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30.09.2014, 14:20 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [488]:Mehrere Berufshütten und ein Apart betr. Rezensenten

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Bad Elster

Die Heiterkeit des Rokoko ergießt sich in die Gefühlsempfindungen der Jean-Paul-Ära. Nämlich so: kaum ist der Erzähler in Lilienbad angekommen, wo er im ersten Himmel eingeschlafen und im dritten aufgewacht ist

Es ist zu schön: Man sollte an keinen Orten aufwachen als an fremden – in keinen Zimmern als denen, in welchen die Morgensonne ihre ersten Flammen wirft – vor keinen Fenstern als denen, wo das Schattengrün wie ein Namenzug im himmlischen Feuerwerk brennt und wo der Vogel zwischen den durchhüpften Blättern schreiet. Inzwischen weiß man indes, dass sich, schläft der Mensch nicht lange genug im Dunkeln, Körper und Geist nicht optimal von den Tagesermüdungen erholen können. Von den frühen Vogelrufen, die den armen Schläfer aus dem Schlaf wecken, will ich nicht reden. Wer also im Sommer am offenen Fenster schlummert, durch den schon früh die Sonne bricht, könnte es irgendwann einmal mit gesundheitlichen Problemen zu tun bekommen. Umgekehrt bestand Gustavs Kinderleben darin, dass er seine ersten Jahre in einer naturlichtlosen Höhle verlebte – eine physiologisch und neurologisch problematische Geschichte, die auf Dauer ebenso ungesund ist wie das „romantische“ Schlafen am Morgenlicht und am schrillen Vogelruf.

 – kommt er auf die Hauszeichen zu sprechen, die den Badegästen ihre „Berufe“ zuteilen. „Jean Paul“ wird also flugs zum Damenschneider, weil an der „Kunst-Bauerhütte“, die mit den anderen um den Brunnen aufgestellt wurden, das Signum eben jenes Berufsstandes zu sehen ist: eine Schere. Philippine wird zum Strumpfwirker – und der Erzähler wieder zum Humoristen: denn es ist nicht ausgemacht, ob Gustavs Schusterhauszeichen ein hölzerner Stiefel oder ein hölzernes Bein sei. Wer kann's wissen?

Beatas Hütte aber ist die einer Bäuerin, ja: einer schönen Bäuerin, denn die Leiter an ihr verweist auf die Himmelsleiter, unter der man wenigstens einen Engel sieht. Man sieht und spürt: auch der Erzähler ist verliebt in seine aparte Heldin, den idealen (man bemerke die Verdoppelung) Engel, der nicht anders als in einer himmlischen Hütte wohnen kann.

Ein Apart betr. Rezensenten

Apropos apart: der Erzähler kann es nicht lassen: er beschwert sich wieder einmal im Voraus über seine zukünftigen Rezensenten. Der (!) Rezensent täte, sagt er, gut daran, mit ihm in Lilienbad zu leben, denn in diesem Fall würde er nicht über des Dichters Freuden-Sektores den ästhetischen Stab brechen, sondern einen Eichenzweig, um den Vater derselben zu bekränzen.

Jean Paul scheint unangenehme Erfahrungen mit seinen Rezensenten gemacht zu haben, aber welche waren das? Wer zur vierbändigen Sammlung der zeitgenössischen Rezensionen von Jean Pauls Werken greift, die 1978-1988 als Einzelbände der Jahrbücher der Jean Paul Gesellschaft erschienen, wird nicht viel entdecken: die Auswahl aus des Teufels Papieren wurde einmal der Kritik für würdig erachtet, die Grönländischen Prozesse immerhin viermal. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Mehr als bloße Anzeigen mit längeren Zitaten kamen da selten zusammen. Eines aber ist deutlich: der Vorwurf der Weitschweifigkeit und der weithergeholten Vergleichungen – bei aller Würzung durch eine ziemlich scharfe Lauge, durch unerwartete Gleichnisse und angenehm überraschende Einfälle. Genauer und richtiger hätten es die Rezensenten nicht treffen können; die frühen Satiren sind selten dazu angetan, den Leser auf Dauer zu fesseln. Der Rezensent der Grönländischen Prozesse, der 1783 eine Besprechung im Raisonnirenden Bücherverzeichnis veröffentlichte, fragte allerdings ganz richtig: Muss der Leser so lange lesen, bis er zuviel gelesen?. Allzu bemüht aber kommt da mancher Vergleichungswitz zustande. Der Rezensent namens G. hat das Problem 1785 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek also durchaus richtig diagnostiziert:

Uebrigens sollte man denken, dass es ungeheure sich nicht genug belohnende Mühe kosten müsse, ein solches Buch zu schreiben, und dass man wirklich Jahre lang sammeln könnte, ehe man einen so gewaltigen Vorrath von Bildern zusammenbrächte. Und wozu soll das nützen?

Jean Paul hat selbst geahnt, dass seine Grönländischen Prozesse den Lesern Schwierigkeiten bereiten könnten, daher er denn auch im Beschlus des ersten Bändchens die Vorwürfe bereits durchdiskutiert und sich verteidigt hat. Nicht alle aber waren gegen Jean Paul, nur einer vollkommen gegen ihn eingestellt: Der Rezensent von 1783 betont die witzige und geistreiche Nahrung des Werks, nur der Criticus, der 1784 im Allgemeinen Verzeichnis neuer Bücher sechs brutale Zeilen einrückte, zweifelte im stolzen Wir-Ton nicht daran, die Lektüre desselben wird jedem vernünftigen Leser gleich beym Anfange so viel Eckel erregen, dass er sich selbiges aus der Hand zu legen genöthiget sehen wird. 1792 war das schon acht Jahre her – war es diese dahingeschluderte Besprechung, die den Titel nicht verdient und den Dichter so erboste, dass er sich noch beim Schreiben der Loge daran erinnerte?

Es ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist es, dass sein Einreden auf die zukünftigen Rezensenten und die gleichzeitige Verurteilung dieses Berufs kaum etwas anderes ist als ein literarisches Spiel – und die stille Sorge birgt, dass die durchaus neue Struktur dieses Romans bei den Vertretern der Zunft auf Unverständnis stoßen könnte. Die Besprechung des Herrn von Knigge sollte ihm tatsächlich Recht geben – er musste sich nicht wundern: so viel Herumhacken auf den Stand der berufsmäßigen Leser, die mit ihren Arbeiten doch theoretisch für die weitere Verbreitung des Werks hätten sorgen können, verträgt kaum ein Rezensent. Zur Strafe hat man die Unsichtbare Loge offensichtlich nicht öfter besprochen als die Grönländischen Prozesse: gerade zwei Besprechungen konnten ausfindig gemacht werden.

In diesem Punkt hatte der Dichter Recht: auch Rezensenten sind nur Menschen.

Foto: Frank Piontek (Oktober 2013)

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