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Jüdische Wiedergeburt am Dnipro

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Das Menorah Center in Dnipro: Herzstück ist die Synagoge „Goldene Rose“ im Vordergrund. Bild: Judith Leister

Zum zweiten Mal beginnt Kulturallmende das Literaturprojekt Eine Brücke aus Papier mit einem mehrtägigen deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen. Als Ort wurde diesmal Dnipro im Osten der Ukraine ausgewählt. Die Münchner Kulturjournalistin und Projekt-Mitkuratorin Judith Leister erzählt in Blogs von ihren Beobachtungen in der hierzulande nahezu unbekannten Millionenstadt – vom Treffen selbst. Näheres zum Projekt finden Sie hier ...

Die jüdische Gemeinde in Dnipro, dem früheren Jekaterinoslaw und sowjetischen Dnjepropetrowsk, erlebt seit der ukrainischen Unabhängigkeit einen Aufschwung. Bildmächtigstes Symbol hierfür ist das Menorah Center, eines der größten jüdischen Gemeindezentren der Welt.

Von vielen Standorten aus ist es gar nicht sichtbar, aber wenn man es denn sehen kann – wie etwa durch die Flucht des autofreien, weitgehend neu bebauten Katerynoslawskij Prospekts – dann erscheint es einem glanzvoll und unwirklich wie das Himmlische Jerusalem selbst: das Menorah Center der jüdischen Gemeinde von Dnipro. Mit seinen sieben gen Himmel ansteigenden Türmen, dessen höchster 77 Meter misst, ähnelt es nicht nur dem traditionellen siebenarmigen Leuchter, sondern erinnert auch an monumentale Tempelanlagen der Antike. In jedem Fall signalisiert das vom Architekten Olexander Sorin entworfene und 2012 eröffnete Center das neue Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde von Dnipro. Das monolithische Bauwerk steht auch für Schutz und Schirm der Juden, deren Leben hier oft bedroht war und die bis zum Holocaust ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten.

Jekaterinoslaw war schon im Zarenreich, das um die Jahrhundertwende von einer Welle antijüdischer Pogrome erfasst wurde, eine der russischen Städte mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil. Zu Beginn der Dreißiger Jahre soll die Zahl der Juden in Dnjepropetrowsk bei etwa 100.000 gelegen haben. Durch das Wüten der deutschen Besatzer zwischen August 1941 und Oktober 1943 kamen Zehntausende von ihnen ums Leben. Das Hauptquartier der Deutschen war übrigens im Hotel Astoria am zentralen Karl-Marx-Prospekt. Das Astoria ist noch heute als Hotel in Betrieb – allerdings werden auf seiner Website zwar die Wirren der Revolutionszeit, nicht aber die NS-Besatzung erwähnt. Die folgenden Jahrzehnte waren für die Juden der Sowjetukraine von antisemitischen Kampagnen und Stagnation geprägt. Viele wanderten nach Israel aus. Dass Dnipro heute die „jüdische Hauptstadt der Ukraine“ genannt wird, verdankt sich auch der Tatsache, dass die Stadt in der jüdischen Tradition bedeutsam ist.

 

Im Hotel Astoria am Hauptprospekt residierten in den Vierzigern die deutschen Besatzer. Bild: Judith Leister

Insbesondere für die internationale Bewegung der Lubawitscher Chassiden, deren Sitz sich in New York befindet, hat Dnipro einen hohen Stellenwert als frühere Geburts- und Wirkungsstätte des siebten Lubawitscher Rebben Menachem-Mendl Schneerson (1902-1994), der 1941 in die USA auswanderte. Anfang der Neunziger Jahre entsandte Schneerson seinen Schüler Schmuel Kaminetzky nach Dnjepropetrowsk, um in seiner Heimat und der seines Vaters, der dort gleichfalls ein bekannter Rabbiner war, wieder eine Gemeinde aufzubauen. Dies gelang, auch dank der Unterstützung der ukrainischen Milliardäre Henadij Boholjubov und Ihor Kolomoijskij, der Finanziers des Menorah Centers. Heute leben nach Schätzungen der jüdischen Gemeinde, deren Präsident Kaminetzky bis heute ist, bis zu 50.000 Juden in der Stadt. Die Infrastruktur ist exzellent ausgebaut: vom jüdischen Kindergarten bis zum Altenheim, von Talmud-Schulen bis zum größten jüdischen Gymnasium Europas bis zu eigenen jüdischen Medien ist alles vorhanden.

Das Menorah Center, nach eigener Aussage „das größte jüdische Gemeindezentrum der Welt“, ist eine wahre Stadt in der Stadt. Wachleute sichern die 42.000 Quadratmeter Gesamtfläche mit jüdischen Einrichtungen, einem Einkaufszentrum, koscherer Gastronomie, einem Hotel, einem Buchladen und einigen bislang noch nicht vermieteten Flächen. Eine Einrichtung im Hause von landesweiter Bedeutung ist das Tkuma, das „Institut zur Erforschung des Holocaust“. Es ist ein diskursives Zentrum, wenn es in der Ukraine um Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik mit Bezug zu jüdischen Themen geht. Hier finden regelmäßig Lehrerschulungen und Jugendprogramme, aber auch international hochkarätig besetzte Historiker-Tagungen statt. Das Team des Tkuma kuratiert zugleich die Ausstellungen im „Museum zur Erinnerung an das jüdische Volk und den Holocaust“ im ersten Stockwerk des Menorah Centers.

Durchschreitet man den Eingangsbereich des Museums, wo Tausende von schwarzen Davidsternen in die Wand eingearbeitet sind, dann taucht man ein in die Welt des osteuropäischen Judentums vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zwar ist das Museum auf die jüdische Geschichte von Dnipro spezialisiert, vertritt letztlich aber einen universellen Anspruch. Es finden sich alte und neue Kultgegenstände aus aller Welt, Torarollen aus Prag und Handschriften aus Vilnius, Wandmalereien aus nicht mehr vorhandenen Synagogen und nachgestellte Szenerien jüdischer Feiertage. Aber auch antisemitische Ausfälle wie der Pogrom von 1905, bei dem in der Stadt über 60 Menschen getötet wurden oder die Kiewer Beilis-Affäre von 1913, als der Jude Menachem Mendel Beilis des Ritualmords an einem Jungen bezichtigt wurde, finden Erwähnung. Ein Ehrenplatz ist für die Darstellung der Chabad-Bewegung und ihrer wichtigsten Vertreter reserviert.

 

Vielfalt in Schwarz-Weiß: Szenen aus dem jüdischen Leben um 1900 im Museum. Bild: Kulturallmende

In großen Zügen geht es von Teilnahme von Juden am Ersten Weltkrieg und ihrem Schicksal während der Revolution über die jüdischen Agrarkommunen bis zum Massaker von Babyn Jar. Es gibt einen Exkurs zum Geschehen im nationalsozialistischen Deutschland, Berichte über die Flucht der Juden in den russischen Osten und die große Endschlacht am Dnjepr. Eine Ausstellung zum Holodomor, der Hungerkatastrophe mit Millionen Toten, ist gerade in Vorbereitung. Da sich das Museum laut Prospekt auch dem Ausräumen „negativer Stereotypen von Antisemitismus und Ukrainophobie“ verschrieben hat, ist ein – leider sehr kleiner – Bereich der Kollaboration gewidmet. Im letzten Saal schließlich finden sich Exponate zum Leben nach dem Holocaust und programmatische Schaukästen zu den Massakern an den Armeniern, der Deportation der Krimtataren, der Wolhynien-Tragödie sowie den Genoziden in Kambodscha und Ruanda.

Bei aller im Menorah Center vertretenen Vielfalt ist das spirituelle Herzstück des Gebäudekomplexes die Synagoge „Goldene Rose“, die zur Scholem-Alejchem-Straße hin liegt. Es handelt sich dabei um die alte Haupt-Choralsynagoge, die vor rund 150 Jahren an der Stelle der ersten Synagoge der Stadt gebaut worden ist. In der Sowjetzeit war das klassizistische Gebäude mit Portikus von einer Nähfabrik genutzt worden und trug einen Sowjetstern im Tympanon. Nach langen Kämpfen erhielt die Gemeinde die Synagoge 1996 zurück. Nach einer Renovierung und Umgestaltung, die im Innenbereich im maurischen Stil, mit wertvollen Materialien und exquisiten Oberflächen ausgeführt wurde, wurde sie 2000 wiedereröffnet. Jetzt prangt wieder der Davidstern auf dem Giebel.

 

Architektur als himmlische Verheißung: das Menorah Center an einem Sommerabend. Bild: Judith Leister

 

Judith Leister lebt in München. Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Osteuropa ist als freie Kulturjournalistin für NZZ, F.A.Z., Deutschlandfunk, SWR2 und SR2 tätig.

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