Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (1)
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Everything my momma do(es)n't like oder Auf der Suche nach Herrn Möwenfern
Möwenfern, das heißt mindestens in Gedanken weit draußen bei den Möwen zu sein, die über Meer und Küste fliegen – frei zu sein. Man könnte auch summen: Die Gedanken sind frei... Steht man heute vor dem Haus „Meerblick“ bzw. der Gedenkstätte, die an seiner Stelle steht (das ursprüngliche Haus brannte 1937 weitgehend nieder), wird man freilich die Segel der Schiffe und Möwen in der Bucht von Tôkyô nicht mehr erblicken können.
Als Mori Rintarô starb, da scheint es, als wollte er sich möglichst unauffällig davonstehlen. Wenige Monate zuvor, als er bereits wusste, dass er sterbenskrank war, verbarg er seine Schwäche und verabschiedete zwei seiner Kinder – die herrlich deutsch benamten Otto (1890-1967) und Mari (1903-1987) – auf Studienreisen nach Europa. In seinem Testament verbat sich Rintarô jede staatliche Ehrung, jeden Prunk. Auf seinem Grabstein solle nur sein Geburtsname stehen, in der Handschrift eines guten Freundes entworfen. So ist es auch geschehen. Den Dichternamen Ôgai hatte er zum Zeitpunkt seines Todes schon fast 10 Jahre nicht mehr verwendet. Müde, vielleicht auch bitter.
So endete das Leben von Mori Rintarô, so könnte auch dieser Beitrag enden – denn weder Mori Rintarô noch sein Alter Ego als Dichter, Mori Ôgai, sind in Deutschland sonderlich bekannt. Zwar sind endlich ein paar Übersetzungen (zumeist) früher Geschichten von ihm wieder erhältlich, sein populärstes Werk, das Balletmädchen (in anderen Übersetzungen auch Die Tänzerin) ist als Berliner Erzählung sogar seit Langem zu kaufen; Bestseller sind sie alle dennoch nicht. Denn wie viele große Literatur fordert Ôgai. Wo sein Zeitgenosse Sôseki Natsume (1867-1916) lebhaft, fröhlich, humorvoll, satirisch ist – wer ihn nicht kennt, der lese nur Ich der Kater und den etwas unglücklich benannten Tor aus Tokio (wie kann man den Originaltitel Botchan kurz und angemessen übersetzen?) –, ist Ôgai... ja, wie?
Japanisch ist eine in Vielem vage Sprache. Mori Ôgai, als ein Meister seiner Sprache und ihrer vielschichtigen Bildzeichen, trieb diese Unschärfe in seinen Texten auf die Spitze, insbesondere, was den Tonfall seiner Texte betrifft. Seine Erzählungen scheinen oft einfach, simpel, eröffnen aber auf den zweiten Blick Untiefen und Mehrschichtigkeiten, die ihrerseits in jede Richtung interpretiert werden können. So kann ein und derselbe Satz bei ihm ironisch gemeint sein oder ernst, patriotisch oder kritisch. Bei seinen literarischen Vexierbildern nimmt uns der Autor selten an die Hand, er lässt uns frei darin sein, was wir aus seinen Worten machen. Möwenfern – auch wir!
So urjapanisch Mori Rintarô uns scheint, am Anfang seiner Karriere standen prägende Jahre in Deutschland. Von 1884 bis 1888 war der junge Spross einer Arztfamilie aus dem westjapanischen Tsuwano von der japanischen Armee nach Deutschland geschickt worden, um sich mit westlicher Medizin (zumindest soweit sie für Soldaten nützlich war) und Hygiene zu beschäftigen. Er war nicht der Einzige. Viele junge Japaner wurden damals auf Staatskosten nach Europa geschickt, um sich auf den neuesten Stand von Medizin, Recht, Kriegskunst, Kunst und allgemein den Natur- und Geisteswissenschaften zu bringen.
Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin und Sachsen kommt Rintarô am 8. März 1886 in München an, um bei Max von Pettenkofer (1818-1901) zu studieren; er wird bis zum 15. April 1887 in der bayerischen Landeshauptstadt bleiben, bevor er wieder nach Berlin zurückkehrt.
Die Jahre in Deutschland prägen Mori Rintarô. Er lernt, liest, lebt. Schriftstellerische Ambitionen hatte er bereits vor seiner Reise, doch nach seiner Rückkehr nach Japan explodiert, immer parallel zu einer zeitraubenden militärischen Karriere als Armeearzt, sein Ausstoß an Gedichten, Geschichten, Übersetzungen. Allein für das Jahr 1890, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Deutschland, sind über 140 Veröffentlichungen belegt. Sozusagen fast dreimal die Woche ein neuer Ôgai. Man kann förmlich spüren, wie alles das, was Mori Rintarô in Deutschland aufgesogen hatte, sich Bahn brach, brechen musste.
Von den Zeitabschnitten in Europa (grob Berlin I, Leipzig und Sachsen, München, Berlin II) nimmt die Zeit in München einen besonderen Stellenwert ein. Denn in Berlin gab es die japanische Botschaft mit ihrem Personal, zu seinem Umgang gehörten zahlreiche Militärangehörige, im letzten Abschnitt musste Rintarô auch als Begleiter seines Vorgesetzten dienen. Er stand dort mal stärker, mal weniger stark, unter Beobachtung. Darüber kann auch die im Ballettmädchen verklärte Beziehung zu einer Deutschen, Elise Wiegert, nicht hinwegtäuschen. Auch in Sachsen bewegte er sich in hohen und höchsten Militärkreisen, bis hin zum sächsischen König selbst, den er bei einem Manöver kennenlernte. In München dagegen war Rintarô frei, wie sonst nur selten in Deutschland. Sein Freundeskreis bestand weniger aus Armeeangehörigen als aus Wissenschaftlern und Künstlern. Er war hier ein kleiner, fester Teil der Bohème, sozusagen als München gerade anfing, zu leuchten. München war also nicht „der“ Ausgangspunkt des Dichters Möwenfern, aber sehr sicher einer davon.
Der 100. Todestag von Mori Rintarô, von „Herrn Möwenfern“, ist damit durchaus auch ein Jubiläum für die bayerisch-japanische Literaturgeschichte. In Japan ist Mori Ôgai ein Klassiker.* Hier und gerade in München ist er es wert, neu entdeckt zu werden.
Freilich: Einfach wird es nicht. Zwar liegt das Tagebuch in einer schönen Übersetzung von Heike Schöche auf Deutsch vor (kaufen Sie es sich ruhig oder gehen Sie mal in Ihre örtliche Bücherverwahranstalt), online gibt es ein Register dazu, aber damit beginnen erst die Schwierigkeiten. Zunächst einmal ist das Original verschollen; was existiert, ist lediglich eine bereits für den Druck vorbereitete Abschrift, die von Ôgai und dann auch noch von seiner Mutter bereinigt worden ist. Wer Metal hört und die Band Helloween (inklusive ihren Englischkenntnissen) kennt, ahnt schon, was der familiären (Selbst)zensur zum Opfer gefallen ist: everything my momma don't like... Auch könnte noch ein weiteres Tagebuch, ein „intimes“ Tagebuch existiert haben. Das Deutschlandtagebuch Ôgais ist damit nicht so viel anders als viele seiner Erzählungen. Es existiert, es schafft einen Rahmen, der aber noch von uns selbst erklärt werden muss...
* Und sicherlich kaum mehr gelesen als Klassiker hierzulande. Oder wann hatten Sie mal wieder einen Goethe zu Besuch auf Ihrem Nachtkastl? Ich habe bei mir nachgezählt, es dürften rund 15 Jahre sein.
Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (1)>
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
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Everything my momma do(es)n't like oder Auf der Suche nach Herrn Möwenfern
Möwenfern, das heißt mindestens in Gedanken weit draußen bei den Möwen zu sein, die über Meer und Küste fliegen – frei zu sein. Man könnte auch summen: Die Gedanken sind frei... Steht man heute vor dem Haus „Meerblick“ bzw. der Gedenkstätte, die an seiner Stelle steht (das ursprüngliche Haus brannte 1937 weitgehend nieder), wird man freilich die Segel der Schiffe und Möwen in der Bucht von Tôkyô nicht mehr erblicken können.
Als Mori Rintarô starb, da scheint es, als wollte er sich möglichst unauffällig davonstehlen. Wenige Monate zuvor, als er bereits wusste, dass er sterbenskrank war, verbarg er seine Schwäche und verabschiedete zwei seiner Kinder – die herrlich deutsch benamten Otto (1890-1967) und Mari (1903-1987) – auf Studienreisen nach Europa. In seinem Testament verbat sich Rintarô jede staatliche Ehrung, jeden Prunk. Auf seinem Grabstein solle nur sein Geburtsname stehen, in der Handschrift eines guten Freundes entworfen. So ist es auch geschehen. Den Dichternamen Ôgai hatte er zum Zeitpunkt seines Todes schon fast 10 Jahre nicht mehr verwendet. Müde, vielleicht auch bitter.
So endete das Leben von Mori Rintarô, so könnte auch dieser Beitrag enden – denn weder Mori Rintarô noch sein Alter Ego als Dichter, Mori Ôgai, sind in Deutschland sonderlich bekannt. Zwar sind endlich ein paar Übersetzungen (zumeist) früher Geschichten von ihm wieder erhältlich, sein populärstes Werk, das Balletmädchen (in anderen Übersetzungen auch Die Tänzerin) ist als Berliner Erzählung sogar seit Langem zu kaufen; Bestseller sind sie alle dennoch nicht. Denn wie viele große Literatur fordert Ôgai. Wo sein Zeitgenosse Sôseki Natsume (1867-1916) lebhaft, fröhlich, humorvoll, satirisch ist – wer ihn nicht kennt, der lese nur Ich der Kater und den etwas unglücklich benannten Tor aus Tokio (wie kann man den Originaltitel Botchan kurz und angemessen übersetzen?) –, ist Ôgai... ja, wie?
Japanisch ist eine in Vielem vage Sprache. Mori Ôgai, als ein Meister seiner Sprache und ihrer vielschichtigen Bildzeichen, trieb diese Unschärfe in seinen Texten auf die Spitze, insbesondere, was den Tonfall seiner Texte betrifft. Seine Erzählungen scheinen oft einfach, simpel, eröffnen aber auf den zweiten Blick Untiefen und Mehrschichtigkeiten, die ihrerseits in jede Richtung interpretiert werden können. So kann ein und derselbe Satz bei ihm ironisch gemeint sein oder ernst, patriotisch oder kritisch. Bei seinen literarischen Vexierbildern nimmt uns der Autor selten an die Hand, er lässt uns frei darin sein, was wir aus seinen Worten machen. Möwenfern – auch wir!
So urjapanisch Mori Rintarô uns scheint, am Anfang seiner Karriere standen prägende Jahre in Deutschland. Von 1884 bis 1888 war der junge Spross einer Arztfamilie aus dem westjapanischen Tsuwano von der japanischen Armee nach Deutschland geschickt worden, um sich mit westlicher Medizin (zumindest soweit sie für Soldaten nützlich war) und Hygiene zu beschäftigen. Er war nicht der Einzige. Viele junge Japaner wurden damals auf Staatskosten nach Europa geschickt, um sich auf den neuesten Stand von Medizin, Recht, Kriegskunst, Kunst und allgemein den Natur- und Geisteswissenschaften zu bringen.
Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin und Sachsen kommt Rintarô am 8. März 1886 in München an, um bei Max von Pettenkofer (1818-1901) zu studieren; er wird bis zum 15. April 1887 in der bayerischen Landeshauptstadt bleiben, bevor er wieder nach Berlin zurückkehrt.
Die Jahre in Deutschland prägen Mori Rintarô. Er lernt, liest, lebt. Schriftstellerische Ambitionen hatte er bereits vor seiner Reise, doch nach seiner Rückkehr nach Japan explodiert, immer parallel zu einer zeitraubenden militärischen Karriere als Armeearzt, sein Ausstoß an Gedichten, Geschichten, Übersetzungen. Allein für das Jahr 1890, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Deutschland, sind über 140 Veröffentlichungen belegt. Sozusagen fast dreimal die Woche ein neuer Ôgai. Man kann förmlich spüren, wie alles das, was Mori Rintarô in Deutschland aufgesogen hatte, sich Bahn brach, brechen musste.
Von den Zeitabschnitten in Europa (grob Berlin I, Leipzig und Sachsen, München, Berlin II) nimmt die Zeit in München einen besonderen Stellenwert ein. Denn in Berlin gab es die japanische Botschaft mit ihrem Personal, zu seinem Umgang gehörten zahlreiche Militärangehörige, im letzten Abschnitt musste Rintarô auch als Begleiter seines Vorgesetzten dienen. Er stand dort mal stärker, mal weniger stark, unter Beobachtung. Darüber kann auch die im Ballettmädchen verklärte Beziehung zu einer Deutschen, Elise Wiegert, nicht hinwegtäuschen. Auch in Sachsen bewegte er sich in hohen und höchsten Militärkreisen, bis hin zum sächsischen König selbst, den er bei einem Manöver kennenlernte. In München dagegen war Rintarô frei, wie sonst nur selten in Deutschland. Sein Freundeskreis bestand weniger aus Armeeangehörigen als aus Wissenschaftlern und Künstlern. Er war hier ein kleiner, fester Teil der Bohème, sozusagen als München gerade anfing, zu leuchten. München war also nicht „der“ Ausgangspunkt des Dichters Möwenfern, aber sehr sicher einer davon.
Der 100. Todestag von Mori Rintarô, von „Herrn Möwenfern“, ist damit durchaus auch ein Jubiläum für die bayerisch-japanische Literaturgeschichte. In Japan ist Mori Ôgai ein Klassiker.* Hier und gerade in München ist er es wert, neu entdeckt zu werden.
Freilich: Einfach wird es nicht. Zwar liegt das Tagebuch in einer schönen Übersetzung von Heike Schöche auf Deutsch vor (kaufen Sie es sich ruhig oder gehen Sie mal in Ihre örtliche Bücherverwahranstalt), online gibt es ein Register dazu, aber damit beginnen erst die Schwierigkeiten. Zunächst einmal ist das Original verschollen; was existiert, ist lediglich eine bereits für den Druck vorbereitete Abschrift, die von Ôgai und dann auch noch von seiner Mutter bereinigt worden ist. Wer Metal hört und die Band Helloween (inklusive ihren Englischkenntnissen) kennt, ahnt schon, was der familiären (Selbst)zensur zum Opfer gefallen ist: everything my momma don't like... Auch könnte noch ein weiteres Tagebuch, ein „intimes“ Tagebuch existiert haben. Das Deutschlandtagebuch Ôgais ist damit nicht so viel anders als viele seiner Erzählungen. Es existiert, es schafft einen Rahmen, der aber noch von uns selbst erklärt werden muss...
* Und sicherlich kaum mehr gelesen als Klassiker hierzulande. Oder wann hatten Sie mal wieder einen Goethe zu Besuch auf Ihrem Nachtkastl? Ich habe bei mir nachgezählt, es dürften rund 15 Jahre sein.