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Als Emmy Ball-Hennings 1927 die „Konnersreuther Resl“ besuchte

Links: Emmy Ball-Hennings, Foto: Schweizerisches Literaturarchiv, Bern. Nachlass Hennings/Ball. Rechts: Therese Neumann (um 1960), Foto: Archiv Robert Treml.

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Der folgende Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe (124) erschienen.

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Dada meets Stigma

von Bernhard M. Baron

 

Emmy Ball-Hennings (1885-1948), deutsche Schriftstellerin (Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend, 1938; Ruf und Echo. Autobiographie, 1953), Kabarettistin und Muse, reist – auf Empfehlung ihres (nun) streng fundamentalistisch-katholischen Ehemannes Hugo Ball (1886-1927), Autor, einst Mitbegründer der Dada-Bewegung und seit seiner Münchner Zeit 1906f. glühender Verehrer der Musik des Oberpfälzer Komponisten Max Reger – im Mai 1927 von München kommend, wo sie noch die Redaktion des Hochland besucht, nach Waldsassen.

Dort nimmt sie in Waldsassen im traditionsreichen „Klostergasthof“ Quartier, der schon dem Philosophen Friedrich Nietzsche mit seinem Freund Erwin Rohde im August 1867 und später im Winter 1944/45 dem österreichischen Dichter und damaligen Luftwaffen-Hauptmann Heimito von Doderer Rast und Domizil war.

In ihren Briefen an ihren Ehemann Hugo Ball, der aus einer gutbürgerlich-katholischen Familie in Pirmasens stammt, beschreibt Emmy Ball, die sich seit ihrer Eheschließung 1920 intensiv dem spirituellen Katholizismus zuwendet, wie sie von Waldsassen vom „Himmelfahrtstag“ an, dem 26. Mai 1927, fast täglich nach Konnersreuth wandert und ehrfürchtig staunend am Bett der seit Februar 1926 stigmatisierten Bauernmagd Therese Neumann (1898-1962) steht. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sich Emmy bereits in Vietri sul Mare (Provinz Salerno) in die Lebensgeschichte der stigmatisierten Augustiner-Nonne Katharina Emmerich (1774-1824) vertieft, die Clemens Brentano von 1818 bis 1824 niedergeschrieben hat (Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi, 1833). Jetzt ist sie fasziniert von Therese Neumann, die den Besuchern willig ihre Wundmale zeigt.

Hugo Ball hat Emmy genaue Anweisungen gegeben, wonach sie fragen soll: „was für Temperaturen sie hat, und welcher Art ihre Visionen. Ob auch diabolische Anfälle; [...] Der Diabolus ist der Kronzeuge bei den Stigmatisierten, besonders beim Beginn.“ In Briefen an Hugo Ball berichtet Emmy fast täglich über ihre Begegnungen. Auf 31 handschriftlichen Seiten eines Schulheftes, Konnersreuth 1927, hält sie ihre Besuche und Eindrücke bei der Konnersreuther Resl tagebuchartig ebenso fest, wie die Gespräche mit dem Konnersreuther Pfarrer Joseph Naber (1870-1967), der erwägt, ein Lebensbild von der Stigmatisierten zu schreiben.

Über ihren ersten Besuch (26. Mai 1927) berichtet sie:

[...] doch möchte ich mit meinem Schreiben nicht warten, drum wenns ein wenig durcheinander geht, bitt ich Dich um Entschuldigung, weil ich Therese Neumann gesehen habe, die Stigmatisierte. [...] unmittelbar nach der Messe sah ich, als ich zum Pfarrer mich anmelden gehen wollte, in einem Thürrahmen eine Gestalt, die mir erst durch ihre Wundersamkeit auffiel, als ich vorübergegangen war. Ein junges Mädchen in Halbhandschuhen, gestützt auf ein etwa 10-jähriges Kind. Ich war durch ein Seitengässchen gegangen, und […] war ich gar nicht darauf gefasst in diesem schmalen Gang der Stigmatisierten zu begegnen. Ich hörte nur: „Das ist schön, o wie schön das ist!“ In meinem eiligen Schritt hielt ich inne und stand still, und meinte, ich könnte doch vielleicht dieses Mädchen einmal fragen, ob sie mir nicht sagen wolle, was so schön ist. Diese Absicht tauchte blitzschnell in mir auf, aber ich habe soviel mir bewusst gar nicht gedacht, dass das die Stigmatisierte sein könnte. Als ich mich umsah, war sie fort, und ich rieb mir die Augen. Ich war dem Wunder begegnet, und wusste das erst, als es vorüber war.

 

Als sich Emmy Ball-Hennings bei Pfarrer Naber für einen Besuch bei Therese Neumann anmelden will, warten noch weitere Besucher:

Es war ein okkultistischer Mediziner [= Dr. W. Klimaszewski, München] da, der sich längst angemeldet und den Vorzug hatte, wie er sagte. […] Der Mediziner gab mir seine Adresse, was mich gewundert. Er hat sie heut früh untersucht, hat Herz auskultiert, und war ganz frisch, als er im Auto ankam. Und als er abfuhr sah er aus wie ein Geist, so blass.

[...] Um ½ 1: sagte er [= Pfarrer Naber, Anm. des Autors] mir, werden Sie sie sehen, und so ists auch gewesen. Ich habe sie gesehen mit Anderen und konnte kein Wort sagen. Es waren 18 Menschen im Zimmer, aber wenn mich nicht alles täuscht, hat sie nur mit mir gelächelt, nur immer auf mich gesehen. Alle haben gesprochen mit ihr, sie gefragt, und ich konnte gar nichts sehen. Ich sah ihre Wunden und ihre Augen, man sieht durch die Wunden. Die schneeweissen Hände sind ganz durchlöchert von einer Wunde. Man sieht keinen Nagel, man sieht nur Wunde. Es war furchtbar zu sehen, wie sie ausgefragt wurde und wie sie das hinnahm. Einer sagte, genau wie zu einer Kellnerin „Wieviel ... also Frl. ich möchte Ihnen ein Trinkgeld geben ...“ Sie sagte nicht mir irgend einer absichtlichen Hoheit, sondern wie ein Kind, ganz schlicht „ich leide nicht um Geld“, und streifte ihre Halbhandschuhe schüchtern über die Hände. Sie zeigte ihre Wunden gleich willig als ein junger Mann sie danach fragte, als sei es eben das, wofür sie gar nicht könne. Sie hat noch 9 Geschwister, ihr Vater ist Schneider, und kann kaum arbeiten seit der Zeit sie die Stigmen hat. […] ich sah sie noch einmal an und sagte „Grüss Gott“. Da hob sie leicht ihre Hand hoch, ohne eigentlich zu winken, ganz still und nickte. „Gott grüsse Sie“, sagte sie das war das einzigste, was sie mir direkt gesagt. [...]

Als wir sie erwarteten vor dem Hause kam sie aus der Küche, von ihrem Schwesterchen begleitet die Stufen herab. Auf den Fersen. Du solltest das sehen, Hugo, wie sie geht. Wenn sie auf den Fersen geht. Das sieht unsäglich rührend aus. Sie ist weisser wie dieses Papier und ihr Gesicht wirkt reiner wie Schnee. Buchstäblich und übertragen. Sie hat wie die Bäuerin ein weisses Kopftuch, das die Wunden deckt. [...]

Sie hat mit ihren 28 Jahren kaum Zähne im Mund, nur kleine Körnchen, aber das wirkt seltsamer Weise nicht im Geringsten entstellend, ich könnte sie mir mit Zähnen gar nicht denken.

 

Klostergasthof im Festschmuck (um 1912)

In ihren Briefen und im Tagebuch schreibt Emmy Ball-Hennings auch von „der kleinen Taube“:

„Es ist ein Täubchen in ihrem [Thereses] Zimmer, das ist zahm und sieht aus, als verstünde es jedes Wort, das man sagt“ (27. Mai 1927). „[...] Die Taube ist wie gesagt ein reizendes Thierchen, das immer mit ihr geht, aber nicht mit den andern aus der Familie. Sie bleibt, wenn Th[erese] über den Kirchplatz geht auf ihrer Hand“ (31. Mai 1927). „[...] das Täubchen guckt immer auf sie hin, wenn sie spricht, als wollt es hören, was sagt sie jetzt. Man kann von diesem Thierchen die Illusion haben, es sei ein Wesen, das mit Vernunft begabt sei. Diese kleine Taube ist einzigartig niedlich. Manchmal sitzt sie auf dem Hausaltar“ (6. Juni 1927).

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Ein Roman?

Nach ihrem Besuch bei der „Konnersreuther Resl“ am 29. Mai 1927 resümiert Emmy:

Sie ist vom Bischof gebeten ihre Visionen aufzuschreiben, aber jeder Federzug tut ihr ja weh und vor allem ihre Sprache ist nicht das rechte deutsch. Was aber der Pfarrer [= Joseph Naber] an Aussagen wiedergegeben hat, ist gar nicht die Weise, wie sie mitteilt, wodurch der Reiz der gerade in einer klugen Kindlichkeit liegt, verloren geht. Was meinst Du? Soll ich mich dort anbieten?

Ich könnte ja einen Roman auch darüber schreiben; denn bei allem Wunderbaren, was dort geschieht, hab ich doch schon eine Ahnung von der Tragik, die diesem Menschen bevorsteht. Ich habs auch dem Pfarrer gesagt, dass sie dort Schweres werden durchmachen müssen.

[...] Vielleicht reise ich und komme noch einmal hierher zurück. Ein Roman wäre natürlich ein Publikumserfolg. Ich dachte das gestern, als ich von Konnersreuth zurückging.

 

Hugo Ball antwortet von Agnuzzo am „Dienstag Mittag“ (31. Mai 1927) darauf regieartig: „Die Biographie Theresens würde ich an allen fraglichen oder auffälligen Punkten durch eindringliches Weiterfragen bei den Eltern oder beim Pfarrer zu vervollständigen suchen. Die Gefühlsmomente wirst Du ja nicht vergessen [...].“ Und im Brief an „Emmy, mein Liebling“ (wahrscheinlich vom 11. 6. 1927) ergänzt Hugo Ball:

Was Du von Waldsassen noch schriebst, das ist alles so besonders, und schön, dass ich mir wohl denken kann, wie dieses ganze Erlebnis Dich weiter und weiter beschäftigen muss. Besonders freut es mich für Dich, mein Emmy, dass Du mehrere Stunden lang allein bei Therese sein konntest [...] In Waldsassen oder Konnersreuth müsstest Du dann ganz innig mit Pfarrer Naber zusammenarbeiten und alle Kleinigkeiten sehr genau nehmen. Die Hauptsache dabei ist, dass Therese Vertrauen und Liebe für Dich hat. In Deutschland kann ich es dann schon möglich machen, dass wir etwas Genaues über das Resultat der bischöflichen Untersuchung und über die Stellungnahme der Kirche erfahren. Also Mut, mein Emmy! [...] Mit den Bildchen von Therese hast Du uns sehr glücklich gemacht, mein Emmy [...].

Hugo Ball hat bereits „mein lieb Emmy“ (Brief vom 30. Mai 1927) auch noch aufgefordert, Wunsiedel, die Stadt Jean Pauls, zu besuchen. Von diesem eingeschobenen Kurzbesuch und ihren Eindrücken und Begegnungen in Konnersreuth („aber ich denke immer an Therese ...“), die nachwirken und sie nicht loslassen, berichtet sie dem befreundeten Dichter Hermann Hesse. Hugo Ball hatte reiseanregend eigens „postlagernd Waldsassen“ einen Jean-Paul-Auswahlband übersenden lassen.

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Hugo Balls Ende

Während der Pfingstfeiertage 1927 hält sich Emmy Ball-Hennings noch in Waldsassen und Konnersreuth auf. Am 6. Juni schreibt sie – nach eindrucksreichen, merkwürdig erlebten Tagen – an ihren schwer erkrankten Mann: „[...] ich reise morgen.“ Ihren ursprünglichen Plan, noch nach Görlitz zu fahren, um das Grab des schlesischen Mystikers und Philosophen Jakob Böhme zu besuchen, gibt sie auf und plant eine Reise nach Dresden. Vorher besucht sie noch die Richard-Wagner-Stadt Bayreuth, wo auch Jean Paul wohnte und arbeitete.

Reslhaus in Konnersreuth nach einem Gemälde (1927) von Michael Lindner (1880-1941)

In der Zwischenzeit verschlechtert sich der Gesundheitszustand ihres seit Monaten erkrankten Mannes in Agnuzzo im schweizerischen Tessin. Diagnose: Magenkrebs. Am 29. Juni 1927 begleitet sie den Schwerkranken Hugo Ball nach Zürich, wo er am 2. Juli (Hermann Hesses 50. Geburtstag) im „Rote-Kreuz-Spital“ operiert wird. Zu spät ...

Am 14. September 1927 zerbricht die Welt Hugo Balls, der sich in einer seltsamen Wende zum katholischen Fundamentalismus zugewandt hatte:

Hugo Ball wollte in den Himmel zu den Engeln […]. Er war ein Mensch, der die Zeit hasste, sie als ein Ding des Teufels erklärte, aus ihr fliehen wollte ins Mittelalter, nach Byzanz, ins Paradies. Emmy, die blaue Blume, der Engel, das Kind (lasset die Kindlein zu mir kommen), die Fee, die Repräsentantin des Unterbewußten, des Göttlichen, des Wunders, sie war Ich und Du zugleich. Sie wußte, daß sie in besonderer Weise begehrt wurde, und so schuf sie Hugos Welt.

Emmy Ball-Hennings (Hugo Balls Weg zu Gott, 1931; Das irdische Paradies und andere Legenden, 1945) überlebt ihren ungewöhnlichen, exzentrischen Ehemann Hugo um 20 Jahre und wird im August 1948 auf dem gleichen Friedhof wie er in Gentilino beigesetzt. Wie beim Begräbnis im September 1927 ist es auch hier nur ein kleiner Kreis von verbliebenen Freunden, der Emmys Sarg folgt. Fazit der tiefen Verbundenheit des extravaganten Künstlerpaares: „das Paradies war für uns.“

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