Auszug aus einem entstehenden Roman der Schriftstellerin Sabine Zaplin
Sabine Zaplin lebt als Autorin und Kulturjournalistin mit ihrer Familie in der Nähe von München. Ihr Romandebüt „Engelsalm" (C.H. Beck, 2003) wurde mit einem Literaturstipendium der Landeshauptstadt München gefördert. Neben Prosa schreibt sie auch Theaterstücke und übersetzt aus dem Englischen. Zuletzt erschien ihr Roman „Alle auf Anfang“ (LangenMüller, 2011). Wir publizieren einen Auszug aus ihrem neuen, noch unveröffentlichten Romanprojekt. Es erzählt die Geschichte von Janos, einem ehemaligen Pfarrer, der sich im Sommer 2012 in einem alten VW-Bus auf den weiten Weg nach Deutschland macht – zusammen mit vier jungen Männern, modernen Grenzgängern, die es ebenfalls Richtung Westen zieht. Ein Road Movie entlang der Glücksversprechen zwischen Ost- und Westeuropa.
*
Attilas Geige
Das Dorf war immer noch da. Als ob nichts geschehen wäre.
Seine Häuser, in den Dreck geworfen wie die Hundekadaver oben an der Europastraße, genauso tot und vergessen und von innen verfault. Seine hölzernen und vor so langer Zeit von den ungarischen Siedlern handgeschnitzten Szeklertore, die die Welt nicht draußen halten konnten und das Drinnen nicht verbargen. Sein Dorfgestank.
Langsam ließ Janos den VW-Bus über den ungeteerten Weg rollen, ließ sich durchschütteln bei jedem Schlagloch und hustete jedesmal, wenn ihm der aufgewirbelte Staub in die Nase stieg. Trotzdem ließ er die Fenster heruntergekurbelt. Es war um die Mittagszeit und so heiß, dass die Luft schmolz.
Neben Janos auf dem Beifahrersitz lag der Geigenkoffer. Lag da, als ob er hierher gehörte, in diese Plastikpolster, als ob er zu Janos gehörte. Und die Unebenheit der Straße beutelte den Koffer genauso wie Janos, so rutschte und ruckelte er hin und her. Beim nächsten Schlagloch legte Janos die Hand darauf, und dann stand der Bus auch schon vor dem Tor zum alten Pfarrhaus. Er war wieder da. Zuhause.
Stieg aus, schob das Tor auf, und sofort war der Hund bei ihm, bellte, fiepte, kroch beinahe in ihn hinein. Janos ging in die Knie, krallte sich fest im verfilzten Fell des Tieres, und erst, als er ihre Stimme hörte, bemerkte er sie. Andreia. Saß auf den bröckelnden Stufen der Veranda und sah ihn an.
„Wo sind die Jungs?“
Andreia aus den Wäldern. Andreia mit den Streichholzbeinen. Alles drohte zu brennen, wenn sie durchs Dorf ging. Was tat sie hier? Ihre Haare so wasserstoffblond wie am Tag seiner Abfahrt, warum tat sie das, die Haare färben. Er hätte jetzt aufstehen müssen, zu ihr gehen. Er schaffte es nicht. Blieb hocken, die Knie zitterten.
„Wo hast du die Jungs gelassen?“ fragte Andreia. Ihre Stimme klang, als wüsste sie die Antwort schon.
„In Deutschland“, erklärte Janos darum dem Hund. „Sie sind in Deutschland geblieben. Was machst du hier? Andreia?“
Andreia sagte nichts. Umschlang die Knie und sah ihn an. Wartete.
Janos stand auf, ging zum Bus und nahm den Geigenkoffer vom Beifahrersitz. Er wusste, was er zu tun hatte, er machte einen Schritt auf sie zu, doch der Anblick ihrer aufgerissenen Augen ließ ihn stehenbleiben.
„Du hast die Geige?“
Was musste sie jetzt denken? Er sah auf den abgegriffenen alten Koffer in seiner Hand, der irgendwann einmal schwarz gewesen war und jetzt von einem verwaschenen Grau wie der Himmel im Herbst. Wie sie ihn ansah, diese Angst vor der nächsten Frage in den Augen.
„Ich war das nicht“, beeilte er sich zu erklären, „die Jungs, die haben … jedenfalls, hier ist sie wieder.“
Zwei, drei Schritte machte er auf sie zu und streckte ihr das Instrument entgegen.
„Zu spät“, sagte Andreia, „Attila ist tot“.
Er begriff nicht gleich. Setzte sich neben sie, hielt sich fest am Geigenkoffer, den er zwischen die Knie klemmte.
„Der alte Imker hat ihn gefunden. Er hing in der Sommerküche.“
Sie saßen lange nur da, schwiegen. Bis Andreia aufschluchzte. „Janos“, stieß sie mit erstickter Stimme aus und schlang die Arme um seinen Hals. „Wo bist du gewesen?“
*
Wie der alte VW-Bus jammerte. Wie sie drauf pfiffen. Laut und schräg und ohne jede Melodie. Sie waren aufgebrochen, endlich. Endlich unterwegs in Richtung Westen.
„Richtung Geld!“ rief Tibor, den sie Tibi nannten, weil er mit seinen knapp zwanzig Jahren der Jüngste war. Ein Spatz. „Geld“, tirilierte der Spatz von der Rückbank, und vorn trommelte Remus einen Wirbel dazu aufs Armaturenbrett. „Money, we´re coming! Money, we´re coming!“
Pepsi fiel mit ein, suchte einen richtigen Ton, so korrekt, wie er im Pfarrhaus den Tisch deckte bei ihren Mahlzeiten. Seine tiefe Stimme überlagerte die von Remus, obwohl Remus der Älteste war und die ältesten Rechte besaß und überhaupt bei allem den Ton angab. Fast dreißig war Remus und trotzdem ein Kind, wie die anderen. Wie Kinder grölten sie durcheinander, die jungen Männer, bis Janos der Kragen platzte.
„Ruhe!“ brüllte er. Konnte sich manchmal einfach nicht beherrschen.
„Ist gut, Pastor“, gab Pepsi sofort nach, und Remus hörte auf zu trommeln.
Er warf einen Blick auf Pepsi, der neben ihm saß. „Ist gut, Pastor“, äffte er ihn nach, aber Pepsi ließ sich nicht provozieren. Hielt den Kopf gesenkt, knetete seine Finger.
Die nächsten zwanzig Kilometer über war nichts zu hören außer dem Quietschen und Jammern des alten VW-Busses. Janos saß am Steuer.
Janos steuerte schon lange. Seit die Ersten vor seiner Haustür standen, die damals tatsächlich noch Jungs waren, und Janos tatsächlich noch Pastor gewesen war. Immer mehr Straßenkinder waren es geworden, immer mehr Jungs, kaum achtzehn und schon entlassen aus den Kinderheimen, die nicht mehr zuständig waren. Immer nur Jungs. Die Mädchen hatten ihren Platz woanders gefunden, aber die Jungs standen vor Janos` Tür, es war erstaunlich, wie schnell es sich herumgesprochen hatte zwischen Brasov und Cluj, dass man bei Janos in Sicherheit war, für ein paar Nächte oder auch länger.
Am längsten war Remus da. Remus und Levente, der hinten bei Tibi saß und der nicht gepfiffen oder gesungen hatte. Levente war der Schweigsamste, er hatte seine Gründe. Er machte erst den Mund auf, wenn es sich gar nicht mehr verhindern ließ.
Wie der Bus sich quälte, die Serpentinen hinauf, mitten hinein in die Karpaten. Wie rissig der Asphalt war, die Straße schon länger nicht mehr gerichtet. Wie er ächzte und jammerte und Tibi schon bald wieder summte, einen Karpatenblues, wild und berührend und völlig ohne Anmut. Im Rückspiegel sah Janos sein dunkles Gesicht, die Augen darin pflaumengroß.
„Pastor“, meldete Levente sich von hinten. Janos sah in den Straßengraben, ob wieder ein toter Hund dort läge. Levente war der Totengräber der Straßenköter. Aber darum ging es jetzt nicht.
„Sie sind wieder da“, sagte Levente, und mit dem Erklingen seiner Stimme war alles still, sogar der Bus.
„Sie haben uns eingeholt.“
*
„Was mache ich jetzt mit der Geige?“ fragte Janos.
Er saß neben Andreia auf der untersten Verandastufe vorm Pfarrhaus und betrachtete den Geigenkoffer auf seinen Knien. Grau und schwer lag er da, so grau wie der Erdboden vor der Stufe, den die Busräder vorhin aufgewühlt hatten.
„Zeig sie mal“, bat Andreia.
Janos schüttelte den Kopf. Legte, als könne er so den Koffer für immer verschlossen halten, fest die Hände drauf. Alles klebte, der Geigenkoffer, seine Hände, die Kleider am Leib. Die Luft war zum Durchschneiden dick.
„Attila braucht sie nicht mehr“, sagte Andreia. Zögerte kurz. Lehnte sich dann an ihn, und Janos wehrte sich nicht. Die Haut ihrer Arme berührte sich, sie klebten fest, bestimmt würden sie nie wieder loskommen voneinander. Wollte er das? Wollte sie das?
„Ja“, sagte Andreia, und wieder war Janos überrascht. Hatte er laut gedacht?
Er presste die Hände fester auf den Geigenkoffer. Die silberfarbenen Verschlüsse waren angelaufen. Wenn sie nur nie wieder aufgingen.
„Anfangs hatte ich keine Ahnung“, sagte er schnell, um irgendwas zu sagen, und sie sah ihn forschend an, ganz nah waren ihre schwarzen Augen, und die Angst darin war fast zu riechen.
„Ich wusste erst nicht, dass die Geige im Gepäck war“, er wich zurück, „ich dachte doch, es geht um Remus` Spielschulden.“
Eine Wolke lehnte sich an die Sonne, und Andreias Augen wurden noch schwärzer, die Angst wurde noch beißender. Bestimmt würde es später ein Gewitter geben, so drückend heiß, wie es war. Janos legte den Kopf in den Nacken und sah es kommen, der Himmel zog sich zusammen, das Sommerblau verwandelte sich in Pissgelb, und überall aus dem Erdreich kroch der Fäulnisgeruch hoch. Gewitter, wie in der Nacht vor ihrem Aufbruch. Überm Pfarrhaus grummelte es schon. Janos griff den Geigenkoffer und stand auf. Es wurde Zeit, die Sache zuende zu bringen.
„Ich gehe jetzt zum Imker“, sagte er, „die Geige lasse ich solange hier“.
Andreia blieb einfach sitzen und sah ihn an. Wollte etwas sagen. Schüttelte den Kopf, barg das Gesicht in den Knien. Janos zögerte. Das Pissgelb war schwefelig geworden. Es würde gewittern, natürlich, und alles würde wieder davonschwimmen, der Boden, der ganze Abfall, die Vorräte im Haus. Der Strom würde ausfallen, wie jedesmal. Wie in der Nacht vor dem Aufbruch.
„Warum bist du zurückgekommen?“
Ihre Stimme klang dumpf zwischen den Knien. Sie richtete sich auf, ein Schleier über ihren Augen. Er zuckte die Schultern, suchte nach Worten, einem Anfang, einem Weg, ihr jetzt, jetzt sofort alles zu erzählen. Die Sache hinter sich zu bringen. Schwieg aber doch. Es ging nicht. Noch nicht. Erst musste er zum Imker.
„Vielleicht bin ich auch schuld“, sagte Andreia leise.
„Das habe ich noch keinem erzählt, auch dem Imker nicht und erst recht nicht der Polizei.“
Über ihnen grummelte es jetzt stärker. Der Schwefelhimmel dunkelte ein. Andreia presste die Arme wie einen Schal um die Schultern.
„Am Abend vor eurem Verschwinden ist Attila wieder mal durchs Dorf gegeistert und hat rumgesponnen, wie so oft.“
Janos nickte. Ihr seid alle dran, hatte Attila gebrüllt, das war nichts Besonderes bei ihm, er selber hatte es auch gehört an jenem Abend.
„Aber etwas war anders“, fuhr Andreia fort, stockend, die Worte wollten nicht über ihre Lippen.
„Stromausfall war, wegen dem Gewitter. Ich bin raus auf den Hof, die Hunde waren so unruhig. Da stand er auf einmal vor dem Tor. Attila. Lass mich rein, hat er gesagt. Ganz ruhig, gar nicht mehr gebrüllt. Als ob er auf einmal vollkommen klar gewesen wäre. Lass mich rein. Bitte. Immer wieder. Als ob sie ihn holen würden und ich die einzige wäre, wo er in Sicherheit sein könnte.“
Am Himmel über ihnen ballten sich Wolkentürme zusammen. Sie sah ihn an. Die ganze Traurigkeit und Verlorenheit in ihren Augen, sie selber war Rumänien. Transsilvanien. Sie würde ihn aussaugen, bestimmt würde sie das. Er war so müde nach der Reise, er konnte sich gar nicht wehren.
„Ich habe ihn weggejagt, verstehst du? Ich dachte, der spinnt doch, und die Hunde haben wie wahnsinnig gebellt und gejault. Fast hätte ich sie auf ihn losgelassen. Woher sollte ich denn wissen, dass der geht und sich aufhängt?“
Janos schnürte es die Kehle zu. Der Geigenkoffer in seinen Händen wurde schwerer und schwerer. Er streckte ihn Andreia entgegen.
„Ich sehe nach dem Imker“, sagte er. Sie zögerte. Dann nahm sie ihm doch das Instrument ab. Er drehte sich um und ging zum Tor hinaus.
Auszug aus einem entstehenden Roman der Schriftstellerin Sabine Zaplin>
Sabine Zaplin lebt als Autorin und Kulturjournalistin mit ihrer Familie in der Nähe von München. Ihr Romandebüt „Engelsalm" (C.H. Beck, 2003) wurde mit einem Literaturstipendium der Landeshauptstadt München gefördert. Neben Prosa schreibt sie auch Theaterstücke und übersetzt aus dem Englischen. Zuletzt erschien ihr Roman „Alle auf Anfang“ (LangenMüller, 2011). Wir publizieren einen Auszug aus ihrem neuen, noch unveröffentlichten Romanprojekt. Es erzählt die Geschichte von Janos, einem ehemaligen Pfarrer, der sich im Sommer 2012 in einem alten VW-Bus auf den weiten Weg nach Deutschland macht – zusammen mit vier jungen Männern, modernen Grenzgängern, die es ebenfalls Richtung Westen zieht. Ein Road Movie entlang der Glücksversprechen zwischen Ost- und Westeuropa.
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Attilas Geige
Das Dorf war immer noch da. Als ob nichts geschehen wäre.
Seine Häuser, in den Dreck geworfen wie die Hundekadaver oben an der Europastraße, genauso tot und vergessen und von innen verfault. Seine hölzernen und vor so langer Zeit von den ungarischen Siedlern handgeschnitzten Szeklertore, die die Welt nicht draußen halten konnten und das Drinnen nicht verbargen. Sein Dorfgestank.
Langsam ließ Janos den VW-Bus über den ungeteerten Weg rollen, ließ sich durchschütteln bei jedem Schlagloch und hustete jedesmal, wenn ihm der aufgewirbelte Staub in die Nase stieg. Trotzdem ließ er die Fenster heruntergekurbelt. Es war um die Mittagszeit und so heiß, dass die Luft schmolz.
Neben Janos auf dem Beifahrersitz lag der Geigenkoffer. Lag da, als ob er hierher gehörte, in diese Plastikpolster, als ob er zu Janos gehörte. Und die Unebenheit der Straße beutelte den Koffer genauso wie Janos, so rutschte und ruckelte er hin und her. Beim nächsten Schlagloch legte Janos die Hand darauf, und dann stand der Bus auch schon vor dem Tor zum alten Pfarrhaus. Er war wieder da. Zuhause.
Stieg aus, schob das Tor auf, und sofort war der Hund bei ihm, bellte, fiepte, kroch beinahe in ihn hinein. Janos ging in die Knie, krallte sich fest im verfilzten Fell des Tieres, und erst, als er ihre Stimme hörte, bemerkte er sie. Andreia. Saß auf den bröckelnden Stufen der Veranda und sah ihn an.
„Wo sind die Jungs?“
Andreia aus den Wäldern. Andreia mit den Streichholzbeinen. Alles drohte zu brennen, wenn sie durchs Dorf ging. Was tat sie hier? Ihre Haare so wasserstoffblond wie am Tag seiner Abfahrt, warum tat sie das, die Haare färben. Er hätte jetzt aufstehen müssen, zu ihr gehen. Er schaffte es nicht. Blieb hocken, die Knie zitterten.
„Wo hast du die Jungs gelassen?“ fragte Andreia. Ihre Stimme klang, als wüsste sie die Antwort schon.
„In Deutschland“, erklärte Janos darum dem Hund. „Sie sind in Deutschland geblieben. Was machst du hier? Andreia?“
Andreia sagte nichts. Umschlang die Knie und sah ihn an. Wartete.
Janos stand auf, ging zum Bus und nahm den Geigenkoffer vom Beifahrersitz. Er wusste, was er zu tun hatte, er machte einen Schritt auf sie zu, doch der Anblick ihrer aufgerissenen Augen ließ ihn stehenbleiben.
„Du hast die Geige?“
Was musste sie jetzt denken? Er sah auf den abgegriffenen alten Koffer in seiner Hand, der irgendwann einmal schwarz gewesen war und jetzt von einem verwaschenen Grau wie der Himmel im Herbst. Wie sie ihn ansah, diese Angst vor der nächsten Frage in den Augen.
„Ich war das nicht“, beeilte er sich zu erklären, „die Jungs, die haben … jedenfalls, hier ist sie wieder.“
Zwei, drei Schritte machte er auf sie zu und streckte ihr das Instrument entgegen.
„Zu spät“, sagte Andreia, „Attila ist tot“.
Er begriff nicht gleich. Setzte sich neben sie, hielt sich fest am Geigenkoffer, den er zwischen die Knie klemmte.
„Der alte Imker hat ihn gefunden. Er hing in der Sommerküche.“
Sie saßen lange nur da, schwiegen. Bis Andreia aufschluchzte. „Janos“, stieß sie mit erstickter Stimme aus und schlang die Arme um seinen Hals. „Wo bist du gewesen?“
*
Wie der alte VW-Bus jammerte. Wie sie drauf pfiffen. Laut und schräg und ohne jede Melodie. Sie waren aufgebrochen, endlich. Endlich unterwegs in Richtung Westen.
„Richtung Geld!“ rief Tibor, den sie Tibi nannten, weil er mit seinen knapp zwanzig Jahren der Jüngste war. Ein Spatz. „Geld“, tirilierte der Spatz von der Rückbank, und vorn trommelte Remus einen Wirbel dazu aufs Armaturenbrett. „Money, we´re coming! Money, we´re coming!“
Pepsi fiel mit ein, suchte einen richtigen Ton, so korrekt, wie er im Pfarrhaus den Tisch deckte bei ihren Mahlzeiten. Seine tiefe Stimme überlagerte die von Remus, obwohl Remus der Älteste war und die ältesten Rechte besaß und überhaupt bei allem den Ton angab. Fast dreißig war Remus und trotzdem ein Kind, wie die anderen. Wie Kinder grölten sie durcheinander, die jungen Männer, bis Janos der Kragen platzte.
„Ruhe!“ brüllte er. Konnte sich manchmal einfach nicht beherrschen.
„Ist gut, Pastor“, gab Pepsi sofort nach, und Remus hörte auf zu trommeln.
Er warf einen Blick auf Pepsi, der neben ihm saß. „Ist gut, Pastor“, äffte er ihn nach, aber Pepsi ließ sich nicht provozieren. Hielt den Kopf gesenkt, knetete seine Finger.
Die nächsten zwanzig Kilometer über war nichts zu hören außer dem Quietschen und Jammern des alten VW-Busses. Janos saß am Steuer.
Janos steuerte schon lange. Seit die Ersten vor seiner Haustür standen, die damals tatsächlich noch Jungs waren, und Janos tatsächlich noch Pastor gewesen war. Immer mehr Straßenkinder waren es geworden, immer mehr Jungs, kaum achtzehn und schon entlassen aus den Kinderheimen, die nicht mehr zuständig waren. Immer nur Jungs. Die Mädchen hatten ihren Platz woanders gefunden, aber die Jungs standen vor Janos` Tür, es war erstaunlich, wie schnell es sich herumgesprochen hatte zwischen Brasov und Cluj, dass man bei Janos in Sicherheit war, für ein paar Nächte oder auch länger.
Am längsten war Remus da. Remus und Levente, der hinten bei Tibi saß und der nicht gepfiffen oder gesungen hatte. Levente war der Schweigsamste, er hatte seine Gründe. Er machte erst den Mund auf, wenn es sich gar nicht mehr verhindern ließ.
Wie der Bus sich quälte, die Serpentinen hinauf, mitten hinein in die Karpaten. Wie rissig der Asphalt war, die Straße schon länger nicht mehr gerichtet. Wie er ächzte und jammerte und Tibi schon bald wieder summte, einen Karpatenblues, wild und berührend und völlig ohne Anmut. Im Rückspiegel sah Janos sein dunkles Gesicht, die Augen darin pflaumengroß.
„Pastor“, meldete Levente sich von hinten. Janos sah in den Straßengraben, ob wieder ein toter Hund dort läge. Levente war der Totengräber der Straßenköter. Aber darum ging es jetzt nicht.
„Sie sind wieder da“, sagte Levente, und mit dem Erklingen seiner Stimme war alles still, sogar der Bus.
„Sie haben uns eingeholt.“
*
„Was mache ich jetzt mit der Geige?“ fragte Janos.
Er saß neben Andreia auf der untersten Verandastufe vorm Pfarrhaus und betrachtete den Geigenkoffer auf seinen Knien. Grau und schwer lag er da, so grau wie der Erdboden vor der Stufe, den die Busräder vorhin aufgewühlt hatten.
„Zeig sie mal“, bat Andreia.
Janos schüttelte den Kopf. Legte, als könne er so den Koffer für immer verschlossen halten, fest die Hände drauf. Alles klebte, der Geigenkoffer, seine Hände, die Kleider am Leib. Die Luft war zum Durchschneiden dick.
„Attila braucht sie nicht mehr“, sagte Andreia. Zögerte kurz. Lehnte sich dann an ihn, und Janos wehrte sich nicht. Die Haut ihrer Arme berührte sich, sie klebten fest, bestimmt würden sie nie wieder loskommen voneinander. Wollte er das? Wollte sie das?
„Ja“, sagte Andreia, und wieder war Janos überrascht. Hatte er laut gedacht?
Er presste die Hände fester auf den Geigenkoffer. Die silberfarbenen Verschlüsse waren angelaufen. Wenn sie nur nie wieder aufgingen.
„Anfangs hatte ich keine Ahnung“, sagte er schnell, um irgendwas zu sagen, und sie sah ihn forschend an, ganz nah waren ihre schwarzen Augen, und die Angst darin war fast zu riechen.
„Ich wusste erst nicht, dass die Geige im Gepäck war“, er wich zurück, „ich dachte doch, es geht um Remus` Spielschulden.“
Eine Wolke lehnte sich an die Sonne, und Andreias Augen wurden noch schwärzer, die Angst wurde noch beißender. Bestimmt würde es später ein Gewitter geben, so drückend heiß, wie es war. Janos legte den Kopf in den Nacken und sah es kommen, der Himmel zog sich zusammen, das Sommerblau verwandelte sich in Pissgelb, und überall aus dem Erdreich kroch der Fäulnisgeruch hoch. Gewitter, wie in der Nacht vor ihrem Aufbruch. Überm Pfarrhaus grummelte es schon. Janos griff den Geigenkoffer und stand auf. Es wurde Zeit, die Sache zuende zu bringen.
„Ich gehe jetzt zum Imker“, sagte er, „die Geige lasse ich solange hier“.
Andreia blieb einfach sitzen und sah ihn an. Wollte etwas sagen. Schüttelte den Kopf, barg das Gesicht in den Knien. Janos zögerte. Das Pissgelb war schwefelig geworden. Es würde gewittern, natürlich, und alles würde wieder davonschwimmen, der Boden, der ganze Abfall, die Vorräte im Haus. Der Strom würde ausfallen, wie jedesmal. Wie in der Nacht vor dem Aufbruch.
„Warum bist du zurückgekommen?“
Ihre Stimme klang dumpf zwischen den Knien. Sie richtete sich auf, ein Schleier über ihren Augen. Er zuckte die Schultern, suchte nach Worten, einem Anfang, einem Weg, ihr jetzt, jetzt sofort alles zu erzählen. Die Sache hinter sich zu bringen. Schwieg aber doch. Es ging nicht. Noch nicht. Erst musste er zum Imker.
„Vielleicht bin ich auch schuld“, sagte Andreia leise.
„Das habe ich noch keinem erzählt, auch dem Imker nicht und erst recht nicht der Polizei.“
Über ihnen grummelte es jetzt stärker. Der Schwefelhimmel dunkelte ein. Andreia presste die Arme wie einen Schal um die Schultern.
„Am Abend vor eurem Verschwinden ist Attila wieder mal durchs Dorf gegeistert und hat rumgesponnen, wie so oft.“
Janos nickte. Ihr seid alle dran, hatte Attila gebrüllt, das war nichts Besonderes bei ihm, er selber hatte es auch gehört an jenem Abend.
„Aber etwas war anders“, fuhr Andreia fort, stockend, die Worte wollten nicht über ihre Lippen.
„Stromausfall war, wegen dem Gewitter. Ich bin raus auf den Hof, die Hunde waren so unruhig. Da stand er auf einmal vor dem Tor. Attila. Lass mich rein, hat er gesagt. Ganz ruhig, gar nicht mehr gebrüllt. Als ob er auf einmal vollkommen klar gewesen wäre. Lass mich rein. Bitte. Immer wieder. Als ob sie ihn holen würden und ich die einzige wäre, wo er in Sicherheit sein könnte.“
Am Himmel über ihnen ballten sich Wolkentürme zusammen. Sie sah ihn an. Die ganze Traurigkeit und Verlorenheit in ihren Augen, sie selber war Rumänien. Transsilvanien. Sie würde ihn aussaugen, bestimmt würde sie das. Er war so müde nach der Reise, er konnte sich gar nicht wehren.
„Ich habe ihn weggejagt, verstehst du? Ich dachte, der spinnt doch, und die Hunde haben wie wahnsinnig gebellt und gejault. Fast hätte ich sie auf ihn losgelassen. Woher sollte ich denn wissen, dass der geht und sich aufhängt?“
Janos schnürte es die Kehle zu. Der Geigenkoffer in seinen Händen wurde schwerer und schwerer. Er streckte ihn Andreia entgegen.
„Ich sehe nach dem Imker“, sagte er. Sie zögerte. Dann nahm sie ihm doch das Instrument ab. Er drehte sich um und ging zum Tor hinaus.