Die jungen Autorinnen Luise Maier und Lara Hampe bloggen einen Briefroman (17)
Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet wieder Luise Maier auf den letzten Brief. Sie ist 1991 in Oberösterreich geboren, aufgewachsen in Niederbayern und lebt heute in Biel. Ihren ersten Roman hat sie eben abgeschlossen. Im Juni 2015 war sie Stipendiatin des Literaturkurses in Klagenfurt. Dort lernte sie auch Lara Hampe kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
*
1.7.2016
Dazu ertönt eine Stimme aus dem Fernseher, der wie eine große Überwachungskamera über dem Tresen der Kneipe in Colorado hängt, oder aus der Nachbarkabine, auf deren Holzwände Herzen und Initialen eingeritzt sind, oder aus dem Mikrophon der Sprecherkabine, als würden alle Stimmen, die jemals hineingesprochen wurden, sich zu einer vereinen, die hinausspricht, oder aus der Notfallsprechanlage im Linienbusklo, circa auf der Höhe von Izmir.
Sieh mich an. Jetzt, da ich so vor dir liege und wehrlos bin, will ich, dass du meine Geheimnisse und Träume erfährst. Ich will, dass du alles über mich weißt.
Materialgirl, dessen Name übrigens Anita ist, macht ein Gesicht, als wäre es auch eingegipst.
Erstens: Im Alter von 19 Jahren, fünf Monaten und acht Tagen ging ich in einen Sex-Shop an der Reeperbahn. Dort sah ich ein Kostüm aus schwarzem Leder, ein Anzug für eine Frau, der bedeckte jeden Zentimeter der Schaufensterpuppe. Der Kopf war ein Pferdekopf, und die Hände und Füße waren Hufe. Ich kaufte das Kostüm. Zuhause zog ich es an und machte mit meinem Smartphone ein Selfie, das ich an Markus H. schickte. Er antwortete kurz darauf mit einem Bild von seinem Schwanz. Ich stellte mir vor, wie wir es miteinander trieben, wobei ich wieherte wie ein Pferd und er grunzte wie ein Schwein. Am nächsten Tag brachte ich das Kostüm in den Laden zurück.
Zweitens: Vor meiner ersten gynäkologischen Untersuchung erklärte mir der Arzt anhand eines Modells meinen Unterleib. Dabei stocherte er mit dem Untersuchungsstab so fest darin herum, dass der Uterus herausfiel. Das Plastik machte ein dumpfes Geräusch, als es auf dem PVC landete. Ich bückte mich, um den Uterus aufzuheben und gab ihn dem Arzt zurück. Es war ein junger Arzt, er hatte ganz nasse Hände vor Aufregung. Weil er mir Leid tat, ließ ich mich trotzdem von ihm untersuchen.
Drittens: Neulich träumte ich, ich wäre hochschwanger. Mein Bauch wölbte sich wie die ganze Weltkugel nach außen. Als ich gebar, war das Kind jedoch nicht ausgereift, es war immer noch ein Embryo, so groß wie ein Daumennagel und so weiß wie eine Mandel, nachdem man sie in einem Wasserbad eingeweicht und ihr danach die Haut abgezogen hat. Ich wollte den Embryo wiederbeleben, aber meine Finger waren zu groß für eine Herzdruckmassage an dem kleinen Leib. Ich legte das tote Kind in Spiritus ein. Er schwamm fortan in einer Gebärmutter aus Glas auf meinem Schreibtisch.
Den bisherigen Briefwechsel lesen Sie hier:
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Zwei vielversprechende Nachwuchsautorinnen schreiben sich Briefe – über ihr literarisches Schaffen und ihre Lektüren, über Einflüsse, Zweifel und Euphorie. Kann man die Schriftstellerei überhaupt lernen? Und worüber schreiben, wenn man doch noch nicht seinen eigenen Platz in der Welt gefunden hat? Wie früh soll man sich in die Öffentlichkeit wagen? Luise Maier und Lara Hampe, die an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studierten bzw. studieren, bloggen einen modernen Briefroman, der uns direkt und ungeschliffen mitverfolgen lässt, wie zwei junge Menschen zu Schriftstellerinnen reifen. Immer am 1. und am 15. eines Monats schreiben sie einander. Heute antwortet wieder Luise Maier auf den letzten Brief. Sie ist 1991 in Oberösterreich geboren, aufgewachsen in Niederbayern und lebt heute in Biel. Ihren ersten Roman hat sie eben abgeschlossen. Im Juni 2015 war sie Stipendiatin des Literaturkurses in Klagenfurt. Dort lernte sie auch Lara Hampe kennen. Je näher die beiden sich und ihrem Schreiben kommen, umso mehr zerfließen die Grenzen zwischen Reflexion und Fiktion – und zwischen den Autorinnen des Briefromans.
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1.7.2016
Dazu ertönt eine Stimme aus dem Fernseher, der wie eine große Überwachungskamera über dem Tresen der Kneipe in Colorado hängt, oder aus der Nachbarkabine, auf deren Holzwände Herzen und Initialen eingeritzt sind, oder aus dem Mikrophon der Sprecherkabine, als würden alle Stimmen, die jemals hineingesprochen wurden, sich zu einer vereinen, die hinausspricht, oder aus der Notfallsprechanlage im Linienbusklo, circa auf der Höhe von Izmir.
Sieh mich an. Jetzt, da ich so vor dir liege und wehrlos bin, will ich, dass du meine Geheimnisse und Träume erfährst. Ich will, dass du alles über mich weißt.
Materialgirl, dessen Name übrigens Anita ist, macht ein Gesicht, als wäre es auch eingegipst.
Erstens: Im Alter von 19 Jahren, fünf Monaten und acht Tagen ging ich in einen Sex-Shop an der Reeperbahn. Dort sah ich ein Kostüm aus schwarzem Leder, ein Anzug für eine Frau, der bedeckte jeden Zentimeter der Schaufensterpuppe. Der Kopf war ein Pferdekopf, und die Hände und Füße waren Hufe. Ich kaufte das Kostüm. Zuhause zog ich es an und machte mit meinem Smartphone ein Selfie, das ich an Markus H. schickte. Er antwortete kurz darauf mit einem Bild von seinem Schwanz. Ich stellte mir vor, wie wir es miteinander trieben, wobei ich wieherte wie ein Pferd und er grunzte wie ein Schwein. Am nächsten Tag brachte ich das Kostüm in den Laden zurück.
Zweitens: Vor meiner ersten gynäkologischen Untersuchung erklärte mir der Arzt anhand eines Modells meinen Unterleib. Dabei stocherte er mit dem Untersuchungsstab so fest darin herum, dass der Uterus herausfiel. Das Plastik machte ein dumpfes Geräusch, als es auf dem PVC landete. Ich bückte mich, um den Uterus aufzuheben und gab ihn dem Arzt zurück. Es war ein junger Arzt, er hatte ganz nasse Hände vor Aufregung. Weil er mir Leid tat, ließ ich mich trotzdem von ihm untersuchen.
Drittens: Neulich träumte ich, ich wäre hochschwanger. Mein Bauch wölbte sich wie die ganze Weltkugel nach außen. Als ich gebar, war das Kind jedoch nicht ausgereift, es war immer noch ein Embryo, so groß wie ein Daumennagel und so weiß wie eine Mandel, nachdem man sie in einem Wasserbad eingeweicht und ihr danach die Haut abgezogen hat. Ich wollte den Embryo wiederbeleben, aber meine Finger waren zu groß für eine Herzdruckmassage an dem kleinen Leib. Ich legte das tote Kind in Spiritus ein. Er schwamm fortan in einer Gebärmutter aus Glas auf meinem Schreibtisch.
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