Logen-Blog [495]: Vorzügliche Kenntnisse der Dinge auf der Erde
Wie müssen wir uns die Spanische Gesellschaft zur Zeit Jean Pauls, insbesondere aber zur Zeit der Loge vorstellen? Etwa so.
Wer will, findet dieses Gemälde im Palacio de la Condesa de Lebrija in Sevilla, der kurz nach 1900 von der Gräfin mit Antiquitäten von vielerlei Art eingerichtet wurde: auch mit Porträts der „besseren Gesellschaft“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es ist nicht schwer, in diesen Leuten ein Abbild unserer Helden zu erblicken: vielleicht die Bouse, vielleicht Oefel, vielleicht Fenk, vielleicht sogar Ottomar – aber zu ihm kommen wir noch.
Una señora – meilenweit entfernt von Joditz, Schwarzenbach und Leipzig, aber doch in einer Welt lebend.
Um historisch relevantere Gestalten kennenzulernen, müssen wir uns in das Archivo General de Indias, gleich neben der Kathedrale gelegen, begeben. Weltkulturerbe! Und ein Ort, an dem wir interessanten Menschen begegnen.
Ich stelle vor: Antonio de Ulloa y Torre-Guiral. Ein Seefahrer und Schriftsteller. Rund 50 Jahre älter als Jean Paul, wurde er in Sevilla geboren, fuhr er 1730 zum ersten Mal zur See. Noch kam er nicht bis Kuba, da das Schiff in einem Sturm scheiterte. Erst Mitte der dreißiger Jahre ging es, und nun gleich groß, weiter: Ulloa war Mitglied der französischen Truppe, die den Breitengrad unter dem Äquator im Königreich Neugranada ausmessen wollte. Kurz und gut: bei der Rückfahrt wurde das Schiff von den Engländern gekapert und unser Mann nach London gebracht, wo er höflich behandelt wurde, da man, so die Admiralität, nicht mit Kunst und Wissenschaft und den Professoren dieser Wissenschaft im Krieg stünde. 1746 kehrte er in sein Heimatland zurück, reiste studienhalber durch Europa, kümmerte sich in Spanien um die Neuorganisierung der Medizinerausbildung, gründete Textilmanufakturen und entwickelte den Quecksilber-Bergbau in Almadén. Seine politische Karriere begann 1766, als Louisiana spanisch wurde und Ulloa zum Gouverneur ernannt wurde – dies ist vielleicht der Hauptgrund seiner Anwesenheit auf der Wänden des Archivo de General de Indias, an denen man die Gouverneure der externen spanischen Ländern vereinigt hat.
Interessant ist nun die Erläuterung seines Charakters, die man an der bekannten Stelle findet:
Dort heiratete er auch seine aus Peru stammende Frau. Da er dies allerdings ohne viel Zeremonie auf einem Schiff in der Mississippi-Mündung tat, trug das zur Kritik an ihm bei (wie auch sein wenig der Repräsentation zugeneigte nüchterne Charakter und längere Abwesenheiten und Vernachlässigung seiner Amtspflichten zugunsten der Wissenschaft), so dass er nach zwei Jahren abgelöst wurde.
Klingt das nicht ein wenig, als habe sich Kapitän Ottomar hinter unserem Meerreisenden und Forscher versteckt, der sich, darin Humboldt vorangehend, für die Blutzirkulation von Fischen, für Elektrizität und Magnetismus interessierte? Und er war, immerhin ein wenig wie Humboldt, ein Schriftsteller! 1748 veröffentlichte er den Reisebericht seiner südamerikanischen Tour, 1772 seine Noticias americanas: entretenimientos físico-históricos sobre la América meridional, y la septentrional oriental: comparación general de los territorios, climas y producciones en las tres especies vegetal, animal y minera. Jean Paul hätte diese Schrift des Comthurs von Ocaña und Ritters vom Orden von Santiago, General=Lieutenant der königl. Spanischen Flotte, Mitglieds der königl. Gesellsch. der Wissensch. zu London, und der königl. Akademien der Wissenschaften zu Stockholm, zu Berlin u. s. w. auch in deutscher Sprache lesen können, denn die Physikalischen und historischen Nachrichten vom südlichen und nordöstlichen America waren 1781 in Leipzig herausgekommen.
1778 erschien seine astronomischen Untersuchungen Observación en el mar de un eclipse de sol, im selben Jahr eine verwandte Arbeit, die nicht in Spanien, sondern in Berlin veröffentlicht wurde: in den Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres (wo sie einem gierigen Leser, der kurze Zeit später nach Leipzig zog, zur Verfügung standen). Schließlich erschienen, in seinem Todesjahr 1795, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Loge, noch die Conversaciones de Ulloa con sus tres hijos en servicio de la marina instructivas y curiosas, sobre las navegaciones, y modo de hacerlas, el pilotaje y la maniobra. Die drei Töchter mögen sich bedankt haben.
Zugegeben: Ottomar wären derartige Zeilen nicht aus der Feder geflossen:
Wenn es Völker gibt, die noch etwas von dem ursprünglichen Stande der Natur des Menschen beibehalten haben, so müssen es ohne Zweifel die Indianer sein. Da diese in einer Lage geblieben sind, wodurch sie von dem Umgange und der Gemeinschaft mit den übrigen Völkern abgesondert und entfernt waren, so ist es ganz natürlich, dass sie einige Dinge unter sich erhalten haben, welche die ersten Bevölkerer dieses Weltteils mitgebracht hatten, vorzüglich da sie in den Dingen, welche zum gewöhnlichen Gebrauche im gemeinen Leben gehören, keine Anlage noch Talente zu Erfindungen oder Neuerungen an sich merken lassen. Man kann daher aus dem, was man an denen, welche noch in einer gänzlichen Rohigkeit und ohne alle Kultur leben, bemerkt, annehmen, was die Menschen in dem ursprünglichen ersten Zustande der Natur müssen gewesen sein, ehe sie anfingen durch das Studium der Naturkunde aufgeklärt und zivilisiert zu werden, und wodurch sie zu den vorzüglichen Kenntnissen der Dinge auf der Erde, der Gestirne, und durch alle diese zusammen zur Erkenntnis des Schöpfers und seiner unendlichen Weisheit, mit der er alles geordnet und zusammengesetzt hat, gelangten.
Aber es mag sein – zumindest ist die Vorstellung nicht ganz abwegig –, dass auch der spanische Seefahrer und Forscher in schwachen Momenten, die er niemals dem Papier anvertraute, angesichts der Größe und der Freunden und Katastrophen der Erde, zu depressiven Gedanken neigte:
Ach ihr Freuden der Erde alle, ihr sättigt die Brust bloß mit Seufzern und das Auge mit Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auftut, gießet ihr eine Blutwelle mehr!
Fotos: Frank Piontek (September 2014)
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Wie müssen wir uns die Spanische Gesellschaft zur Zeit Jean Pauls, insbesondere aber zur Zeit der Loge vorstellen? Etwa so.
Wer will, findet dieses Gemälde im Palacio de la Condesa de Lebrija in Sevilla, der kurz nach 1900 von der Gräfin mit Antiquitäten von vielerlei Art eingerichtet wurde: auch mit Porträts der „besseren Gesellschaft“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es ist nicht schwer, in diesen Leuten ein Abbild unserer Helden zu erblicken: vielleicht die Bouse, vielleicht Oefel, vielleicht Fenk, vielleicht sogar Ottomar – aber zu ihm kommen wir noch.
Una señora – meilenweit entfernt von Joditz, Schwarzenbach und Leipzig, aber doch in einer Welt lebend.
Um historisch relevantere Gestalten kennenzulernen, müssen wir uns in das Archivo General de Indias, gleich neben der Kathedrale gelegen, begeben. Weltkulturerbe! Und ein Ort, an dem wir interessanten Menschen begegnen.
Ich stelle vor: Antonio de Ulloa y Torre-Guiral. Ein Seefahrer und Schriftsteller. Rund 50 Jahre älter als Jean Paul, wurde er in Sevilla geboren, fuhr er 1730 zum ersten Mal zur See. Noch kam er nicht bis Kuba, da das Schiff in einem Sturm scheiterte. Erst Mitte der dreißiger Jahre ging es, und nun gleich groß, weiter: Ulloa war Mitglied der französischen Truppe, die den Breitengrad unter dem Äquator im Königreich Neugranada ausmessen wollte. Kurz und gut: bei der Rückfahrt wurde das Schiff von den Engländern gekapert und unser Mann nach London gebracht, wo er höflich behandelt wurde, da man, so die Admiralität, nicht mit Kunst und Wissenschaft und den Professoren dieser Wissenschaft im Krieg stünde. 1746 kehrte er in sein Heimatland zurück, reiste studienhalber durch Europa, kümmerte sich in Spanien um die Neuorganisierung der Medizinerausbildung, gründete Textilmanufakturen und entwickelte den Quecksilber-Bergbau in Almadén. Seine politische Karriere begann 1766, als Louisiana spanisch wurde und Ulloa zum Gouverneur ernannt wurde – dies ist vielleicht der Hauptgrund seiner Anwesenheit auf der Wänden des Archivo de General de Indias, an denen man die Gouverneure der externen spanischen Ländern vereinigt hat.
Interessant ist nun die Erläuterung seines Charakters, die man an der bekannten Stelle findet:
Dort heiratete er auch seine aus Peru stammende Frau. Da er dies allerdings ohne viel Zeremonie auf einem Schiff in der Mississippi-Mündung tat, trug das zur Kritik an ihm bei (wie auch sein wenig der Repräsentation zugeneigte nüchterne Charakter und längere Abwesenheiten und Vernachlässigung seiner Amtspflichten zugunsten der Wissenschaft), so dass er nach zwei Jahren abgelöst wurde.
Klingt das nicht ein wenig, als habe sich Kapitän Ottomar hinter unserem Meerreisenden und Forscher versteckt, der sich, darin Humboldt vorangehend, für die Blutzirkulation von Fischen, für Elektrizität und Magnetismus interessierte? Und er war, immerhin ein wenig wie Humboldt, ein Schriftsteller! 1748 veröffentlichte er den Reisebericht seiner südamerikanischen Tour, 1772 seine Noticias americanas: entretenimientos físico-históricos sobre la América meridional, y la septentrional oriental: comparación general de los territorios, climas y producciones en las tres especies vegetal, animal y minera. Jean Paul hätte diese Schrift des Comthurs von Ocaña und Ritters vom Orden von Santiago, General=Lieutenant der königl. Spanischen Flotte, Mitglieds der königl. Gesellsch. der Wissensch. zu London, und der königl. Akademien der Wissenschaften zu Stockholm, zu Berlin u. s. w. auch in deutscher Sprache lesen können, denn die Physikalischen und historischen Nachrichten vom südlichen und nordöstlichen America waren 1781 in Leipzig herausgekommen.
1778 erschien seine astronomischen Untersuchungen Observación en el mar de un eclipse de sol, im selben Jahr eine verwandte Arbeit, die nicht in Spanien, sondern in Berlin veröffentlicht wurde: in den Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres (wo sie einem gierigen Leser, der kurze Zeit später nach Leipzig zog, zur Verfügung standen). Schließlich erschienen, in seinem Todesjahr 1795, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Loge, noch die Conversaciones de Ulloa con sus tres hijos en servicio de la marina instructivas y curiosas, sobre las navegaciones, y modo de hacerlas, el pilotaje y la maniobra. Die drei Töchter mögen sich bedankt haben.
Zugegeben: Ottomar wären derartige Zeilen nicht aus der Feder geflossen:
Wenn es Völker gibt, die noch etwas von dem ursprünglichen Stande der Natur des Menschen beibehalten haben, so müssen es ohne Zweifel die Indianer sein. Da diese in einer Lage geblieben sind, wodurch sie von dem Umgange und der Gemeinschaft mit den übrigen Völkern abgesondert und entfernt waren, so ist es ganz natürlich, dass sie einige Dinge unter sich erhalten haben, welche die ersten Bevölkerer dieses Weltteils mitgebracht hatten, vorzüglich da sie in den Dingen, welche zum gewöhnlichen Gebrauche im gemeinen Leben gehören, keine Anlage noch Talente zu Erfindungen oder Neuerungen an sich merken lassen. Man kann daher aus dem, was man an denen, welche noch in einer gänzlichen Rohigkeit und ohne alle Kultur leben, bemerkt, annehmen, was die Menschen in dem ursprünglichen ersten Zustande der Natur müssen gewesen sein, ehe sie anfingen durch das Studium der Naturkunde aufgeklärt und zivilisiert zu werden, und wodurch sie zu den vorzüglichen Kenntnissen der Dinge auf der Erde, der Gestirne, und durch alle diese zusammen zur Erkenntnis des Schöpfers und seiner unendlichen Weisheit, mit der er alles geordnet und zusammengesetzt hat, gelangten.
Aber es mag sein – zumindest ist die Vorstellung nicht ganz abwegig –, dass auch der spanische Seefahrer und Forscher in schwachen Momenten, die er niemals dem Papier anvertraute, angesichts der Größe und der Freunden und Katastrophen der Erde, zu depressiven Gedanken neigte:
Ach ihr Freuden der Erde alle, ihr sättigt die Brust bloß mit Seufzern und das Auge mit Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auftut, gießet ihr eine Blutwelle mehr!
Fotos: Frank Piontek (September 2014)