Logen-Blog [397]: Agnus non dei, sed albus
Ostersonntag, 2014
In einer Neuerscheinung dieses Jahres blätternd – den meistenteils nachgelassenen (!) Aufzeichnungen Elias Canettis zu dessen Lieblingsthema: dem Tod –, entdecke ich zweimal den Namen Jean Pauls, und zweimal in seltsamstem Zusammenhang mit Goethe, dem von ihm Bewunderten, dem ihm fremd Gegenüberstehenden:
Herder ist nicht erstickt. Sonst hätte Jean Paul ihn nicht lieben können.
Es ist sonderbar noch, dass Goethe nicht erstickt ist.
Die zweite Aufzeichnung klingt weniger kryptisch:
Im Mantel der Lebenszeit Goethes enthalten sind: Jean Paul, Hölderlin, E.T.A. Hoffmann, Kleist, Novalis, Hegel.
Viel Platz in diesem Leben.
Es war so viel Platz in ihm, dass er sogar nach Regensburg kam, wo am ehemaligen Gasthaus an der Steinernen Brücke an seinen Aufenthalt im September 1786 erinnert werden kann. Goethe auf dem Weg nach Italien, man kann das nachlesen. Regensburg liegt gar schön. Die Gegend musste eine Stadt herlocken... Die milde Luft, die ein großer Fluss mitbringt, ist ganz etwas Eigenes. Das Obst ist nicht sonderlich. Gute Birnen hab' ich gespeist; aber ich sehne mich nach Trauben und Feigen.
Da ist sie wieder: die leicht trockene, goethesche Stilisierung, ja: Camouflage. In einem Brief an Frau von Stein hatte er noch festgehalten, dass er einem alten Weibe, das mir am Wasser begegnete, für einen Kreuzer Birnen abgekauft habe. Die Birnen, die Werther einst seiner geliebten Lotte in Wetzlar geschenkt hatte, waren dem Reisenden unvergessen. Allein in Rom war er einer neuen Süßigkeit begegnet, die, man kann das in der Druckfassung der Italienischen Reise so lesen, aus den symbolischen Früchten normale Nutzfrüchte machten – aber die Regensburger Birnen sollten unvergessen bleiben.
Hätte sich Goethe mit einem guten Freund im Goldenen Lamm einquartieren können? Er hätte es, aber es wäre niemals jenes überbordende Stück Literatur herausgesprungen, das Jean Paul in der Hotelszene des Siebenkäs geschaffen hat. Der Held und sein alter ego, Herr Leibgeber, treffen sich da Mitte der 1780er Jahre (etwa in der Zeit, in der Goethe in Regensburg übernachtet) in Bayreuth, im Hotel Zur Sonne, wo sie sich herzlich lieb haben. 1790 sollte auch Goethe nach Bayreuth reisen und, mit dem weimarisch-herzoglichen Tross von Nürnberg kommend, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni sein müdes Haupt in die Kissen des Hotels am ehemaligen Rennweg legen – ohne einen Freund, dem er, wie der Doktor Fenk dem Ottomar, zuletzt noch eine Locke vom Kopf schneiden würde.
Die letzten Sätze in Ottomars Brief holen nämlich den Leser – den Doktor und den Romanenleser – wieder in die Welt und in die irdische Liebe zurück:
Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke genommen; solange ich lebe, soll die Seite, an der du den Lockenraub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne Zierde bleiben.
Woraufhin der Erzähler zu einem Lob jener Genies anhebt, deren Altersentwicklung in direktem Gegensatz zu ihrem Revoluzzertum stünde: wer mit 18 den Geschmack, die Tugend und die Grundsätze verfolge, werde später der Apostel desselben; ein fehlerloser Mensch könnte niemals ein derartig starker Verteidiger werden. Ottomar sei so ein Mensch – und also liebt ihn „Jean Paul“, der Männer mit Grundsätzen so schätzt.
Mag sein, dass im Verhältnis Goethes zu Jean Paul ein ähnliches Verhältnis herrschte. Jean Paul schätzte seit je den Dichter Goethe, Goethe aber wurde sich im Lauf des Lebens darüber klar, dass ein geheimer roter Faden in Jean Pauls scheinbar wirren Werken das Gespinst zusammenhält. Er selbst hatte sich von einem Revolutionär der Seele zu einem Mann des objektiv sein wollenden Maßes zurechtgearbeitet. Leute solchen alten Schlages mögen weniger liebenswert sein als jugendliche Strudelköpfe; nur Goethe selbst mochte wissen, was er und seine Freundschaften wert waren.
Allein wir lesen und lieben auch heute noch den Werther – und den zweiten Faust.
Logen-Blog [397]: Agnus non dei, sed albus>
Ostersonntag, 2014
In einer Neuerscheinung dieses Jahres blätternd – den meistenteils nachgelassenen (!) Aufzeichnungen Elias Canettis zu dessen Lieblingsthema: dem Tod –, entdecke ich zweimal den Namen Jean Pauls, und zweimal in seltsamstem Zusammenhang mit Goethe, dem von ihm Bewunderten, dem ihm fremd Gegenüberstehenden:
Herder ist nicht erstickt. Sonst hätte Jean Paul ihn nicht lieben können.
Es ist sonderbar noch, dass Goethe nicht erstickt ist.
Die zweite Aufzeichnung klingt weniger kryptisch:
Im Mantel der Lebenszeit Goethes enthalten sind: Jean Paul, Hölderlin, E.T.A. Hoffmann, Kleist, Novalis, Hegel.
Viel Platz in diesem Leben.
Es war so viel Platz in ihm, dass er sogar nach Regensburg kam, wo am ehemaligen Gasthaus an der Steinernen Brücke an seinen Aufenthalt im September 1786 erinnert werden kann. Goethe auf dem Weg nach Italien, man kann das nachlesen. Regensburg liegt gar schön. Die Gegend musste eine Stadt herlocken... Die milde Luft, die ein großer Fluss mitbringt, ist ganz etwas Eigenes. Das Obst ist nicht sonderlich. Gute Birnen hab' ich gespeist; aber ich sehne mich nach Trauben und Feigen.
Da ist sie wieder: die leicht trockene, goethesche Stilisierung, ja: Camouflage. In einem Brief an Frau von Stein hatte er noch festgehalten, dass er einem alten Weibe, das mir am Wasser begegnete, für einen Kreuzer Birnen abgekauft habe. Die Birnen, die Werther einst seiner geliebten Lotte in Wetzlar geschenkt hatte, waren dem Reisenden unvergessen. Allein in Rom war er einer neuen Süßigkeit begegnet, die, man kann das in der Druckfassung der Italienischen Reise so lesen, aus den symbolischen Früchten normale Nutzfrüchte machten – aber die Regensburger Birnen sollten unvergessen bleiben.
Hätte sich Goethe mit einem guten Freund im Goldenen Lamm einquartieren können? Er hätte es, aber es wäre niemals jenes überbordende Stück Literatur herausgesprungen, das Jean Paul in der Hotelszene des Siebenkäs geschaffen hat. Der Held und sein alter ego, Herr Leibgeber, treffen sich da Mitte der 1780er Jahre (etwa in der Zeit, in der Goethe in Regensburg übernachtet) in Bayreuth, im Hotel Zur Sonne, wo sie sich herzlich lieb haben. 1790 sollte auch Goethe nach Bayreuth reisen und, mit dem weimarisch-herzoglichen Tross von Nürnberg kommend, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni sein müdes Haupt in die Kissen des Hotels am ehemaligen Rennweg legen – ohne einen Freund, dem er, wie der Doktor Fenk dem Ottomar, zuletzt noch eine Locke vom Kopf schneiden würde.
Die letzten Sätze in Ottomars Brief holen nämlich den Leser – den Doktor und den Romanenleser – wieder in die Welt und in die irdische Liebe zurück:
Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke genommen; solange ich lebe, soll die Seite, an der du den Lockenraub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne Zierde bleiben.
Woraufhin der Erzähler zu einem Lob jener Genies anhebt, deren Altersentwicklung in direktem Gegensatz zu ihrem Revoluzzertum stünde: wer mit 18 den Geschmack, die Tugend und die Grundsätze verfolge, werde später der Apostel desselben; ein fehlerloser Mensch könnte niemals ein derartig starker Verteidiger werden. Ottomar sei so ein Mensch – und also liebt ihn „Jean Paul“, der Männer mit Grundsätzen so schätzt.
Mag sein, dass im Verhältnis Goethes zu Jean Paul ein ähnliches Verhältnis herrschte. Jean Paul schätzte seit je den Dichter Goethe, Goethe aber wurde sich im Lauf des Lebens darüber klar, dass ein geheimer roter Faden in Jean Pauls scheinbar wirren Werken das Gespinst zusammenhält. Er selbst hatte sich von einem Revolutionär der Seele zu einem Mann des objektiv sein wollenden Maßes zurechtgearbeitet. Leute solchen alten Schlages mögen weniger liebenswert sein als jugendliche Strudelköpfe; nur Goethe selbst mochte wissen, was er und seine Freundschaften wert waren.
Allein wir lesen und lieben auch heute noch den Werther – und den zweiten Faust.