Zu den Gemeinsamkeiten von literarischen und journalistischen Essays
Heute habe sie „Gott befragt“, notierte Susan Sontag im Dezember 1949. Ihr Gott, das war Thomas Mann, den die damals 16-Jährige in dessen kalifornischem Exil aufgesucht hatte. „Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie Der Zauberberg, erzählte Susan Sontag 54 Jahre später, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekam. Geehrt wurde die „Suchende“, die Literatin und Publizistin, die Wahrheiten misstraute und alles durchdachte. So umfasst Sontags Werk zu großen Teilen Essays, Versuche.
Was Thomas Mann zum Zauberberg sagte, hatte sie damals akribisch festgehalten und später verinnerlicht. Thomas Mann habe in seinem Roman „versucht, eine Summa aller Probleme zu geben, die sich Europa vor dem Ersten Weltkrieg stellten“. Und: Es sei ihm darum gegangen, „Fragen zu stellen, nicht Lösungen zu präsentieren – das wäre anmaßend“.
Arbeiten mit dem Möglichkeitssinn
Essayismus nennt sich das Gestaltungsprinzip im Roman, wenn eine Handlung mit gedanklich-theoretischen Überlegungen angereichert wird, sich Literatur und Wissenschaft verbinden. Weit verbreitet in den modernen Romanen des frühen 20. Jahrhunderts, findet der Essayismus bei Robert Musil 1930 seine Vollendung. In Der Mann ohne Eigenschaften etablierte der österreichische Autor den „Möglichkeitssinn“, der es seinem Alter Ego Ulrich stets erlaubt, „alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“.
Ähnlich hatte es bereits Michel de Montaigne formuliert, als er das Genre in seiner klassischen kurzen Form etwa 350 Jahre zuvor begründete. „Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung“, schrieb er in seinen Essais. Originär erfunden hatte auch Montaigne diese nicht: Er orientierte sich an Schriften aus der römischen und griechischen Antike. Bis heute gilt die von ihm beschriebene gedankliche Offenheit als Merkmal des (literarischen) Essays. Dieser soll nicht allgemeingültig antworten, nichts abhandeln oder erklären, sondern geistreich zwischen Argumentation und Assoziationen mäandern. Sich vorantasten, um mit einem Mal freudig abzubiegen.
Robert Musil (links) vollendete den literarischen Essayismus – stellte seinen Mann ohne Eigenschaften über all den möglichen Variationen jedoch nie fertig. Thomas Mann (Foto: Archiv Monacensia) ließ in Der Zauberberg sämtliche Probleme einfließen ließ, die Europa vor dem Ersten Weltkrieg umtrieben. Deren Analyse überließ er seinen Figuren.
Es sei „ein Spaziergang, ein Lustwandeln, keine Handelsreise“, postulierte Michael Hamburger 1965 in seinem vielbeachteten Essay über den Essay. Angesichts der damals grassierenden, sogenannten „kritischen Essays“, die etwas Bestimmtes fokussierten, die Antworten und Urteile lieferten, prognostizierte der deutsch-britische Lyriker das Ende dieser literarischen Gattung. Als „echt essayistisch“ bezeichnete er neben dem Mann ohne Eigenschaften allein Robert Walsers Prosastücke sowie einige kürzere Werke von Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Man begegne kaum mehr stilvollen Essays, klagte Hamburger, man begegne nur mehr dem „Geist der Essayistik“.
Das angekündigte Ende des Essays blieb aus. Heute versuchen sich daran neben Literaten auch Journalisten, Mediziner, Mathematiker, Wissenschaftler aller Fakultäten. Und während sich literarische Essay-Sammlungen tatsächlich nur dann noch gut verkaufen, wenn sie von Großmeistern wie Hans Magnus Enzensberger und Roland Barthes oder Denkerinnen wie Siri Hustvedt und eben Susan Sontag verfasst wurden, lebt der Essay als Darstellungsform in der Presse auf. Eine Verflachung oder gar einen Verfall muss das nicht zur Folge haben. Seit Montaignes Zeiten finden sich Autoren, die beides bedienten: Literatur und Presse. So gilt Daniel Defoe als Vater des Romans und des Journalismus im England des 18. Jahrhunderts. Der Urheber von Robinson Crusoe gab Zeitschriften heraus und stellte dort Fakten neben Fiktion – in literarischen und journalistischen Texten. 1697 behandelte er in Ein Essay über Projekte sehr persönlich wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Themen seiner Zeit
Robert Walser (links), Erich Kästner (Mitte) und Hans Magnus Enzensberger (rechts, Foto: Mariusz Kubik)
Der Begriff Essay kommt nach Deutschland
Im deutschen Sprachraum tauchte der Begriff Essay erst etwas später auf. Essayistische Prosa und Aufsätze für Zeitschriften verfassten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter anderem Lessing, Herder, Schopenhauer sowie Schiller und Goethe. Doch erst der Kunsthistoriker Herman Grimm nannte seine Texte um 1850 erstmals Essays. Kurz zuvor war Heinrich Heine, ein essayistisch publizierender Literat, ins politische Exil nach Paris emigriert.
Die Linie der Exilierten führt sich fort: Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Thomas Mann, sein Bruder Heinrich und weitere Autoren Essays teilweise aus dem Exil, nach 1945 wechselte Erich Kästner als Feuilletonleiter der Münchner Neuen Zeitung leichthändig zwischen Journalistischem und Literarischem.
Vielleicht ist es dem Essay ja sogar wesenseigen, dass er die Unterscheidung zwischen Literatur und Journalismus aushebelt. Susan Sontag beschreibt in The Doors und Dostojewski ihr Unbehagen, sobald einer ihrer Essays „einer linearen Argumentation“ folge. Sie habe dann das Gefühl, „dass ich die Dinge in eine sequenzielle Form zwinge, die sie eigentlich nicht haben“.
*
Tina Rausch studierte Neuere Deutsche Literatur, Pädagogik und Sozialpsychologie und arbeitet seit ihrem Abschluss an der Ludwig-Maximilians-Universität München als freie Redakteurin, Lektorin und Journalistin mit Schwerpunkt auf literarischen Themen. Zudem konzipiert und leitet sie literarische Workshops für Kinder und Jugendliche. Im Literaturportal Bayern erschien von ihr zuletzt ein Auszug aus dem sehr originellen Überblickswerk Allgemeinbildung deutsche Literatur (zusammen mit Ulrich Kirstein).
Dieser Artikel erschien erstmals in der Journalisten-Werkstatt Der Essay von Peter Linden (Medium Magazin 2018).
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Heute habe sie „Gott befragt“, notierte Susan Sontag im Dezember 1949. Ihr Gott, das war Thomas Mann, den die damals 16-Jährige in dessen kalifornischem Exil aufgesucht hatte. „Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie Der Zauberberg, erzählte Susan Sontag 54 Jahre später, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekam. Geehrt wurde die „Suchende“, die Literatin und Publizistin, die Wahrheiten misstraute und alles durchdachte. So umfasst Sontags Werk zu großen Teilen Essays, Versuche.
Was Thomas Mann zum Zauberberg sagte, hatte sie damals akribisch festgehalten und später verinnerlicht. Thomas Mann habe in seinem Roman „versucht, eine Summa aller Probleme zu geben, die sich Europa vor dem Ersten Weltkrieg stellten“. Und: Es sei ihm darum gegangen, „Fragen zu stellen, nicht Lösungen zu präsentieren – das wäre anmaßend“.
Arbeiten mit dem Möglichkeitssinn
Essayismus nennt sich das Gestaltungsprinzip im Roman, wenn eine Handlung mit gedanklich-theoretischen Überlegungen angereichert wird, sich Literatur und Wissenschaft verbinden. Weit verbreitet in den modernen Romanen des frühen 20. Jahrhunderts, findet der Essayismus bei Robert Musil 1930 seine Vollendung. In Der Mann ohne Eigenschaften etablierte der österreichische Autor den „Möglichkeitssinn“, der es seinem Alter Ego Ulrich stets erlaubt, „alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“.
Ähnlich hatte es bereits Michel de Montaigne formuliert, als er das Genre in seiner klassischen kurzen Form etwa 350 Jahre zuvor begründete. „Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung“, schrieb er in seinen Essais. Originär erfunden hatte auch Montaigne diese nicht: Er orientierte sich an Schriften aus der römischen und griechischen Antike. Bis heute gilt die von ihm beschriebene gedankliche Offenheit als Merkmal des (literarischen) Essays. Dieser soll nicht allgemeingültig antworten, nichts abhandeln oder erklären, sondern geistreich zwischen Argumentation und Assoziationen mäandern. Sich vorantasten, um mit einem Mal freudig abzubiegen.
Robert Musil (links) vollendete den literarischen Essayismus – stellte seinen Mann ohne Eigenschaften über all den möglichen Variationen jedoch nie fertig. Thomas Mann (Foto: Archiv Monacensia) ließ in Der Zauberberg sämtliche Probleme einfließen ließ, die Europa vor dem Ersten Weltkrieg umtrieben. Deren Analyse überließ er seinen Figuren.
Es sei „ein Spaziergang, ein Lustwandeln, keine Handelsreise“, postulierte Michael Hamburger 1965 in seinem vielbeachteten Essay über den Essay. Angesichts der damals grassierenden, sogenannten „kritischen Essays“, die etwas Bestimmtes fokussierten, die Antworten und Urteile lieferten, prognostizierte der deutsch-britische Lyriker das Ende dieser literarischen Gattung. Als „echt essayistisch“ bezeichnete er neben dem Mann ohne Eigenschaften allein Robert Walsers Prosastücke sowie einige kürzere Werke von Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Man begegne kaum mehr stilvollen Essays, klagte Hamburger, man begegne nur mehr dem „Geist der Essayistik“.
Das angekündigte Ende des Essays blieb aus. Heute versuchen sich daran neben Literaten auch Journalisten, Mediziner, Mathematiker, Wissenschaftler aller Fakultäten. Und während sich literarische Essay-Sammlungen tatsächlich nur dann noch gut verkaufen, wenn sie von Großmeistern wie Hans Magnus Enzensberger und Roland Barthes oder Denkerinnen wie Siri Hustvedt und eben Susan Sontag verfasst wurden, lebt der Essay als Darstellungsform in der Presse auf. Eine Verflachung oder gar einen Verfall muss das nicht zur Folge haben. Seit Montaignes Zeiten finden sich Autoren, die beides bedienten: Literatur und Presse. So gilt Daniel Defoe als Vater des Romans und des Journalismus im England des 18. Jahrhunderts. Der Urheber von Robinson Crusoe gab Zeitschriften heraus und stellte dort Fakten neben Fiktion – in literarischen und journalistischen Texten. 1697 behandelte er in Ein Essay über Projekte sehr persönlich wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Themen seiner Zeit
Robert Walser (links), Erich Kästner (Mitte) und Hans Magnus Enzensberger (rechts, Foto: Mariusz Kubik)
Der Begriff Essay kommt nach Deutschland
Im deutschen Sprachraum tauchte der Begriff Essay erst etwas später auf. Essayistische Prosa und Aufsätze für Zeitschriften verfassten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter anderem Lessing, Herder, Schopenhauer sowie Schiller und Goethe. Doch erst der Kunsthistoriker Herman Grimm nannte seine Texte um 1850 erstmals Essays. Kurz zuvor war Heinrich Heine, ein essayistisch publizierender Literat, ins politische Exil nach Paris emigriert.
Die Linie der Exilierten führt sich fort: Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Thomas Mann, sein Bruder Heinrich und weitere Autoren Essays teilweise aus dem Exil, nach 1945 wechselte Erich Kästner als Feuilletonleiter der Münchner Neuen Zeitung leichthändig zwischen Journalistischem und Literarischem.
Vielleicht ist es dem Essay ja sogar wesenseigen, dass er die Unterscheidung zwischen Literatur und Journalismus aushebelt. Susan Sontag beschreibt in The Doors und Dostojewski ihr Unbehagen, sobald einer ihrer Essays „einer linearen Argumentation“ folge. Sie habe dann das Gefühl, „dass ich die Dinge in eine sequenzielle Form zwinge, die sie eigentlich nicht haben“.
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Tina Rausch studierte Neuere Deutsche Literatur, Pädagogik und Sozialpsychologie und arbeitet seit ihrem Abschluss an der Ludwig-Maximilians-Universität München als freie Redakteurin, Lektorin und Journalistin mit Schwerpunkt auf literarischen Themen. Zudem konzipiert und leitet sie literarische Workshops für Kinder und Jugendliche. Im Literaturportal Bayern erschien von ihr zuletzt ein Auszug aus dem sehr originellen Überblickswerk Allgemeinbildung deutsche Literatur (zusammen mit Ulrich Kirstein).
Dieser Artikel erschien erstmals in der Journalisten-Werkstatt Der Essay von Peter Linden (Medium Magazin 2018).