Info
03.03.2016, 14:40 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte
images/lpbblogs/autorblog/klein/Brecht_Graf_lpb_klein.jpg

Brecht und der Zug nach München. Eine Spurensuche

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/klein/Mnchen_c1840_Mnchen-Augsburger_Eisenbahn_500.jpg
München-Augsburger Eisenbahn. Aus: Erinnerungen an München. München, Hochwind, o.J. [ca. 1840]). Steingravüre

Es herrscht keine Einigkeit unter den Nörglern, was nun wirklich das Beste an Augsburg ist. Mal ist es der Eilzug, mal der Schnellzug, mal der D-Zug oder gar der D-Zugwagen, oft auch nur einsilbig der Zug nach München. Bei so viel Variation kommen allerdings Zweifel auf, ob es wirklich Bertolt Brecht war, der das bissige Bonmot geprägt hat, oder ob der grantelnde Volksmund seinen scharfen Schnabel gewetzt hat. In Brechts Werken und Briefen jedenfalls ist das „Zitat“ bislang nicht gefunden worden.

Stöbert man in der Literatur über Brecht, zeigt sich, dass Hanns Otto Münsterer in seinem 1963 veröffentlichten Buch Bert Brecht: Erinnerungen aus den Jahren 1917-1922 wohl der erste war, der den Dichter konkret mit dieser herablassenden Äußerung in Verbindung brachte:

[...] die Literaturhistoriker haben die Frage nach dem geistigen Raum der Stadt nicht zu Unrecht aufgeworfen. Der junge Brecht hätte darauf wahrscheinlich spöttisch geantwortet, der geistige Raum Augsburgs sei der D-Zugwagen nach München, und damit tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen.

Münsterers Erinnerungen beruhen auf Tagebuchnotizen, so dass sie durchaus Anspruch auf Zuverlässigkeit haben, aber im vorliegenden Fall vermutet er nur, was Brecht gesagt haben könnte.

Mit etwas Geduld lässt sich der Brecht so hartnäckig zugeschriebene Ausspruch tatsächlich bis ins Jahr 1926 zurückverfolgen. In der Dezembernummer der Schweizer Architekturzeitschrift Das Werk veröffentlichte der in München lebende Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein einen Aufsatz mit dem vielversprechenden Titel „Lob der Stadt Augsburg“, in dem sich diese bemerkenswerten Zeilen finden:

„Wenn München mein wär’, ich wollt’s zu Augsburg verzehren.“[1] Ich sage es den törichten Lästerern zum Trotz, die da behaupten, das Beste an Augsburg sei der Schnellzug nach München. Ach – ich bin mehr als hundert Mal in der Laune gewesen, die Lästerung umzukehren.

Eröffnung der Fahrten von München nach Augsburg (am 4. Oktober 1840). Aus: Der Bayerische Landbote, 3. Oktober 1840, S. 1256

War Brecht womöglich einer der „törichten Lästerer“, auf die der Verfasser anspielt? Es ist nicht ganz unwahrscheinlich; denn Hausenstein war Mitherausgeber der Münchner Literaturzeitschrift Neuer Merkur (1914-22) und Brecht ein regelmäßiger Gast im Redaktionsbüro in der Schwabinger Theresienstraße.

Seine Autorschaft ist damit freilich noch nicht bewiesen, denn der Plural „Lästerer“ deutet darauf hin, dass das Bonmot schon damals weitverbreitet war. Bereits im Jahr 1895, also drei Jahre vor Brechts Geburt, zitiert die Augsburger Abendzeitung entrüstet den Satz „daß das Schönste an Augsburg der Schnellzug nach München sei“. So wenig also wie Goethe das Götz-Zitat zuzuschreiben ist, hat Brecht den Zug nach München auf die Reise geschickt. Auch andernorts übrigens wurde in vollen Zügen zwischen rivalisierenden Städten gelästert: So konnte man 1905 in einer amerikanischen Zeitung, dem Saltlake Telegram, lesen: „The best thing about Boston is the five o'clock train to New York.“ Im tiefsten Afrika hieß es 1925, das Schönste an Djibouti sei der Zug, der zweimal die Woche nach Adis Abeba fahre; ein Music-Hall-Witz lautete: „The best thing about London is the train back to Glasgow“; und selbst von Zürich war zu hören (zumindest in der Stadt am Rhein), dass es nichts Besseres als den Nachmittags-Zug nach Basel zu bieten habe.

Brecht hin oder her – seit am 4. Oktober 1840 der erste Zug von Augsburg zum Oktoberfest nach München dampfte, rauchte und fauchte, lag der flapsige Spruch wohl einfach in der Luft.



[1] Der alte Spruch lautet: „Wenn Nürnberg mein wär‘, wollt ich‘s in Bamberg verzehren.“