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In Dnipro am Dnipro

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Blick von der südlichen Uferpromenade auf einen Fluß, der ein Meer ist. Foto: Judith Leister

Zum zweiten Mal beginnt Kulturallmende das Literaturprojekt Eine Brücke aus Papier mit einem mehrtägigen deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen. Als Ort wurde diesmal Dnipro im Osten der Ukraine ausgewählt. Die Münchner Kulturjournalistin und Projekt-Mitkuratorin Judith Leister erzählt in Blogs von ihren Beobachtungen in der hierzulande nahezu unbekannten Millionenstadt – vom Treffen selbst. Näheres zum Projekt finden Sie hier ...

Zwischen Zarenpracht und Raketenmacht: Dnipro, früher bekannt als Dnjepropetrowsk, bietet vielfältige unentdeckte Sehenswürdigkeiten. Darüber vergisst man fast, dass die Front nur rund 200 Kilometer entfernt ist.

In der Steppe geht der Sonnenuntergang ganz schnell. Als unser Flugzeug landet, plumpst die rote Sonne vom Himmel wie ein Stein in ein Glas Wasser. Noch auf der Gangway wollen wir eine Aufnahme vom sowjetisch anmutenden, mintfarbenen Schriftzug „Dnipropetrosk“ über der Flughafenhalle machen. Nichts da, ein Flughafen-Mitarbeiter zwingt uns, das Foto zu löschen. Dnipro, wie die Stadt am gleichnamigen Fluss seit diesem Jahr heißt, ist Luftbasis für den Krieg in der Ostukraine. Davon künden auch die Militärhubschrauber auf dem Flugfeld. In der Stadt selbst ist vom Krieg wenig zu spüren, abgesehen von der Frequenz der Nationalfarben gelb und hellblau, die auch die Kinderkleidung prägen. Dnipro verbreitet in diesen Tagen die sommerliche Heiterkeit einer prosperierenden Millionenstadt. Aber die Touristen fehlen. Liegt es am Krieg oder daran, dass Dnipro im Rest der Welt weitgehend unbekannt ist?

Wer meint, eine Stadt, die bis vor kurzem den unaussprechlichen Namen Dnipropetrowsk trug, wäre unwirtlich, irrt. Dnipro ist ein städtebauliches Juwel. Gegründet wurde es 1776 von Katharina der Großen als Jekaterinoslaw, als Bollwerk gegen die Osmanen. Katharinas Gouverneur und Galan, Fürst Potjomkin, ließ als Herzstück einen kilometerlangen Prospekt mit breitem Grünstreifen in der Mitte anlegen, der auch heute noch die Hauptgeschäftsstraße bildet. Rechts und links davon liegen prachtvolle klassizistische und Jugendstil-Gebäude in blau, gelb, grün oder rosa, oft von weißen Säulen untergliedert. „Jekaterininki“ werden die zwei- bis dreistöckigen Bauwerke liebevoll genannt. Der Boulevard führt im Osten bis an den Fluss Dnipro, vorbei an ein paar U-Bahn-Baustellen, deren Fertigstellung seit 20 Jahren nicht nur am harten Granitboden scheitert. Noch heißt die Allee nach Karl Marx. Bald wird sie den Namen Dmytro Jawornyzkis, des berühmten ukrainischen Forschers, tragen. Zuerst wurde in Dnipro der ehemalige Lenin-Platz in „Platz der Helden des Maidan“ umbenannt. Bald werden auch die nach Gorki, Liebknecht, Zetkin und anderen sozialistischen Granden benannten Straßen und Plätze folgen. Doch der Austausch der Straßenschilder lässt auf sich warten – sehr zum Ärger der Dniproer Taxifahrer.

Straßen und Plätze: Lenin & Co. haben als Namensgeber ausgedient. Foto: Judith Leister

Im Gegensatz zu den unruhigen politischen Zeitläuften windet sich der Dnipro von Kiew kommend in einer großen ruhigen Schleife durch die Stadt, bevor er viele Kilometer südlicher ins Schwarze Meer einmündet. Manchmal erinnert der große Fluss an ein Meer – wenn nicht die Seerosen wären. An der Uferpromenade warten schwimmende Restaurants und kleine Dampfer auf Gäste, eine Event-Location liegt wie ein UFO auf dem Wasser. Fliegende Händler bieten gerösteten Mais oder Kaffee aus dem Autoheck an. Dennoch, wenn man die geschäftige Unruhe an der Promenade von Jalta oder an den Kanälen Petersburgs kennt, wirkt Dnipro fasst ein bisschen verträumt. Dreht man sich dann vom Ufer weg in Richtung Süden, versteht man jedoch, warum die Stadt auch „Manhattan am Dnipro“ genannt wird. Die zahlreichen modernen Hochhäuser sind weithin sichtbare Symbole für die Bedeutung der Finanz- und Handelsmetropole. Bis heute zehrt Dnipro auch von seinem Ruf als einstiges Zentrum der Raumfahrt und der Rüstungsindustrie. Bis 1989 war die Stadt für Ausländer geschlossen, trug den Spitznamen „Rocket City“. Noch immer existieren der frühere Rüstungsbetrieb Juschmasch und das dazugehörige Konstruktionsbüro Juschnoje. In den letzten 20 Jahren sollen hier jedoch nur noch Zivilraketen produziert worden sein. Und seit letztem Jahr gibt es praktisch keine Aufträge mehr. Für die immer noch schwer zugänglichen Betriebsstätten bietet der Besuch des „Raketenmuseums“ nur unzureichenden Ersatz.

Schnelldrehender Veranstaltungsort auf dem Fluss. Foto: Judith Leister

Inmitten des Parks, der nach dem omnipräsenten Nationaldichter Taras Schewtschenko benannt ist, liegt der Studentpalast der staatlichen Oles-Gontschar-Nationaluniversität. Das grüngelbe Gebäude sollte einmal der Gouverneurspalast des Fürsten Potjomkin werden. Im Jahr der Französischen Revolution erbaut, wurde es jedoch erst nach der Revolution fertiggestellt, für die Universität genutzt und dann im Zweiten Weltkrieg wieder teilweise zerstört. Im Eingangsbereich sitzt eine gelangweilte Wärterin hinter einem prachtvollen Tresen unter weißen Säulen und glitzernden Lüstern. Seltsam verschattet sind die langen Gänge des Instituts, in denen sich Studenten auf roten Samtsofas lümmeln. Der Ballsaal im Souterrain und der große Theatersaal strahlen einen geradezu imperialen Glanz aus, nur dass der Souverän die Arbeiter und Bauern sein sollten. Seltsam, das noble alte Adelsnest so ganz in der Hand des Volkes zu sehen – und unter den Bedingungen des deutschen Immobilienmarkts undenkbar.

Eine kreisrunde Kolonnade schließt den Park ab und führt weiter zum Oktober-Platz, wo an allen Ecken Überraschungen warten. Jenseits der Hauptstraßen dämmern Villen mit eingefallenen Dächern ihrem warmen Abriss entgegen. Bei manchen strahlt die Sonne nur noch durch die vordere Häuserfront. Andere sind überwuchert wie alte Tempelanlagen im Urwald. Auf den freigewordenen Grundstücken entstehen oft zwanzigstöckige Hochhäuser, die feudale Blicke auf die Stadt und den Fluss eröffnen. Dazwischen kauern als verlässlichstes Element Chruschtschowkas, einfache Ziegelbauten aus der sowjetischen Tauwetterperiode, aber auch fantastische Betongebilde, von denen eines eine Vergangenheit als Nachtlokal hat, wie die verwitterte Schrift am Eingang verrät. Auf der Komsomolsky-Insel überragt der Kopf einer überdimensionalen Schewtschenko-Figur die Bäume. Wieder einmal leuchten goldene Kirchenkuppeln.

Historische Bausubstanz aus der Zeit vor der Revolution, hart am Verfall. Foto: Judith Leister

In einer historischen, vorbildlich restaurierten Markthalle finden sich Berge von Obst und Gemüse, Fleisch und Käse – aber keine Käufer. Im Kontrast dazu stehen die Flohmärkte am Straßenrand. Dort werden alte Schuhe, Spielzeug und Bücher angeboten. Einen seriösen Buchladen findet man kaum. Aber unweit vom Theater gibt es Marktstände, in denen Bücher als Second-Hand-Ware angeboten werden. Ein Menschenfeind muss sich die kreisrunden Litfasssäulen mit den handgroßen Fensterchen ausgedacht haben, in denen Zigarettenverkäuferinnen den ganzen Tag an den Hauptstraßen im Finstern sitzen. Aber es ist eben doch nicht alles normal, in diesem Sommer, in Dnipro. Vom Südbahnhof gingen früher sommers die Züge auf die Krim und in die Ostukraine. Heute sitzen im leeren Bahnhof nur noch zwei tapfere Ticketverkäuferinnen, die den Betrieb für täglich zwei bis drei Züge in die benachbarte Provinz aufrechterhalten.

Second-Hand-Buchstände: Warten auf Kundschaft. Foto: Kulturallmende

 

Judith Leister lebt in München. Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Osteuropa ist als freie Kulturjournalistin für NZZ, F.A.Z., Deutschlandfunk, SWR2 und SR2 tätig.

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