Über den Schreibtisch Oskar Maria Grafs, den Tagesablauf Thomas Manns und die Aufräum-Methode Döstädning – Literarische Erkundungen (11)

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Alle Fotos (c) Fabienne Imlinger

Fabienne Imlinger tritt in die Fußstapfen von Katrin Diehl und übernimmt als Autorin die Themen-Reihe „Literarische Erkundungen in und um die Monacensia“ im Literaturportal Bayern. In ihren Erkundungen folgt Fabienne Imlinger einer Frage, die auf den ersten Blick eher nichts mit Literatur zu tun hat: Wer putzt?

Wie ihre Vorgängerin beginnt Fabienne Imlinger im „Forum Atelier“. Beim Kaffeetrinken irritiert sie ein komisches Klappern. Auf der Suche nach dessen Ursprung streift sie durch die Ausstellungsräume und schweift dabei in Gedanken ab: vom fröhlichen Chaos in der Cafébar Mona zu Sonderangeboten im Supermarkt, von einer Aufräum-Methode namens Döstädning zum Schreibtisch von Oskar Maria Graf, von König Ludwig II. zu Hengameh Yaghoobifarah, von ihrem eigenen, chaotischen Schreibtisch zum Tagesablauf von Thomas Mann.

Am Ende stößt Fabienne Imlinger nicht nur auf den Ursprung des Geklappers, sondern macht auch eine ziemlich überraschende Entdeckung.

*

Wer schreiben will, muss putzen. Über die Cafébar Mona, eine Aufräum-Methode und Marie Kondo

 

Hier stimmt etwas nicht. Und das ist ein wenig beängstigend.[1]

Habe ich Flausen im Kopf, oder klappert da wirklich etwas?

Es klappert wirklich, und zwar nebenan. Also aufstehen, den Kaffee am Tisch zurücklassen, die Tasche auch, wir sind hier immerhin nicht in Marseille, wie meine französische Tante sagen würde. In Marseille bin ich tatsächlich nicht, sondern in Bogenhausen. Die ganze Maria-Theresia-Straße nur schöne Häuser, manche bisschen runtergekommen, aber eher so shabby chic als verwahrlost. Und wie sie in Habacht stehen, die Häuser der Maria-Theresia-Straße, und wie sie ins Grüne glotzen mit ihren riesigen Fenstern und ihren zum Teil fragwürdigen Inhalten: Botschaften, Burschenschaften, Millionäre – und mittendrin die Monacensia.

Schön ist das Hildebrandhaus auch, sogar herrschaftlich mit den sechs Meter hohen Räumen, obwohl das Café mit allen Mitteln versucht, dagegen anzugehen: die Glaswände mit Kinderbildern beklebt, überall Stoffeliges und Zotteliges und Kisten mit Krimskrams, von der Decke baumelt ein Astronaut, nicht zu vergessen: die selbst gezimmerte Bushaltestelle draußen vor der Tür, dazu das kryptische Versprechen, drinnen gäbe es noch mehr Fernseher.

Fernseher gibt’s drinnen keine, dafür strahlt die Sonne durch die riesigen Glaswände, und ich höre schon meine andere französische Tante sagen: Wer putzt denn hier die Fenster, ein Riese? An München schätzen meine Tanten aus Marseille besonders die hundekotfreien Gehsteige, die gepflegten Grünanlagen und die Abwesenheit von Taschendieben im öffentlichen Nahverkehr.

Vor Jahren habe ich eine Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah gelesen, damals war Minimalismus in und Marie Kondo. Erinnern Sie sich noch an Marie Kondo? Aufräumen mit Methode. Es ging darum, alles auszumisten, was eine*n nicht glücklich macht. Weg mit überflüssigem Krimskrams, auch die Kleidung sollte nach einem bestimmten Prinzip gefaltet werden, sogar die Unterhosen. Das sollte nicht nur Platz, sondern auch Zeit sparen, und wie jede*r weiß, ist Zeit im Kapitalismus Geld. Geld hat Marie Kondo tatsächlich ordentlich damit verdient, und nicht nur sie, sondern zum Beispiel auch eine Frau aus Schweden, die Margareta Magnusson heißt und die Aufräum-Methode Döstädning entwickelt hat, was wörtlich übersetzt Todesreinigung bedeutet.[2]

Du machst wohl Witze, höre ich meine Tante sagen, aber ich meine es absolut ernst, und Margareta Magnusson auch. Sie legt uns nahe, zu Lebzeiten so wenig Sachen wie möglich anzusammeln, damit unsere Angehörigen das ganze Zeug nach unserem Tod nicht an der Backe haben. Was rücksichtsvoll klingt, mich aber trotzdem an das Filmplakat zu Das siebente Siegel von Ingmar Bergman erinnert – ich sage nur: bisschen düster. Meine Tanten haben beide schon vor Jahren Vorkehrungen für ihre Beerdigung getroffen, Musikauswahl inklusive, was sie nicht davon abhält, weiter fröhlich Kühlschrankmagneten zu sammeln und jedes erdenkliche Sonderangebot im Supermarkt zu kaufen, zuletzt etwa ein Überraschungs-Caddy mit Waren im Wert von 150 Euro für nur 49,90 Euro!

Während ich über den Zusammenhang zwischen dem Tod und einer vergoldeten 3-D-Vase in Form eines Kopfes nachdenke – ich sage nur: Überraschungs-Caddy! –, hat mich das komische Klappern zu einem Schreibtisch im Ausstellungsraum „Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann“ geführt. Der Schreibtisch, vor dem ich stehe, gehörte einmal Oskar Maria Graf, und er ist so leer, als wäre der Schriftsteller ein früher Anhänger des Döstädning gewesen.

Oskar Maria Grafs Schreibtisch – Phantomgeklapper, Kini und Minimalismus

Oskar Maria Graf, entnehme ich der Infotafel, lebte ab 1938 in einer kleinen Wohnung in New York, zusammen mit seiner Frau Mirjam Sachs. Der Schreibtisch ist eine platzsparende Sonderanfertigung, bei dem sich die Schreibfläche vergrößern und die Schreibmaschine unterhalb der mittleren Schublade verstauen lässt. Daher das Phantomgeklapper, denke ich, und male mir aus, wie die Schreibmaschine sich heimlich all die Jahre im Geheimfach versteckt hat und einfach munter weiter vor sich hin tippt.

Sein Arbeitsplatz, lese ich weiter, wurde für Graf zum Ort der Erinnerung: „Postkarten und Fotos zeigen Ansichten seiner verlorenen bayerischen Heimat.“ Hier verfasst er Das Leben meiner Mutter, ein Wälzer von einem Buch, das ich gelesen habe, kurz nachdem ich nach München kam, und ich erinnere mich vor allem daran, dass es darin ums Backen ging (zu Grafs Geburtshaus gehörte das Gewerberecht für eine Bäckerei), und um die schlechten Zähne des Königs. Der Kini, denke ich, konnte mit Minimalismus bestimmt genauso wenig anfangen wie Hengameh Yaghoobifarah.

Hengameh nämlich wittert im minimalistischen Trend à la Marie Kondo eine bürgerliche Ästhetik, für die Setzkästen, Nippes oder 3-D-Vasen in Kopfform ohnehin zum Inbegriff schlechten Geschmacks gehören. Außerdem lässt sich eine Altbauwohnung leichter aufs minimalistisch Eingemachte reduzieren, weil hohe Räume und Fischgrätparkett auch halb leer noch gut aussehen. Wohingegen eine halb leere Plattenbauwohnung mit Teppichboden und Raufasertapete wohl eher nicht shabby chic ist, sondern shabby trist.

Schatz, Du kommst vom Hundertsten ins Tausendste, höre ich die Tanten sagen, und es stimmt, mein Kopf ist wie ein Überraschungs-Caddy, ein Durcheinander, genauso wie mein Schreibtisch, an den ich beim Anblick des Schreibtisches von Oskar Maria Graf sofort denken musste, und zwar schuldbewusst. Mein Schreibtisch sieht nämlich meistens so aus, als würde ich niemals auch nur eine Sekunde an meinen Tod denken:

Und wenn Sie sich jetzt fragen, wie an diesem Schreibtisch ohne die Hilfe von Marie Kondo jemals etwas geschrieben werden soll, dann sind wir endlich bei der Frage angelangt, die mich im Rahmen meiner literarischen Erkundungen in und um die Monacensia interessiert, nämlich: Wer putzt?

Was hat das denn mit Büchern zu tun, höre ich meine Tanten sagen, räum lieber mal Deinen Schreibtisch auf. Ich kann ihnen – und auch Ihnen – versichern, dass diese Frage absolut grundlegend ist fürs Schreiben und für einen Ort wie die Monacensia, weil sich darin die Bedingungen von Literatur verstecken wie die Phantomschreibmaschine im Geheimfach von Oskar Maria Grafs Schreibtisch.

Tagesablauf von Thomas Mann – über Ordnung und Ungleichheiten

Nehmen Sie zum Beispiel Thomas Mann, der im Ausstellungsraum der Monacensia prominent gefeatured wird. Der Legende nach sah der Tagesablauf von Thomas Mann wie folgt aus: „vor acht Uhr auf(stehen), ein erstes Frühstück, Arbeit von Punkt neun bis zwölf. Ein leichtes Mittagessen, ein Nickerchen, um fünf die Teestunde. Darauf zwei Stunden Korrespondenz, Abendessen gibt es um acht, es folgen Radio, Gespräch oder Musik, dann lesen und vor zwölf ins Bett.“[3]

Fällt Ihnen etwas auf?

Genau.

Ich glaube nicht, dass Thomas Mann in seinem Leben auch nur einmal etwas geputzt hat, mit Ausnahme vielleicht seiner Brillengläser. Ich glaube auch nicht, dass er abgewaschen oder sein Bett gemacht oder im Supermarkt über den Kauf eines Überraschungs-Caddys nachgedacht hat. Er kam noch nicht einmal auf die Idee, diese Dinge zu tun, und umgekehrt erwartete es auch niemand von ihm, denn er war erstens ein Mann, zweitens wohlhabend und drittens weiß.[4]

Worum es mir also geht, sind die Ungleichheiten, die unsere Gesellschaft strukturieren und die – mindestens ebenso sehr wie Talent oder Disziplin oder Ehrgeiz – darüber entscheiden, wer putzt, und wer schreibt. Das aber hat schließlich auch etwas mit der Frage zu tun, die die Monacensia seit einigen Jahren umtreibt, nämlich: Wer bleibt?

(Sie ahnen die Antwort vielleicht schon: Es sind meistens wohlhabende weiße Männer.)

Ein letzter Blick auf den Schreibtisch des Bäckersohns aus Berg, Oskar Maria Graf.

Moment mal, was hängt denn da an der Seite?

Ich trete näher. Ich beuge mich vor – und sehe, beinahe ebenso gut versteckt wie die Schreibmaschine in ihrem Geheimfach: eine Bürste.

Eine Bürste?! Fragen öffnen sich in meinem Kopf wie Pop-up-Fenster für Sonderangebote: Hat Oskar Maria Graf seinen Schreibtisch gebürstet? Ist die Bürste eines seiner Erinnerungsstücke? Oder ist es ganz anders, und die Bürste wird von der Person benutzt, die hier im Hildebrandhaus dafür sorgt, dass der Schreibtisch picobello ist, die Böden gesaugt und die Scheiben sogar in sechs Meter Höhe blitzblank? Ist es ein Riese, wie meine Tante vermutet?

Ich werde versuchen, es herauszufinden.

Die „Literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu (jeden ersten Dienstag) und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin Feministin, Nichte und Autorin, und wenn Sie mögen, hören Sie doch mal in den Buchpodcast rein, den ich zusammen mit Martina Kübler betreibe. 


[1] Der erste Satz ist eine kleine Hommage an meine Vorgängerin, Katrin Diehl.

[2] Vgl.  Ausmisten und Ordnung schaffen: So geht's.

[3]  Der Autor und sein Homeoffice.

[4] In seinem Tagebuch verzeichnet er, dass ihn unter anderem folgende Dinge vom Einhalten des idealen Tagesablaufs abhielten: ein ungezogener Pudel, eine manierenlose Haushälterin, der Lärm der Kinder (es sind wohlgemerkt seine Kinder, von denen hier die Rede ist). Ich entnehme diese Informationen nicht einer Lektüre der 4.300 Tagebuch-Seiten von Thomas Mann, sondern dem Artikel von Felix Lindner, vgl. Der Autor und sein Homeoffice.

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