Interview mit Tukan-Preisträger Thomas Willmann (1)
Thomas Willmann (*1969 in München) studierte Musikwissenschaften und arbeitete als Kulturjournalist beim Münchner Merkur und dem Tagesspiegel. Sein Erstling Das finstere Tal erschien 2010 und wurde 2014 verfilmt. Sein neuer Roman Der eiserne Marquis ist gerade beim Liebeskind Verlag, München, erschienen und wird 2023 mit dem Tukan-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Christopher Bertusch und Johanna Mayer vom Literaturportal Bayern sprechen mit Thomas Willmann.
Erfahren Sie im heutigen ersten Teil des Interviews mehr über Thomas Willmanns schriftstellerischen Werdegang, seine Inspiration und warum ein so langer Weg zwischen den beiden Werken liegt.
*
Es ist 13 Jahre her, dass Sie Ihr Debüt Das finstere Tal geschrieben haben. Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Thomas Willmann: Bei Das finstere Tal hat es relativ lange gedauert, bis es einmal fertig war, da ich sehr lange Pausen zwischen den Schreibphasen hatte. Mein Standardwitz war damals immer: „Schreiben geht schnell, das Nicht-Schreiben dauert so lange“. Das erste Buch ist natürlich ein unwiederholbares Ereignis und immer auch ein Würfelwurf, da man davor nicht weiß, ob es überhaupt etwas wird, was es wird und ob man einen Verlag findet. Als ich dann einen gefunden hatte, ging es damals so schnell und so gut los. Ich bin immer noch sehr dankbar, dass damals alles so gut lief. Textlich bin ich nach wie vor sehr zufrieden. Ich habe den Roman aber seitdem nicht mehr ganz gelesen, nur die Verfilmung gesehen und Ausschnitte überflogen. Heute würde ich vieles sicherlich anders schreiben, aber das ist ja auch der Sinn vom Schreiben, dass man etwas dazu lernt und am Ende weiter als am Anfang steht. Ohne mein erstes Buch wäre das zweite gar nicht möglich gewesen, auch finanziell, denn Der eiserne Marquis habe ich nun hauptberuflich geschrieben. Wenn ich keine Rücklagen gehabt und nicht gewusst hätte, ob überhaupt Interesse besteht, weiß ich nicht, ob ich es je angefangen oder fertigbekommen hätte.
Sie sind studierter Musikwissenschaftler und arbeiteten früher vor allem als Kulturjournalist. Wie kamen Sie zur Belletristik und zum Schreiben allgemein?
Geschrieben habe ich immer irgendwie. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich ganz klein war, eine Schreibmaschine besaß, auf der ich meine erste Kurzgeschichte geschrieben habe. Das war irgendeine Sherlock-Holmes-Hommage oder -Parodie, die damals schon recht gruselig und blutig war, heute aber leider verschollen ist. Ich habe nebenher immer Kurzgeschichten und auch journalistisch viel geschrieben. Das Tal war damals eine von vielen angefangen Sachen, die aber blieb und über einen sehr langen Zeitraum immer wieder gesagt hat: „Ich bin noch hier, mach mich mal fertig“. Den Kern der Idee für Der eiserne Marquis hatte ich schon, bevor das Tal fertig war. Ich wusste aber damals noch nicht, wie es ausartet. Das war auch für mich eine Überraschung, aber bis ich das gemerkt hatte, war es bereits zu spät.
Was war der erste Impuls für Der eiserne Marquis: Gab es eine Figur oder Szene, die Ihnen zuerst in den Kopf gekommen ist?
Es war tatsächlich ein Bild von diesem Apparat im Finale. Ich möchte aber für die Leserschaft nicht zu viel spoilern. Dieses sehr starke Bild war irgendwann in meinem Kopf, aber ich wusste noch nichts von der Handlung oder dem Kontext drumherum. Ich hatte am Anfang noch Ideen, wo das hinführen könnte, die komplett anders gewesen wären. Der andere Strang war eine gewisse Faszination mit den Maschinen-Menschen und Automaten – generell aller Jahrhunderte – aber im Speziellen des 18. Jahrhunderts. Irgendwann hat es dann „Klick“ gemacht und mir war klar, die Geschichte muss im 18. Jahrhundert spielen. Der Rest kam danach dazu. Mir war auch klar, wenn schon das 18. Jahrhundert, dann mit allem.
Was genau fasziniert Sie am 18. Jahrhundert?
Witzigerweise war ich mit dem 18. Jahrhundert – bis auf die Musik – kaum verbunden. Mein natürliches Beutegebiet war immer eher das 19. Jahrhundert: Schauer-Romantik, Edgar Allan Poe und das viktorianische London. Auch in der Historie war ich mehr daheim. Nachdem ich wusste, dass der Roman wegen der Maschinen-Menschen im 18. Jahrhundert spielen muss, habe ich mich vermehrt in das Jahrhundert eingelesen. Ich kannte über mein Musikwissenschafts-Studium natürlich die Wiener-Klassik und was damit zusammenhängt. Barry Lyndon von Kubrick ist einer meiner heiligen Filme, der natürlich schon einmal ein Panorama bietet und sehr tief mit der Kulturgeschichte der Zeit verknüpft ist. Ich wollte den Übergang von einem barocken, feudalen 18. Jahrhundert zum Zeitalter der Aufklärung darstellen, weil hier viele Motive stark mitspielen. Mir war auch klar, dass diese Maschinen-Sache viel mit Körperbildern zu tun hatte, deswegen habe ich mich ebenso auf Literatur konzentriert, die sich mit Körpern im 18. Jahrhundert beschäftigt. Da steckt zwar schon viel drinnen, aber es ist immer noch ein endloses Feld von Diskursen, die davon nicht erfasst werden. Daher habe ich mich einfach in alle Richtungen vorgetastet, habe viel gelesen und angeschaut, sowohl in kunsthistorischen Museen als auch natur- und kulturhistorischen wie etwa dem Bayerischen Nationalmuseum oder dem Stadtmuseum Wien. So habe ich mir alles zusammengeklaubt.
In Ihrem Nachwort sprechen Sie von einer „unerwartet langen Reise“ zwischen Das finstere Tal und Der eiserne Marquis. Wie lässt sich dieser Weg erklären?
Am Anfang habe ich in der Recherche einen ersten Berg erstellt, um ein Konzept und die grundsätzlichen Zusammenhänge geklärt zu haben. Ansonsten habe ich nebenher immer weiter gemacht mit der Recherche. Ich wusste, wenn ich mich einmal hinsetze, um alles zu recherchieren, dann dauert das Jahre. Gewisse Dinge waren mir vom Plot her klar, dadurch konnte ich konkreter recherchieren: Wo kann das spielen und wenn es an einem gewissen Ort spielt, wie sah dieser zu diesem Zeitpunkt aus? Was dann noch gedauert hat, war das Schreiben. Ich schreibe nicht schnell. Im Schnitt schaffe ich an einem guten Schreibtag eine Seite. Dann gab es auch noch zwei Fassungen. Ich hatte eine Fassung fertig, von der ich wusste: „Die ist es noch nicht.“ Der Erzähler hatte seinen Sound noch nicht, sowohl in Anlehnung an das historische Deutsch als auch in seinem persönlichen Klang. Der Text hat noch nicht richtig gelebt. Da wusste ich, ich komme nur übers Schreiben rein. Ab der Hälfte der ersten Fassung lief das schon besser und ich wusste, dass ich die erste Hälfte neu schreiben muss. Am Ende merkte ich, dass ich jetzt noch einmal auf einem neuen Stand bin und es doch noch eine zweite Version braucht. Dann kamen noch solche Sachen wie die Corona-Pandemie dazu, die mich nicht kreativer gemacht haben. Die Überarbeitung war natürlich auch nicht in zwei Wochen erledigt. Es gab immer wieder Phasen, in denen das Schreiben nicht mehr so viel Spaß gemacht hat. Die Lust am Schreiben und Erzählen bleibt natürlich, es hat sich nur mitunter wie ein Auftrag angefühlt. Aber die Geschichte stand da und wollte jetzt von mir erzählt werden – Koste es, was es wolle! Wenn man mal so einen Stapel hat, ist das Aufhören natürlich keine gute Idee. Mir war klar, dass ich da irgendwie durch muss. Natürlich besteht immer eine gewisse Grundlust am Schreiben an sich, aber mit dem Schreiben ist es wie mit vielen Dingen, die man über einen längeren Zeitraum macht: An manchen Tagen macht es gar keinen Spaß mehr, an anderen läuft alles rund. Das Schreiben ist mittlerweile auch mein Beruf und ich sollte daher irgendwann ein zweites Werk rausbringen. Die Motivation hinter dem Ganzen ist aber, dass eine Idee dasteht, klopft und sagt: „Jetzt bitte erzähl mich, ich gehe nicht weg!”.
War Ihnen die Länge des Romans – 920 Seiten – von Anfang an bewusst oder hat sich das erst ergeben – und wie hat Ihr Verleger darauf reagiert?
Ich weiß nicht, ob ich je mit dem Schreiben angefangen hätte, wenn ich die Länge davor gekannt hätte. Mir war klar, dass es mit der Menge an Stoff länger wird als Das finstere Tal und ich hatte zunächst mit rund 500 Seiten gerechnet. Dann war der Text da und meinte „Das hast jetzt aber du gedacht!”. Man darf es fast gar nicht sagen, aber der Text war sogar noch länger, ich habe gut gekürzt. Bevor ich einer Testleserin die erste Fassung gegeben habe, hatte noch niemand etwas davon gelesen. Ich finde es immer schwierig, wenn mir Leute mit ihrer Vorstellung reinreden, bevor der Text wirklich fertig überarbeitet ist. Meinem Verleger hatte ich schon einmal gesagt, dass es dicker wird als gedacht – aber er hat dann schon geschluckt. Klar, als ich ihm dann den Schuhkarton mit dem Manuskript gegeben habe, war das vielleicht nicht der Traum eines Verlags. Aber wir sind uns darüber einig, dass der Text die Länge verträgt und braucht. Wenn ich gewusst hätte, wie ich es kürzer mache, hätte ich es gekürzt. Ich hoffe, dass die Fülle des Inhalts die Fülle des Umfangs rechtfertigt.
Sie haben bereits in Das finstere Tal die historische Sprache der Zeit verwendet. Stand von Anfang an fest, dass auch der Erzähler in Der eiserne Marquis in dieser Sprache sprechen muss?
Ich wusste, dass ich einen Ich-Erzähler wollte. Bei Das finstere Tal hatte ich einen allwissenden Erzähler, aber der Ich-Erzähler hat einfach das gewisse Etwas. Den lese ich selber auch immer gerne. Ich fand diese Perspektive auch für einen historischen Roman interessant. Wenn man bei historischen Stoffen keinen Ich-Erzähler nutzt, stellt sich immer die Frage, auf welcher Ebene man etwas beschreibt. Beim Ich-Erzähler ist das einfacher, man kann alles durch seinen Blickwinkel beschreiben. Damit war auch klar, dass der Erzähler nicht klingen kann wie heute. Man könnte es natürlich auch postmodern schreiben, aber ich wollte keine künstliche Distanz schaffen. Die Sprache gehört zu der Zeit, genauso wie Kubrick Barry Lyndon nur mit natürlichem Licht und Kerzenlicht beleuchtete, denn im 18. Jahrhundert gab es keine Scheinwerfer. Das Licht ist die Welt – und im Roman ist die Sprache in einem sehr konkreten Sinne die Welt. Ich wollte eine Sprache schaffen, die nach dem 18. Jahrhundert klingt, aber immer noch lesbar bleibt. Die meisten Leser*innen, mit denen ich gesprochen habe, empfinden die Sprache am Anfang als eine Hürde, aber wenn man sich einmal darin eingelesen hat, dann zieht sie einen umso tiefer hinein.
Sie haben in früheren Interviews angegeben, dass Ludwig Ganghofer eine große Inspirationsquelle für Das finstere Tal war. Gab es ähnliche Idole, denen Sie in Der eiserne Marquis nachstreben?
Das Tal war eine Genre-Sache, da gab es klare Genre-Vorbilder. Der eiserne Marquis ist für mich kein Genre-Roman in diesem Sinne. Es gibt natürlich viele inhaltliche Einflüsse, beispielsweise die ganzen Körper-Bilder des 18. Jahrhunderts. Mein Ziel war es, einen Schmöker zu schaffen, der tatsächlich dem Roman des 19. Jahrhunderts nähersteht als dem des 18. Jahrhunderts. Solche Bücher, die eine eigene Welt sind, mit denen man sich unter der Bettdecke verkriecht und in fremde Welten eintaucht. Ich denke da zum Beispiel an Charles Dickens. Meine Lust am Erzählen sollte sich in eine Lust am Lesen übertragen. Aber es gab kein direktes Modell wie beim Tal. Es gibt schon viele Einflüsse aus dem 19. Jahrhundert, Moby-Dick zum Beispiel. Der Marquis besitzt Ähnlichkeiten mit Kapitän Ahab, die auch bewusst sind. Ohne Frankenstein kommt man natürlich nicht aus. Aber auch Goethe, vor allem Wilhelm Meisters Lehrjahre und Die Leiden des jungen Werthers, stecken mit drin. Ebenso Schiller, speziell Der Geisterseher. Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann war eine weitere große Hausnummer. Die Memoiren von Casanova und die Streifzüge durch Paris von Louis-Sébastien Mercier und Rétif de la Bretonne haben mir in vielem die damalige Welt greifbar gemacht. Indirekt waren Rousseau und Jean Paul ebenfalls wichtige Einflüsse, wobei ich mich da bemüht habe, ihrer Sprache nicht zu sehr nachzueifern. Was sprachlich wichtiger war, war Die Füchse im Weinberg von Lion Feuchtwanger, das ich generell sehr empfehlen kann – ein wirklich großartiges Buch! Barry Lyndon war bedeutend, um zu sehen, wie im Nachhinein über das 18. Jahrhundert geschrieben wird. Das waren die zentralen Einflüsse.
Ich bin ein sehr unsystematischer Mensch und habe mir für die Recherche immer sehr viel Lektüre zu einem Thema besorgt und davon ungefähr nur die Hälfte gelesen. Ich hatte einen Kanon, von dem ich wusste, dass ich mir den nochmal anschauen sollte. So habe ich zum Beispiel erneut Patrick Süskinds Das Parfum gelesen, um zu schauen, ob ich unbewusst Sachen übernommen habe. Da muss ich aber auch sagen, dass das kein Buch war, an dem ich mich bedient habe. Was ich oft gezielter gemacht habe, war das Lesen von Sekundärliteratur oder die Online-Recherche zu bestimmten Details: Wie sah eine spezifische Straße aus, wie kleide ich die Figuren ein, wie sieht jemand aus der Provinz aus? Das waren Sachen, die ich konkret recherchieren musste.
Sie haben vorher über Ihre Inspirationen gesprochen und bereits auf Schiller gedeutet. Bei Amalia, der ersten großen Liebe des Erzählers, denkt manch einer an Die Räuber. Handelt es sich hier um eine explizite Anspielung?
Nicht direkt und das fällt mir auch erst jetzt auf, wo Sie das sagen. Ich habe Die Räuber als Schüler und wahrscheinlich sogar nach der Schulzeit noch einmal gelesen, aber es mir nicht vor dem Schreibprozess explizit angeschaut. Also es ist nicht bewusst eingebaut, aber das heißt nichts. Die interessanteren Sachen passieren oft unbewusst. Es gab für mich persönlich andere Gründe, warum die Figur so heißt, aber das passt trotzdem wunderbar. Die Schillerschen jungen Männer und etwas Kabale und Liebe stecken ja in dem Roman.
Gibt es sonst Referenzen, die Leserinnen und Leser in Der eiserne Marquis vorfinden, die aber nicht von Ihnen bewusst eingebaut wurden?
Noch gibt es, soweit ich mitbekommen habe, kein Feedback in diese Richtung. Was aber daran liegt, dass die meisten gerade erst in der Mitte des Romans sind. Ich rechne damit, dass das noch kommt, weil ich noch gar nicht mit so vielen gesprochen habe, die überhaupt alles gelesen haben. In einem Artikel der SZ wurde der Grüne Heinrich erwähnt, den ich seit Jahren im Regal stehen habe und lesen möchte, was ich aber bislang nicht geschafft habe.
Welche Rolle spielt die Musik in Der eiserne Marquis?
Im Tal ging es mir bewusst um die Abwesenheit von Musik als die Vorstellung von einer Welt, in der ich nicht leben möchte. In Der eiserne Marquis taucht die Musik hingegen in vielen Dingen auf. Es war jedoch kein zentraler Punkt, sie spielt meistens dann eine Rolle, wenn es wieder um den Körper geht. Der Tanz ist dabei ein wichtiges Thema. Die Musik zieht sich ein bisschen durch den gesamten Roman, immer wenn es sich anbot, habe ich versucht meine Erfahrungen einfließen zu lassen. Es ist wie gesagt kein zentrales Thema, aber dennoch eine wichtige Konstante – vor allem, wenn es um die Musik-Automaten geht. Kleine Easter-Eggs gibt es natürlich auch ab und zu.
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Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie morgen wieder hier im Journal ...
Interview mit Tukan-Preisträger Thomas Willmann (1)>
Thomas Willmann (*1969 in München) studierte Musikwissenschaften und arbeitete als Kulturjournalist beim Münchner Merkur und dem Tagesspiegel. Sein Erstling Das finstere Tal erschien 2010 und wurde 2014 verfilmt. Sein neuer Roman Der eiserne Marquis ist gerade beim Liebeskind Verlag, München, erschienen und wird 2023 mit dem Tukan-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Christopher Bertusch und Johanna Mayer vom Literaturportal Bayern sprechen mit Thomas Willmann.
Erfahren Sie im heutigen ersten Teil des Interviews mehr über Thomas Willmanns schriftstellerischen Werdegang, seine Inspiration und warum ein so langer Weg zwischen den beiden Werken liegt.
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Es ist 13 Jahre her, dass Sie Ihr Debüt Das finstere Tal geschrieben haben. Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Thomas Willmann: Bei Das finstere Tal hat es relativ lange gedauert, bis es einmal fertig war, da ich sehr lange Pausen zwischen den Schreibphasen hatte. Mein Standardwitz war damals immer: „Schreiben geht schnell, das Nicht-Schreiben dauert so lange“. Das erste Buch ist natürlich ein unwiederholbares Ereignis und immer auch ein Würfelwurf, da man davor nicht weiß, ob es überhaupt etwas wird, was es wird und ob man einen Verlag findet. Als ich dann einen gefunden hatte, ging es damals so schnell und so gut los. Ich bin immer noch sehr dankbar, dass damals alles so gut lief. Textlich bin ich nach wie vor sehr zufrieden. Ich habe den Roman aber seitdem nicht mehr ganz gelesen, nur die Verfilmung gesehen und Ausschnitte überflogen. Heute würde ich vieles sicherlich anders schreiben, aber das ist ja auch der Sinn vom Schreiben, dass man etwas dazu lernt und am Ende weiter als am Anfang steht. Ohne mein erstes Buch wäre das zweite gar nicht möglich gewesen, auch finanziell, denn Der eiserne Marquis habe ich nun hauptberuflich geschrieben. Wenn ich keine Rücklagen gehabt und nicht gewusst hätte, ob überhaupt Interesse besteht, weiß ich nicht, ob ich es je angefangen oder fertigbekommen hätte.
Sie sind studierter Musikwissenschaftler und arbeiteten früher vor allem als Kulturjournalist. Wie kamen Sie zur Belletristik und zum Schreiben allgemein?
Geschrieben habe ich immer irgendwie. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich ganz klein war, eine Schreibmaschine besaß, auf der ich meine erste Kurzgeschichte geschrieben habe. Das war irgendeine Sherlock-Holmes-Hommage oder -Parodie, die damals schon recht gruselig und blutig war, heute aber leider verschollen ist. Ich habe nebenher immer Kurzgeschichten und auch journalistisch viel geschrieben. Das Tal war damals eine von vielen angefangen Sachen, die aber blieb und über einen sehr langen Zeitraum immer wieder gesagt hat: „Ich bin noch hier, mach mich mal fertig“. Den Kern der Idee für Der eiserne Marquis hatte ich schon, bevor das Tal fertig war. Ich wusste aber damals noch nicht, wie es ausartet. Das war auch für mich eine Überraschung, aber bis ich das gemerkt hatte, war es bereits zu spät.
Was war der erste Impuls für Der eiserne Marquis: Gab es eine Figur oder Szene, die Ihnen zuerst in den Kopf gekommen ist?
Es war tatsächlich ein Bild von diesem Apparat im Finale. Ich möchte aber für die Leserschaft nicht zu viel spoilern. Dieses sehr starke Bild war irgendwann in meinem Kopf, aber ich wusste noch nichts von der Handlung oder dem Kontext drumherum. Ich hatte am Anfang noch Ideen, wo das hinführen könnte, die komplett anders gewesen wären. Der andere Strang war eine gewisse Faszination mit den Maschinen-Menschen und Automaten – generell aller Jahrhunderte – aber im Speziellen des 18. Jahrhunderts. Irgendwann hat es dann „Klick“ gemacht und mir war klar, die Geschichte muss im 18. Jahrhundert spielen. Der Rest kam danach dazu. Mir war auch klar, wenn schon das 18. Jahrhundert, dann mit allem.
Was genau fasziniert Sie am 18. Jahrhundert?
Witzigerweise war ich mit dem 18. Jahrhundert – bis auf die Musik – kaum verbunden. Mein natürliches Beutegebiet war immer eher das 19. Jahrhundert: Schauer-Romantik, Edgar Allan Poe und das viktorianische London. Auch in der Historie war ich mehr daheim. Nachdem ich wusste, dass der Roman wegen der Maschinen-Menschen im 18. Jahrhundert spielen muss, habe ich mich vermehrt in das Jahrhundert eingelesen. Ich kannte über mein Musikwissenschafts-Studium natürlich die Wiener-Klassik und was damit zusammenhängt. Barry Lyndon von Kubrick ist einer meiner heiligen Filme, der natürlich schon einmal ein Panorama bietet und sehr tief mit der Kulturgeschichte der Zeit verknüpft ist. Ich wollte den Übergang von einem barocken, feudalen 18. Jahrhundert zum Zeitalter der Aufklärung darstellen, weil hier viele Motive stark mitspielen. Mir war auch klar, dass diese Maschinen-Sache viel mit Körperbildern zu tun hatte, deswegen habe ich mich ebenso auf Literatur konzentriert, die sich mit Körpern im 18. Jahrhundert beschäftigt. Da steckt zwar schon viel drinnen, aber es ist immer noch ein endloses Feld von Diskursen, die davon nicht erfasst werden. Daher habe ich mich einfach in alle Richtungen vorgetastet, habe viel gelesen und angeschaut, sowohl in kunsthistorischen Museen als auch natur- und kulturhistorischen wie etwa dem Bayerischen Nationalmuseum oder dem Stadtmuseum Wien. So habe ich mir alles zusammengeklaubt.
In Ihrem Nachwort sprechen Sie von einer „unerwartet langen Reise“ zwischen Das finstere Tal und Der eiserne Marquis. Wie lässt sich dieser Weg erklären?
Am Anfang habe ich in der Recherche einen ersten Berg erstellt, um ein Konzept und die grundsätzlichen Zusammenhänge geklärt zu haben. Ansonsten habe ich nebenher immer weiter gemacht mit der Recherche. Ich wusste, wenn ich mich einmal hinsetze, um alles zu recherchieren, dann dauert das Jahre. Gewisse Dinge waren mir vom Plot her klar, dadurch konnte ich konkreter recherchieren: Wo kann das spielen und wenn es an einem gewissen Ort spielt, wie sah dieser zu diesem Zeitpunkt aus? Was dann noch gedauert hat, war das Schreiben. Ich schreibe nicht schnell. Im Schnitt schaffe ich an einem guten Schreibtag eine Seite. Dann gab es auch noch zwei Fassungen. Ich hatte eine Fassung fertig, von der ich wusste: „Die ist es noch nicht.“ Der Erzähler hatte seinen Sound noch nicht, sowohl in Anlehnung an das historische Deutsch als auch in seinem persönlichen Klang. Der Text hat noch nicht richtig gelebt. Da wusste ich, ich komme nur übers Schreiben rein. Ab der Hälfte der ersten Fassung lief das schon besser und ich wusste, dass ich die erste Hälfte neu schreiben muss. Am Ende merkte ich, dass ich jetzt noch einmal auf einem neuen Stand bin und es doch noch eine zweite Version braucht. Dann kamen noch solche Sachen wie die Corona-Pandemie dazu, die mich nicht kreativer gemacht haben. Die Überarbeitung war natürlich auch nicht in zwei Wochen erledigt. Es gab immer wieder Phasen, in denen das Schreiben nicht mehr so viel Spaß gemacht hat. Die Lust am Schreiben und Erzählen bleibt natürlich, es hat sich nur mitunter wie ein Auftrag angefühlt. Aber die Geschichte stand da und wollte jetzt von mir erzählt werden – Koste es, was es wolle! Wenn man mal so einen Stapel hat, ist das Aufhören natürlich keine gute Idee. Mir war klar, dass ich da irgendwie durch muss. Natürlich besteht immer eine gewisse Grundlust am Schreiben an sich, aber mit dem Schreiben ist es wie mit vielen Dingen, die man über einen längeren Zeitraum macht: An manchen Tagen macht es gar keinen Spaß mehr, an anderen läuft alles rund. Das Schreiben ist mittlerweile auch mein Beruf und ich sollte daher irgendwann ein zweites Werk rausbringen. Die Motivation hinter dem Ganzen ist aber, dass eine Idee dasteht, klopft und sagt: „Jetzt bitte erzähl mich, ich gehe nicht weg!”.
War Ihnen die Länge des Romans – 920 Seiten – von Anfang an bewusst oder hat sich das erst ergeben – und wie hat Ihr Verleger darauf reagiert?
Ich weiß nicht, ob ich je mit dem Schreiben angefangen hätte, wenn ich die Länge davor gekannt hätte. Mir war klar, dass es mit der Menge an Stoff länger wird als Das finstere Tal und ich hatte zunächst mit rund 500 Seiten gerechnet. Dann war der Text da und meinte „Das hast jetzt aber du gedacht!”. Man darf es fast gar nicht sagen, aber der Text war sogar noch länger, ich habe gut gekürzt. Bevor ich einer Testleserin die erste Fassung gegeben habe, hatte noch niemand etwas davon gelesen. Ich finde es immer schwierig, wenn mir Leute mit ihrer Vorstellung reinreden, bevor der Text wirklich fertig überarbeitet ist. Meinem Verleger hatte ich schon einmal gesagt, dass es dicker wird als gedacht – aber er hat dann schon geschluckt. Klar, als ich ihm dann den Schuhkarton mit dem Manuskript gegeben habe, war das vielleicht nicht der Traum eines Verlags. Aber wir sind uns darüber einig, dass der Text die Länge verträgt und braucht. Wenn ich gewusst hätte, wie ich es kürzer mache, hätte ich es gekürzt. Ich hoffe, dass die Fülle des Inhalts die Fülle des Umfangs rechtfertigt.
Sie haben bereits in Das finstere Tal die historische Sprache der Zeit verwendet. Stand von Anfang an fest, dass auch der Erzähler in Der eiserne Marquis in dieser Sprache sprechen muss?
Ich wusste, dass ich einen Ich-Erzähler wollte. Bei Das finstere Tal hatte ich einen allwissenden Erzähler, aber der Ich-Erzähler hat einfach das gewisse Etwas. Den lese ich selber auch immer gerne. Ich fand diese Perspektive auch für einen historischen Roman interessant. Wenn man bei historischen Stoffen keinen Ich-Erzähler nutzt, stellt sich immer die Frage, auf welcher Ebene man etwas beschreibt. Beim Ich-Erzähler ist das einfacher, man kann alles durch seinen Blickwinkel beschreiben. Damit war auch klar, dass der Erzähler nicht klingen kann wie heute. Man könnte es natürlich auch postmodern schreiben, aber ich wollte keine künstliche Distanz schaffen. Die Sprache gehört zu der Zeit, genauso wie Kubrick Barry Lyndon nur mit natürlichem Licht und Kerzenlicht beleuchtete, denn im 18. Jahrhundert gab es keine Scheinwerfer. Das Licht ist die Welt – und im Roman ist die Sprache in einem sehr konkreten Sinne die Welt. Ich wollte eine Sprache schaffen, die nach dem 18. Jahrhundert klingt, aber immer noch lesbar bleibt. Die meisten Leser*innen, mit denen ich gesprochen habe, empfinden die Sprache am Anfang als eine Hürde, aber wenn man sich einmal darin eingelesen hat, dann zieht sie einen umso tiefer hinein.
Sie haben in früheren Interviews angegeben, dass Ludwig Ganghofer eine große Inspirationsquelle für Das finstere Tal war. Gab es ähnliche Idole, denen Sie in Der eiserne Marquis nachstreben?
Das Tal war eine Genre-Sache, da gab es klare Genre-Vorbilder. Der eiserne Marquis ist für mich kein Genre-Roman in diesem Sinne. Es gibt natürlich viele inhaltliche Einflüsse, beispielsweise die ganzen Körper-Bilder des 18. Jahrhunderts. Mein Ziel war es, einen Schmöker zu schaffen, der tatsächlich dem Roman des 19. Jahrhunderts nähersteht als dem des 18. Jahrhunderts. Solche Bücher, die eine eigene Welt sind, mit denen man sich unter der Bettdecke verkriecht und in fremde Welten eintaucht. Ich denke da zum Beispiel an Charles Dickens. Meine Lust am Erzählen sollte sich in eine Lust am Lesen übertragen. Aber es gab kein direktes Modell wie beim Tal. Es gibt schon viele Einflüsse aus dem 19. Jahrhundert, Moby-Dick zum Beispiel. Der Marquis besitzt Ähnlichkeiten mit Kapitän Ahab, die auch bewusst sind. Ohne Frankenstein kommt man natürlich nicht aus. Aber auch Goethe, vor allem Wilhelm Meisters Lehrjahre und Die Leiden des jungen Werthers, stecken mit drin. Ebenso Schiller, speziell Der Geisterseher. Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann war eine weitere große Hausnummer. Die Memoiren von Casanova und die Streifzüge durch Paris von Louis-Sébastien Mercier und Rétif de la Bretonne haben mir in vielem die damalige Welt greifbar gemacht. Indirekt waren Rousseau und Jean Paul ebenfalls wichtige Einflüsse, wobei ich mich da bemüht habe, ihrer Sprache nicht zu sehr nachzueifern. Was sprachlich wichtiger war, war Die Füchse im Weinberg von Lion Feuchtwanger, das ich generell sehr empfehlen kann – ein wirklich großartiges Buch! Barry Lyndon war bedeutend, um zu sehen, wie im Nachhinein über das 18. Jahrhundert geschrieben wird. Das waren die zentralen Einflüsse.
Ich bin ein sehr unsystematischer Mensch und habe mir für die Recherche immer sehr viel Lektüre zu einem Thema besorgt und davon ungefähr nur die Hälfte gelesen. Ich hatte einen Kanon, von dem ich wusste, dass ich mir den nochmal anschauen sollte. So habe ich zum Beispiel erneut Patrick Süskinds Das Parfum gelesen, um zu schauen, ob ich unbewusst Sachen übernommen habe. Da muss ich aber auch sagen, dass das kein Buch war, an dem ich mich bedient habe. Was ich oft gezielter gemacht habe, war das Lesen von Sekundärliteratur oder die Online-Recherche zu bestimmten Details: Wie sah eine spezifische Straße aus, wie kleide ich die Figuren ein, wie sieht jemand aus der Provinz aus? Das waren Sachen, die ich konkret recherchieren musste.
Sie haben vorher über Ihre Inspirationen gesprochen und bereits auf Schiller gedeutet. Bei Amalia, der ersten großen Liebe des Erzählers, denkt manch einer an Die Räuber. Handelt es sich hier um eine explizite Anspielung?
Nicht direkt und das fällt mir auch erst jetzt auf, wo Sie das sagen. Ich habe Die Räuber als Schüler und wahrscheinlich sogar nach der Schulzeit noch einmal gelesen, aber es mir nicht vor dem Schreibprozess explizit angeschaut. Also es ist nicht bewusst eingebaut, aber das heißt nichts. Die interessanteren Sachen passieren oft unbewusst. Es gab für mich persönlich andere Gründe, warum die Figur so heißt, aber das passt trotzdem wunderbar. Die Schillerschen jungen Männer und etwas Kabale und Liebe stecken ja in dem Roman.
Gibt es sonst Referenzen, die Leserinnen und Leser in Der eiserne Marquis vorfinden, die aber nicht von Ihnen bewusst eingebaut wurden?
Noch gibt es, soweit ich mitbekommen habe, kein Feedback in diese Richtung. Was aber daran liegt, dass die meisten gerade erst in der Mitte des Romans sind. Ich rechne damit, dass das noch kommt, weil ich noch gar nicht mit so vielen gesprochen habe, die überhaupt alles gelesen haben. In einem Artikel der SZ wurde der Grüne Heinrich erwähnt, den ich seit Jahren im Regal stehen habe und lesen möchte, was ich aber bislang nicht geschafft habe.
Welche Rolle spielt die Musik in Der eiserne Marquis?
Im Tal ging es mir bewusst um die Abwesenheit von Musik als die Vorstellung von einer Welt, in der ich nicht leben möchte. In Der eiserne Marquis taucht die Musik hingegen in vielen Dingen auf. Es war jedoch kein zentraler Punkt, sie spielt meistens dann eine Rolle, wenn es wieder um den Körper geht. Der Tanz ist dabei ein wichtiges Thema. Die Musik zieht sich ein bisschen durch den gesamten Roman, immer wenn es sich anbot, habe ich versucht meine Erfahrungen einfließen zu lassen. Es ist wie gesagt kein zentrales Thema, aber dennoch eine wichtige Konstante – vor allem, wenn es um die Musik-Automaten geht. Kleine Easter-Eggs gibt es natürlich auch ab und zu.
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Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie morgen wieder hier im Journal ...