Die Bechsteins: Ein Auszug aus dem neuen Buch von Gunna Wendt
Gunna Wendt lebt als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Neben ihren Arbeiten für Theater und Rundfunk publizierte sie Kurzgeschichten, Essays und Biographien, u.a. über Maria Callas, Helmut Qualtinger, Clara Rilke-Westhoff, Paula Modersohn-Becker, Liesl Karlstadt und die Furtwänglers. In ihrem neuen Buch beschreibt sie eindrucksvoll eine schillernde Dynastie in den Wirren ihrer Zeit: Als Carl Bechstein Mitte des 19. Jahrhunderts ein Liszt-Klavierkonzert besucht, wird er Zeuge, wie der Furor des Pianisten den Flügel nach und nach in seine Einzelteile zerlegt. Von da an ist es das Ziel des jungen Klavierbauers, Instrumente zu erschaffen, die das gesamte Spektrum von lyrischen bis dramatischen Tonfolgen bewältigen. Es wird der Beginn eines märchenhaften Aufstiegs, der jedoch auch dunkle Kapitel kennt. Wir publizieren den Anfang des Buches.
*
Die Bechsteins
Eine Familiengeschichte
Ich ging noch nicht zur Schule, als ich zum ersten Mal auf den Namen Bechstein stieß – und das gleich zweimal zur selben Zeit: als Aufschrift auf einem Klavier und als Name eines Verfassers von Märchen und Sagen, die ich vorgelesen bekam, zuerst von meiner Tante und später von meiner Freundin Sybille. Sie war fünf Jahre älter als ich. Als wir uns kennenlernten, konnte sie längst lesen, worum ich sie beneidete. Ihre Familie gehörte nicht zu den Alteingesessenen im Dorf, sondern zu den Flüchtlingen, denen nach dem Zweiten Weltkrieg überall auf dem Land Wohnungen zugewiesen wurden. Die Familie bestand aus meiner Freundin, ihrer viel älteren Schwester und ihrer Mutter – alleinerziehend, von irgendwo »aus dem Osten« kommend. Woher genau sie stammten und warum sie sich gerade in unserem kleinen Dorf angesiedelt hatten, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wo sie vorher gelebt hatten. Eine Zwischenstation war Hannover gewesen. Dort arbeitete Sybilles Schwester, wohnte zur Untermiete und kam immer nur am Wochenende in die kleine Wohnung.
Wenn ein Kind von fünf Jahren eine fremde Wohnung betritt, ist dort alles neu und selbstverständlich zugleich. Mir kam es damals nicht ärmlich vor, wie Sybille und ihre Mutter lebten. Im Gegenteil, sie besaßen ein großes schönes Radio mit Leuchtschrift, auf dem viel mehr Sender zu finden waren als auf unserem. Wenn Sybilles Mutter nicht gerade die Nachrichten eingeschaltet hatte, was sie regelmäßig tat, hörte sie Musik. Klassische Musik. Nie Gesang, fast immer Klavier. Und in dem kleinen Flur, der die Wohnküche vom Schlafzimmer, in dem es drei Betten gab, trennte, stand ein Klavier. Als ich zu Hause davon erzählte, wollte man mir nicht glauben. Auch nicht, dass Sybille Klavierunterricht nahm und für mein Empfinden wunderschön spielte. Da konnten die Nachbarn noch so sehr klopfen, wenn sie übte, und ihr Missfallen über den Lärm äußern. Als Sybille sich einmal weigerte, mir etwas vorzuspielen, weil die Nachbarn mit ihr geschimpft hatten, wurde ich so wütend, dass ich die Treppe hinunterlief, klingelte und, lauthals und mit dem Fuß aufstampfend, meinem Zorn freien Lauf ließ. Der Ausbruch des fünfjährigen erbosten Kindes wirkte: Eine Zeitlang ließen sie Sybille in Ruhe.
Auf dem Klavier stand ein Schriftzug mit einer kleinen Krone. »Bechstein«, las mir Sybille vor – das sei die Marke des Instruments. Fast zur selben Zeit entschied meine Tante, von »Grimms Märchen«, die ich auswendig kannte, auf »Bechsteins Märchen und Sagen« umzusteigen. Das dicke Buch enthielt viele Zeichnungen, die mich sofort in ihren Bann zogen. Vor manchen hatte ich Angst. Meine Tante hatte mir den Unterschied von Sagen und Märchen erklärt, daher wusste ich, dass Sagen einen Wahrheitsgehalt hatten und nicht nur ausgedacht waren. Rübezahl zum Beispiel: Sybilles Mutter hatte uns von diesem launischen Berggeist aus ihrer Heimat erzählt, der den Menschen manchmal half und Gutes tat, sie jedoch ein andermal an der Nase herumführte und sogar streng bestrafte. In Bechsteins Märchen-und-Sagen-Buch sah man ihn nur von der Seite, das Gesicht abgewandt, zielstrebig des Weges schreitend – mit rotem Bart, kräftigen nackten Beinen und einer schweren Keule über der Schulter. Es gab im Buch auch noch einen anderen Riesen mit rundem grimmigem Gesicht und rotem Haar, das in seinen ebenso roten Bart überging. Er war so groß, dass er, auf ein Hausdach gelehnt, ins Dorf hineinschaute – unbemerkt von seinen Bewohnern.
Das kleine Mädchen, das auf dem Cover des Buches abgebildet war, blickte ebenfalls in eine Miniaturwelt, wurde jedoch von deren Einwohnern wahrgenommen. Mit weitgeöffneten Armen betrachtete sie das Treiben der Däumlinge und Däumelinchen. Mit ihren blonden Zöpfen sah sie Sybille so ähnlich, als habe diese der Zeichnerin Modell gesessen. Weil das Buch zu Hause an seinem Platz bleiben musste, löste ich einfach den Umschlag ab, steckte ihn ein und zeigte ihn Sybille. In meiner Erinnerung war es der Tag, als sie mir verriet, dass der Schriftzug auf dem Klavier »Bechstein« lautete. Seither ist all das eng miteinander verbunden: die Märchen und Sagen Ludwig Bechsteins mit Wahrheitsgehalt, das Klavier von Bechstein mit der kleinen Krone und Sybille, die eines Tages nicht mehr da war. Während ich mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren war, hatte sie mit ihrer Mutter das Dorf verlassen. Keiner wusste genau, wo sie hingegangen waren. Kurz danach kam ich in die Schule und konnte bald selber lesen und schreiben. Da war ich wütend auf Sybille. Warum hatte sie sich nie bei mir gemeldet – ich hätte ihr so gern geschrieben. In meinen Träumen tauchte sie noch lange auf als das kleine blonde Mädchen vom Cover der Märchensammlung, das in einem schäbigen Hausflur auf einem prächtigen gekrönten Klavier für mich spielt.
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Gunna Wendt lebt als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Neben ihren Arbeiten für Theater und Rundfunk publizierte sie Kurzgeschichten, Essays und Biographien, u.a. über Maria Callas, Helmut Qualtinger, Clara Rilke-Westhoff, Paula Modersohn-Becker, Liesl Karlstadt und die Furtwänglers. In ihrem neuen Buch beschreibt sie eindrucksvoll eine schillernde Dynastie in den Wirren ihrer Zeit: Als Carl Bechstein Mitte des 19. Jahrhunderts ein Liszt-Klavierkonzert besucht, wird er Zeuge, wie der Furor des Pianisten den Flügel nach und nach in seine Einzelteile zerlegt. Von da an ist es das Ziel des jungen Klavierbauers, Instrumente zu erschaffen, die das gesamte Spektrum von lyrischen bis dramatischen Tonfolgen bewältigen. Es wird der Beginn eines märchenhaften Aufstiegs, der jedoch auch dunkle Kapitel kennt. Wir publizieren den Anfang des Buches.
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Die Bechsteins
Eine Familiengeschichte
Ich ging noch nicht zur Schule, als ich zum ersten Mal auf den Namen Bechstein stieß – und das gleich zweimal zur selben Zeit: als Aufschrift auf einem Klavier und als Name eines Verfassers von Märchen und Sagen, die ich vorgelesen bekam, zuerst von meiner Tante und später von meiner Freundin Sybille. Sie war fünf Jahre älter als ich. Als wir uns kennenlernten, konnte sie längst lesen, worum ich sie beneidete. Ihre Familie gehörte nicht zu den Alteingesessenen im Dorf, sondern zu den Flüchtlingen, denen nach dem Zweiten Weltkrieg überall auf dem Land Wohnungen zugewiesen wurden. Die Familie bestand aus meiner Freundin, ihrer viel älteren Schwester und ihrer Mutter – alleinerziehend, von irgendwo »aus dem Osten« kommend. Woher genau sie stammten und warum sie sich gerade in unserem kleinen Dorf angesiedelt hatten, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wo sie vorher gelebt hatten. Eine Zwischenstation war Hannover gewesen. Dort arbeitete Sybilles Schwester, wohnte zur Untermiete und kam immer nur am Wochenende in die kleine Wohnung.
Wenn ein Kind von fünf Jahren eine fremde Wohnung betritt, ist dort alles neu und selbstverständlich zugleich. Mir kam es damals nicht ärmlich vor, wie Sybille und ihre Mutter lebten. Im Gegenteil, sie besaßen ein großes schönes Radio mit Leuchtschrift, auf dem viel mehr Sender zu finden waren als auf unserem. Wenn Sybilles Mutter nicht gerade die Nachrichten eingeschaltet hatte, was sie regelmäßig tat, hörte sie Musik. Klassische Musik. Nie Gesang, fast immer Klavier. Und in dem kleinen Flur, der die Wohnküche vom Schlafzimmer, in dem es drei Betten gab, trennte, stand ein Klavier. Als ich zu Hause davon erzählte, wollte man mir nicht glauben. Auch nicht, dass Sybille Klavierunterricht nahm und für mein Empfinden wunderschön spielte. Da konnten die Nachbarn noch so sehr klopfen, wenn sie übte, und ihr Missfallen über den Lärm äußern. Als Sybille sich einmal weigerte, mir etwas vorzuspielen, weil die Nachbarn mit ihr geschimpft hatten, wurde ich so wütend, dass ich die Treppe hinunterlief, klingelte und, lauthals und mit dem Fuß aufstampfend, meinem Zorn freien Lauf ließ. Der Ausbruch des fünfjährigen erbosten Kindes wirkte: Eine Zeitlang ließen sie Sybille in Ruhe.
Auf dem Klavier stand ein Schriftzug mit einer kleinen Krone. »Bechstein«, las mir Sybille vor – das sei die Marke des Instruments. Fast zur selben Zeit entschied meine Tante, von »Grimms Märchen«, die ich auswendig kannte, auf »Bechsteins Märchen und Sagen« umzusteigen. Das dicke Buch enthielt viele Zeichnungen, die mich sofort in ihren Bann zogen. Vor manchen hatte ich Angst. Meine Tante hatte mir den Unterschied von Sagen und Märchen erklärt, daher wusste ich, dass Sagen einen Wahrheitsgehalt hatten und nicht nur ausgedacht waren. Rübezahl zum Beispiel: Sybilles Mutter hatte uns von diesem launischen Berggeist aus ihrer Heimat erzählt, der den Menschen manchmal half und Gutes tat, sie jedoch ein andermal an der Nase herumführte und sogar streng bestrafte. In Bechsteins Märchen-und-Sagen-Buch sah man ihn nur von der Seite, das Gesicht abgewandt, zielstrebig des Weges schreitend – mit rotem Bart, kräftigen nackten Beinen und einer schweren Keule über der Schulter. Es gab im Buch auch noch einen anderen Riesen mit rundem grimmigem Gesicht und rotem Haar, das in seinen ebenso roten Bart überging. Er war so groß, dass er, auf ein Hausdach gelehnt, ins Dorf hineinschaute – unbemerkt von seinen Bewohnern.
Das kleine Mädchen, das auf dem Cover des Buches abgebildet war, blickte ebenfalls in eine Miniaturwelt, wurde jedoch von deren Einwohnern wahrgenommen. Mit weitgeöffneten Armen betrachtete sie das Treiben der Däumlinge und Däumelinchen. Mit ihren blonden Zöpfen sah sie Sybille so ähnlich, als habe diese der Zeichnerin Modell gesessen. Weil das Buch zu Hause an seinem Platz bleiben musste, löste ich einfach den Umschlag ab, steckte ihn ein und zeigte ihn Sybille. In meiner Erinnerung war es der Tag, als sie mir verriet, dass der Schriftzug auf dem Klavier »Bechstein« lautete. Seither ist all das eng miteinander verbunden: die Märchen und Sagen Ludwig Bechsteins mit Wahrheitsgehalt, das Klavier von Bechstein mit der kleinen Krone und Sybille, die eines Tages nicht mehr da war. Während ich mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren war, hatte sie mit ihrer Mutter das Dorf verlassen. Keiner wusste genau, wo sie hingegangen waren. Kurz danach kam ich in die Schule und konnte bald selber lesen und schreiben. Da war ich wütend auf Sybille. Warum hatte sie sich nie bei mir gemeldet – ich hätte ihr so gern geschrieben. In meinen Träumen tauchte sie noch lange auf als das kleine blonde Mädchen vom Cover der Märchensammlung, das in einem schäbigen Hausflur auf einem prächtigen gekrönten Klavier für mich spielt.