Ingo Schulze spricht mit dem Journalisten des Bayerischen Rundfunks Niels Beintker über die Bücher seiner Kindheit
Der 1962 geborene Schriftsteller Ingo Schulze zählt zu den wichtigen literarischen Stimmen Deutschlands. In Dresden aufgewachsen, gilt er als scharfsinniger Beobachter ostdeutscher Befindlichkeit. Neben Romanen und Essays schreibt er gelegentlich Kinderbücher. Mit viel Wärme und Understatement spricht er am 14.5.2024 in der Internationalen Jugendbibliothek München über die Bücher seiner Kindheit.
*
Das entscheidende Stichwort an diesem unterhaltsamen Abend lautet „Langeweile“. Aus Langeweile habe er, der in seiner Kindheit und Jugend eigentlich keine Bücher mochte, begonnen zu lesen, auch weil ihn der Sport, an dem er teilnehmen sollte, zu langweilen begann und er ihn schwänzte. Wie viele Menschen seiner Generation war er zunächst von Comics begeistert. Der beste Comic der DDR, dort offiziell „Bilderzeitschrift“ getauft, sei das Magazin Mosaik gewesen. Der Amerikanische Bürgerkrieg war zu der Zeit, als Schulze die Hefte las, ein Großthema und die Helden, die an der Seite der Unterdrückten kämpften, hießen Dig, Dag und Digedag. Der Autor hat ein paar der alten Hefte mitgebracht und lässt sie im Publikum kreisen. Auch Wilhelm Busch gehörte mit seinen Bildgeschichten zu den Lieblingslektüren Schulzes.
Im Akademikerhaushalt seiner Eltern waren Bücher wichtig und präsent. Erst die Großmutter und später die Mutter hätten dem jungen Ingo Schulze vorgelesen – das heute umstrittene Dschungelbuch, Märchen aus Japan und anderen Ländern. Der Schriftsteller denkt darüber nach, dass Kindern darin einiges zugemutet werde. Die klare Trennung von Gut und Böse führe wohl dazu, dass sie das aushalten könnten. Immer wieder hält Ingo Schulze die thematisierten Bücher fürs Publikum hoch, spricht über die Illustrationen, das Papier, die selbst „verzierten“ Einbände. Der ebenfalls noch in der DDR geborene Niels Beintker begleitet die Ausführungen mit Verständnis und Anteilnahme. Es ist spürbar, dass da zwei Männer einen Kultur- und Identitätsraum teilen.
Zum zentralen Thema des Abends wird der Autor Franz Fühmann. In der Bundesrepublik ist Fühmann nie so bekannt geworden wie andere DDR-Autoren. Im Osten Deutschlands spielte er dagegen eine wichtige Rolle. Ingo Schulze hat einen Band mitgebracht, Das hölzerne Pferd, in dem Fühmann die „Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus nach Homer und anderen Quellen neu erzählt“, wie es im ausführlichen Untertitel heißt. Hier wie auch an späterer Stelle wieder beschäftigt den Schriftsteller, dass er als junger Mensch auf der Seite der angegriffenen Trojaner stand, obwohl diese aus erwachsener Sicht nicht einfach die Guten seien. Nicht nur für die Vermittlung antiker, mittelhochdeutscher und frühneuzeitlicher Stoffe an junge Leserinnen und Leser in der DDR ist Fühmann von großer Bedeutung. Er hat auch mit seiner Vorlesung „Das mythische Element in der Literatur“ von 1974 Einfluss auf das ästhetische Konzept verschiedener DDR-Autoren gehabt (und war nebenbei ein großer Förderer der „Prenzlauer-Berg-Poeten“, etwa von Papenfuß oder von dem später als Stasi-Mitarbeiter in Ungnade gefallenen Anderson).
Fühmann hat, laut Schulze, Märchen als „gefallene Mythen“ aufgefasst. In ihnen sei die klare Trennung von Gutem und Bösem vollzogen, die sich im Mythos – wie im richtigen Leben – nicht voneinander scheiden lassen. Ein anderer Aspekt scheint noch wichtiger zu sein: die These, dass die großen Erzählungen der Menschen in den alten Stoffen bereits niedergelegt sind. In Schulzes Worten etwa: Man schreibt die alten Sachen weiter und versucht, etwas Neues hineinzugeben. Die Verehrung des jungen Mannes für Franz Fühmann war so groß, dass er ihm seine Texte schicken wollte, sobald er selbst sie für gut genug befand. Soweit kam es nicht mehr, da der ältere Dichter 1984, bereits mit 62 Jahren, verstarb.
Der sympathische Bösewicht
Auch Jack London mit Martin Eden und seinen Seegeschichten („angeblich der Lieblingsschriftsteller von Lenin“) oder Untergang der Jaguarkrieger von Willi Meinck gehören zu den frühen Lektüren Ingo Schulzes. Mehr Gedanken widmet er jedoch dem Reineke Fuchs. Auch diesen alten Epenstoff hat außer Goethe unter anderem Franz Fühmann nacherzählt. Schulze berichtet, dass die Erzählung in seiner „Erinnerung ein tolles, unterhaltsames Buch“ sei. Auch hier zeigt sich wieder die Faszination des Autors für das Phänomen der Sympathie mit dem Bösen. Denn eigentlich, so Schulze, sei Reineke Fuchs ein „brutales Schwein“. Dennoch schlage das Herz beim Lesen die ganze Zeit für den Bösewicht – ganz ähnlich wie bei der TV-Serie Die Sopranos.
Seinen eigenen Kindern hat Ingo Schulze den Reineke Fuchs in der Fassung des Humanisten Goethe vorgelesen, die sich jedoch hie und da zu anspruchsvoll erwies. Beintker fragt nach, ob Schulzes Kinder, wie Schulze selbst als Junge, nicht wollten, dass er mit dem Vorlesen aufhörte. Der Autor beantwortet die Frage mit einer allgemeinen Ausführung. Kinder seien heute keine Literaturleser mehr. Damit entgehe ihnen etwas, denn die Erzählung biete einen eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisraum. In der Paraphrase Beintkers: „Die Magie der Literatur vermittelt andere Erfahrungen.“ Implizit steht damit wieder die Langeweile, eine Art der Erfahrungs- oder Erlebnislosigkeit, im Raum, die Ingo Schulze einst zum Lesen brachte und die heute im Leben von medial überversorgten jungen Menschen nicht mehr zu existieren scheint.
In diesem Zusammenhang kommt der Schriftsteller auf James Krüss und seinen faustischen Roman Timm Thaler oder Das verkaufte Leben. Die Lektüre habe er im jugendlichen Alter als bedrängend empfunden. Sich dagegen zur Wehr zu setzen, sei bedeutsam gewesen. „Kinder müssen ihre Erfahrungen erzählen können“, sagt Ingo Schulze. Dies sei jedoch nichts Selbstverständliches, sondern es liege in der Kultur – oder verschwinde eben aus ihr. Kinder stellten in Reaktion auf ihre Lektüren häufig Grundsatzfragen. Etwas zu finden, das dem standhält, sei die Aufgabe der Erwachsenen. Der Gedanke erscheint mir im Hinblick auf die Gegenwart so weitreichend wie allgemein bedeutend. Wenn die Kommunikation zwischen den Generationen gestört ist, wenn Jugendliche keinen eigenen Ausdruck und auch keine Widerspiegelung finden für ihre Auseinandersetzung mit der Welt, wenn sie statt Festigkeit und positiver Widerständigkeit bei den Älteren auf Ignoranz und Abgewandtheit treffen, gleiten sie leicht in die Depression.
Spätestens hier zeigt das Gespräch, das so leicht in eine erinnerungsselige Plauderei abgleiten könnte, seine Bedeutung. Ingo Schulze, selbst Verfasser mehrere Kinderbücher wie Der Herr Augustin oder Die Kuh Ute, zeigt sich in der ihm eigenen Bescheidenheit wiederum als ein nachdenklicher Begleiter unserer Gegenwart. Mittels der Betrachtung seiner Initiation als Leser, nicht zu trennen von der Initiation als Autor, beschwört er nicht einfach die untergegangene Welt der mythenlesenden Jugend. Vielmehr verweist er auf einen rapiden, durchaus problematischen Wandel beim Aufwachsen von Menschen in der heutigen Gesellschaft.
Ingo Schulze spricht mit dem Journalisten des Bayerischen Rundfunks Niels Beintker über die Bücher seiner Kindheit>
Der 1962 geborene Schriftsteller Ingo Schulze zählt zu den wichtigen literarischen Stimmen Deutschlands. In Dresden aufgewachsen, gilt er als scharfsinniger Beobachter ostdeutscher Befindlichkeit. Neben Romanen und Essays schreibt er gelegentlich Kinderbücher. Mit viel Wärme und Understatement spricht er am 14.5.2024 in der Internationalen Jugendbibliothek München über die Bücher seiner Kindheit.
*
Das entscheidende Stichwort an diesem unterhaltsamen Abend lautet „Langeweile“. Aus Langeweile habe er, der in seiner Kindheit und Jugend eigentlich keine Bücher mochte, begonnen zu lesen, auch weil ihn der Sport, an dem er teilnehmen sollte, zu langweilen begann und er ihn schwänzte. Wie viele Menschen seiner Generation war er zunächst von Comics begeistert. Der beste Comic der DDR, dort offiziell „Bilderzeitschrift“ getauft, sei das Magazin Mosaik gewesen. Der Amerikanische Bürgerkrieg war zu der Zeit, als Schulze die Hefte las, ein Großthema und die Helden, die an der Seite der Unterdrückten kämpften, hießen Dig, Dag und Digedag. Der Autor hat ein paar der alten Hefte mitgebracht und lässt sie im Publikum kreisen. Auch Wilhelm Busch gehörte mit seinen Bildgeschichten zu den Lieblingslektüren Schulzes.
Im Akademikerhaushalt seiner Eltern waren Bücher wichtig und präsent. Erst die Großmutter und später die Mutter hätten dem jungen Ingo Schulze vorgelesen – das heute umstrittene Dschungelbuch, Märchen aus Japan und anderen Ländern. Der Schriftsteller denkt darüber nach, dass Kindern darin einiges zugemutet werde. Die klare Trennung von Gut und Böse führe wohl dazu, dass sie das aushalten könnten. Immer wieder hält Ingo Schulze die thematisierten Bücher fürs Publikum hoch, spricht über die Illustrationen, das Papier, die selbst „verzierten“ Einbände. Der ebenfalls noch in der DDR geborene Niels Beintker begleitet die Ausführungen mit Verständnis und Anteilnahme. Es ist spürbar, dass da zwei Männer einen Kultur- und Identitätsraum teilen.
Zum zentralen Thema des Abends wird der Autor Franz Fühmann. In der Bundesrepublik ist Fühmann nie so bekannt geworden wie andere DDR-Autoren. Im Osten Deutschlands spielte er dagegen eine wichtige Rolle. Ingo Schulze hat einen Band mitgebracht, Das hölzerne Pferd, in dem Fühmann die „Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus nach Homer und anderen Quellen neu erzählt“, wie es im ausführlichen Untertitel heißt. Hier wie auch an späterer Stelle wieder beschäftigt den Schriftsteller, dass er als junger Mensch auf der Seite der angegriffenen Trojaner stand, obwohl diese aus erwachsener Sicht nicht einfach die Guten seien. Nicht nur für die Vermittlung antiker, mittelhochdeutscher und frühneuzeitlicher Stoffe an junge Leserinnen und Leser in der DDR ist Fühmann von großer Bedeutung. Er hat auch mit seiner Vorlesung „Das mythische Element in der Literatur“ von 1974 Einfluss auf das ästhetische Konzept verschiedener DDR-Autoren gehabt (und war nebenbei ein großer Förderer der „Prenzlauer-Berg-Poeten“, etwa von Papenfuß oder von dem später als Stasi-Mitarbeiter in Ungnade gefallenen Anderson).
Fühmann hat, laut Schulze, Märchen als „gefallene Mythen“ aufgefasst. In ihnen sei die klare Trennung von Gutem und Bösem vollzogen, die sich im Mythos – wie im richtigen Leben – nicht voneinander scheiden lassen. Ein anderer Aspekt scheint noch wichtiger zu sein: die These, dass die großen Erzählungen der Menschen in den alten Stoffen bereits niedergelegt sind. In Schulzes Worten etwa: Man schreibt die alten Sachen weiter und versucht, etwas Neues hineinzugeben. Die Verehrung des jungen Mannes für Franz Fühmann war so groß, dass er ihm seine Texte schicken wollte, sobald er selbst sie für gut genug befand. Soweit kam es nicht mehr, da der ältere Dichter 1984, bereits mit 62 Jahren, verstarb.
Der sympathische Bösewicht
Auch Jack London mit Martin Eden und seinen Seegeschichten („angeblich der Lieblingsschriftsteller von Lenin“) oder Untergang der Jaguarkrieger von Willi Meinck gehören zu den frühen Lektüren Ingo Schulzes. Mehr Gedanken widmet er jedoch dem Reineke Fuchs. Auch diesen alten Epenstoff hat außer Goethe unter anderem Franz Fühmann nacherzählt. Schulze berichtet, dass die Erzählung in seiner „Erinnerung ein tolles, unterhaltsames Buch“ sei. Auch hier zeigt sich wieder die Faszination des Autors für das Phänomen der Sympathie mit dem Bösen. Denn eigentlich, so Schulze, sei Reineke Fuchs ein „brutales Schwein“. Dennoch schlage das Herz beim Lesen die ganze Zeit für den Bösewicht – ganz ähnlich wie bei der TV-Serie Die Sopranos.
Seinen eigenen Kindern hat Ingo Schulze den Reineke Fuchs in der Fassung des Humanisten Goethe vorgelesen, die sich jedoch hie und da zu anspruchsvoll erwies. Beintker fragt nach, ob Schulzes Kinder, wie Schulze selbst als Junge, nicht wollten, dass er mit dem Vorlesen aufhörte. Der Autor beantwortet die Frage mit einer allgemeinen Ausführung. Kinder seien heute keine Literaturleser mehr. Damit entgehe ihnen etwas, denn die Erzählung biete einen eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisraum. In der Paraphrase Beintkers: „Die Magie der Literatur vermittelt andere Erfahrungen.“ Implizit steht damit wieder die Langeweile, eine Art der Erfahrungs- oder Erlebnislosigkeit, im Raum, die Ingo Schulze einst zum Lesen brachte und die heute im Leben von medial überversorgten jungen Menschen nicht mehr zu existieren scheint.
In diesem Zusammenhang kommt der Schriftsteller auf James Krüss und seinen faustischen Roman Timm Thaler oder Das verkaufte Leben. Die Lektüre habe er im jugendlichen Alter als bedrängend empfunden. Sich dagegen zur Wehr zu setzen, sei bedeutsam gewesen. „Kinder müssen ihre Erfahrungen erzählen können“, sagt Ingo Schulze. Dies sei jedoch nichts Selbstverständliches, sondern es liege in der Kultur – oder verschwinde eben aus ihr. Kinder stellten in Reaktion auf ihre Lektüren häufig Grundsatzfragen. Etwas zu finden, das dem standhält, sei die Aufgabe der Erwachsenen. Der Gedanke erscheint mir im Hinblick auf die Gegenwart so weitreichend wie allgemein bedeutend. Wenn die Kommunikation zwischen den Generationen gestört ist, wenn Jugendliche keinen eigenen Ausdruck und auch keine Widerspiegelung finden für ihre Auseinandersetzung mit der Welt, wenn sie statt Festigkeit und positiver Widerständigkeit bei den Älteren auf Ignoranz und Abgewandtheit treffen, gleiten sie leicht in die Depression.
Spätestens hier zeigt das Gespräch, das so leicht in eine erinnerungsselige Plauderei abgleiten könnte, seine Bedeutung. Ingo Schulze, selbst Verfasser mehrere Kinderbücher wie Der Herr Augustin oder Die Kuh Ute, zeigt sich in der ihm eigenen Bescheidenheit wiederum als ein nachdenklicher Begleiter unserer Gegenwart. Mittels der Betrachtung seiner Initiation als Leser, nicht zu trennen von der Initiation als Autor, beschwört er nicht einfach die untergegangene Welt der mythenlesenden Jugend. Vielmehr verweist er auf einen rapiden, durchaus problematischen Wandel beim Aufwachsen von Menschen in der heutigen Gesellschaft.