen nicht wirklich um das Ei ging. Oder die Wasserverschwendung, die damit einhergeht, wenn ein Ei zu lange kocht. Oder das unnötige In-die-Höhe-Treiben der Stromrechnung. Und deswegen schaltete Irmi während des Vortrags ihres Mannes innerlich irgendwann ab und nahm sein Ei einfach wie gewünscht aus dem Wasser. Es wirkte vielleicht wie Resignation. Tatsächlich war es ein leidenschaftsloser, pragmatischer Akt. Sie hatte Angst, dass das wachsende stumpfe Gefühl in den Schläfen sich später zur Migräne entwickeln könnte – was ärgerlich gewesen wäre, weil sie heute Nachmittag endlich nach einem Eierkocher schauen wollte. Die sinnlose Diskussion war die Sache nicht wert.
Irmi hätte theoretisch die Möglichkeit gehabt, von Ada eine detaillierte Begründung für meine Entscheidung zu bekommen. Sie verspielte die Chance, indem sie sich mit dem Gedanken zufrieden gab, dass sie wegen ihrer neuen Lesebrille einfach besser die Herduhr lesen konnte als ihr Ehemann. Ohnehin redete Irmi sehr wenig mit Ada (sie wusste nicht einmal, dass Ada inzwischen fließend Deutsch sprach), somit entgingen ihr jede Menge Informationen. Und ihr Mann behielt darum fast immer die Oberhand.
Das war mal anders. In ihrem ersten gemeinsamen Leben hatte Irmi nicht nur die Hosen an, sondern den ganzen Anzug, inklusive Fedora-Hut und Gehstock. Es war zum Beispiel nicht etwa er, sondern Irmi, die sich damals mit den Russen getroffen und verhandelt hatte. Gleich nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Gleich nachdem Irmis Mann stotternd im Hausflur erschien und in jede Himmelsrichtung schaute, sogar durch Irmi hindurch, nur nicht ihr direkt ins Gesicht. Gleich nachdem beide Kinder (in der ersten Verteilung gab es ja auch einen Sohn und eine Tochter) Irmis Lippenstift gefunden hatten.
Ungünstig, o! Das war ihr Lieblings-Lippenstift!
Lieblings-Lippenstift? Das war ihr einziger Lippenstift!
Ihr einziger Lippenstift?! Wirklich sehr ungünstig, o!
Klein Peter stand bereits in der „Nun schäm dich!“-Ecke, seine kurzen Arme schaffte er nicht ganz ineinander zu verschränken, darum sah er, obwohl er sich alle Mühe gab, eher gequält als wütend aus. Das Töchterchen grinste den Vater mit fett bemalten Lippen und Zähnen an, während Irmi gnadenlos mit ihrem Mann schimpfte. „Die Treppe fegt man von OBEN!“, zischte sie irgendwann und drückte gleichzeitig ihrem Mann eine Windel voll Kleinkind in die Arme. Noch am selben Tag verlangte sie allen Ernstes ein Treffen mit Sergei Pawlowitsch Koroljow (einer Art russischer Wernher von Braun). Tatsächlich überlebten alle Gröttrups die Jahre nach dem Krieg, weil sie von Koroljow höchstpersönlich in die Sowjetunion gebracht worden waren. Darüber wird heutzutage im Hause Gröttrup nicht mehr geredet. Doch an jenem Tag war ich Irmis letzter Lippenstift. Und ich erinnere mich noch genau, wie groß die Erleichterung war, als Irmis Mann erfuhr, dass er nicht zwischen Raketenbau und Familie wählen musste, wie manch einer seiner Kollegen. Das hatte er allein Irmi zu verdanken. Aber er wusste es nicht mehr. Seit der zweiten großen Verteilung geht es auffällig vielen Menschen seiner Art so.
Als deutsches Ei nicht hart zu werden ist keine so große Leistung. Deutlich schwieriger ist es für mich, auszuhalten, dass ihr Lebenden ausschließlich mittels dieses Gefängnisses namens Sprache kommuniziert.
Sprachen und ihre Kategorien, o!
Menschen und ihre Kategorien!
Sie sind nicht ganz dicht, o! Sie sind nicht ganz dicht.
Also immer wenn ich etwas Schriftliches werde, versuche ich (meist vergeblich) die Inhalte zu ignorieren. Und als ihr das Jahr 1862 geschrieben habt, war ich als Epizentrum eines Erdbebens in Accra unterwegs. Das war vielleicht schwer. Ich habe mich wirklich sehr zusammenreißen müssen, um nicht einfach bei der Zerstörung der europäischen Festungen zu bleiben. Es sollte ja nicht wie eine „Strafe Gottes“ aussehen, sondern eher wie eine sogenannte „Naturkatastrophe“.
Ähnlich ging es mir vergangene Woche in Berlin, als Helmut Kohl die deutsche Bundestagswahl zum vierten Mal gewann. Zu gerne wäre ich in einem strategischen Moment plötzlich hochgeklappt, so dass er auf dem Weg zum Podest hätte stolpern – eventuell auch hinfallen – müssen. Vor laufenden Fernsehkameras. Dieser Anblick hätte mir gut getan. Es sollte aber diesmal nicht sein (oder ehrlicher: Es ist mir ausdrücklich verboten worden), aber irgendwann einmal werde ich wieder ein wichtiger roter Teppich sein. In ziemlich genau zwanzig Jahren wird ein anderer Politiker Opfer meiner Ungnade sein (er wird Robert Mugabe heißen, wenn nichts dazwischen kommt, und wir werden uns in Harare befinden). Aber ich greife zu weit vor.
Wir sind bei Gröttrups. Die dritte große Verteilung steht bald an – heute ist der Tag, an dem es Irmi und ihrem Mann bewusst werden wird. Ich habe gehofft, dass ich heute auch endlich geboren werden darf, aber mein Plan mit dem Ei-Sein ist nicht aufgegangen. Weil ich Irmis Mann gegenüber so ungeduldig und rechthaberisch gewesen bin, weiß ich jetzt schon, dass es bei dieser Runde wohl wieder nichts wird. Ich weiß es, weil es immer noch keine Bilder gibt.
Das ist der Unterschied zwischen den Ungeborenen und den Verstorbenen. Auch wenn Verstorbene selber nicht mehr auf Fotos, in Zeichnungen oder durch Erzählungen wahrnehmbar sind, tröstet es sie, zu wissen, dass das Leben der Liebsten weitergeht. Tote haben Bilder. Die, die noch nie gelebt haben, warten noch darauf.
Nehmen Sie bitte Ihre rechte Hand vom Kopf weg. Sie können, wenn Sie möchten, nun die Geschichte mit beiden Händen festhalten.
Bei dem Gedanken, dass ein Ei möglicherweise eigene Ideen und Präferenzen haben könnte, musste Herr Gröttrup unfreiwillig den Kopf schütteln. Was für ein Unfug! Er überlegte kurz, den Gedanken ad absurdum zu führen, indem er es fixierte – einige Sekunden lang – und sich anschließend räusperte, als würde er anfangen, einen einseitigen Dialog mit ihm zu führen. Doch just in dem Moment kam Irmi mit seinem zweiten Ei ins Esszimmer. Das Paar hätte kurzerhand noch einmal mit dem Frühstück anfangen können, als hätte es den ersten Anlauf gar nicht gegeben, als würden die Glocken erst jetzt sieben Uhr dreißig schlagen. Jedoch hielt es Herr Gröttrup mit seiner – nun nicht mehr ganz so makellosen – Krawatte nicht mehr aus. Er entschuldigte sich bei Irmi und versicherte ihr, während er aus dem Zimmer schritt, dass er gleich wieder da sein würde. Und eh Irmi wieder nach Luft schnappen konnte, war Herr Gröttrup schon oben im Badezimmer. Die zweite große Überraschung des Tages: Eine Unbekannte stand bereits dort und sortierte die Wäsche. Er vermied ihre Augen. Hätte er in sie geschaut, wenn auch nur flüchtig, hätte er nicht leugnen können, dass sie ihm seltsam vertraut vorkam_en.
„Wer bist du?“, stammelte Herr Gröttrup.
„Ich bin die Ada.“
Sie antwortete, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als dass sie seine Unterhose in der Hand halten würde, während sie sich kennenlernten.
„Ada?“, erwiderte er. Schweißperlen formten sich auf seiner Stirn.
„Ich bin deine Putzfrau.“
„Duzen wir uns?“
„Sie haben damit angefangen.“
Wohl wahr. Herr Gröttrup hatte nun mehrere Probleme gleichzeitig. Um sich zu helfen, gab er ihr die Hand. Er wollte sich eigentlich vorstellen. Ada hatte das allerdings als Kontrolle gedeutet – als wolle er seine Unterhose prüfen. Hätte Herr Gröttrup Ada vernünftig angeschaut, wie es sich gehört, wäre er nicht in die Situation gekommen, dass sie sich die Hände schüttelten, mit seinem Schlüpfer zwischen den Fingern.
Vielleicht aber doch.
Alle Menschen, die Ada unterschätzen, bereuen es irgendwann.
Zurück im Wohnzimmer sah er, wie Irmi am Tisch saß und auf ihn wartete. Sie stellte ihm keine Fragen, und das war ihm auch recht so.
Herr Gröttrup setzte sich hin.
Und Ada fing an, die Toilette im Obergeschoss zu putzen.