Logen-Blog [474]: Der Siebenundvierzigste Sektor
Die Schwester schreibt:
Mein guter und gemarterter Bruder will haben, dass ich dieses Buch ausmache.
Und also wird der gesamte 47. Sektor nicht von „Jean Paul“, sondern von Philippine geschrieben, die damit die Biographie des Erzählers fortschreibt:
Gestern musst' ihm der Schulmeister an die Brust klopfen, damit er hörte, ob sie hallete, weil ein gewisser Avenbrügger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge an. Zum Unglück hallete sie wenig; und er gibt sich deshalb auf; ich will aber ohne sein Wissen an den Herrn Doktor Fenk schreiben, damit er seine Qualen stille.
Die Idee, die Schwester das Buch weiterschreiben zu lassen, ist nun weniger originell, als es der heutige Leser annehmen würde. Der Kommentar hilft bei der Zuweisung dieses Motivs: Jean Paul hat es von Theodor Gottlieb von Hippel übernommen, dem „Freund Kants und Hamanns“, ein „geistvoller Erzähler“, der „gleich zwei große Romane in Sternes Manier in den Mußestunden, die eine glänzende juristische Laufbahn ihm gönnte“, geschrieben hat: Lebensläufe in aufsteigender Linie (das Werk erschien 1778) und Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z (dieses Buch erschien erst 1793). Außerdem kam 1774 die emanzipatorische Abhandlung Über die Ehe heraus (die in jüngerer Zeit vom Jean-Paul-Biographen Günter de Bruyn herausgegeben wurde) – für die schreibende Schwester gilt, dass der Erzähler schon in den Lebensläufen (Band IV, S. 542) eine Stellvertreterin findet: dort in Person seiner Gattin, und in der Tat: die Seite 542 beginnt mit folgendem Absatz:
Ehemann also! der Mann eines Weibes, das mich liebt, und das ich wieder liebe! – Komm, liebes Weib! Tine! Mine genannt, komm! – schreib selbst! – damit meine Leser wissen, was an dir ist! – Was soll ich schreiben? Von der Zeit an, da ich ins Wasser fiel, bis diesen Augenblick –
Es lohnt sich, die Charakterisierung dieses Romans nachzulesen, die wir im Wiki-Hippel- bzw. im Hippel-Wiki-Artikel finden (denn der Blogger will nicht gebildeter erscheinen als er ist): er sei
aus den Sichtweisen vieler Subjekte, die ineinander übergehen, geschrieben. Dieser durch verschiedene Ich-Rollen gebrochene Roman, in dem satirisch bis ernsthaft über das Schreiben reflektiert wird, war sein bekanntestes und renommiertestes zeitgenössisches Werk. Es wurde in den literarischen Kreisen und deren Publikationen hoch geschätzt. Sowohl Goethe und Schiller wie auch später Jean Paul beschäftigten sich mit dieser Arbeit, die eine literarische Modewelle der Ich-Erzählungen ausgelöst hatte. Im 19. Jahrhundert gab es eine eher kritische Rezeption, und seit dem 20. Jahrhundert gilt dieses Werk, wegen der wenig überzeugenden Konstruiertheit der verschiedenen Ich-Formen, als nahezu unlesbar.
Nun ja – es gibt ja auch Menschen, die Jean Paul, Musil, Arno Schmidt, Joyce, Jahnn und den Blogger[1] für unlesbar halten...
Allein: da war doch wer. Hippel? Selbst wenn man niemals einen Roman des Satirikers in die Hand genommen hat, wird man, wenn man sich bei E. T. A. Hoffmann ein wenig auskennt, den Namen Hippels gehört haben – denn Hippel d.Ä. war ein Onkel Hippels d.J., der aus Hoffmanns ostpreußischer Biographie nicht wegzudenken ist. Ein Jugendfreund – aber dass dieser Freund einen nicht ganz unbedeutenden, nahen Verwandten hatte, der noch auf Jean Paul einen großen Einfluss hatte – so wie Jean Paul dann auf Hoffmann wirkte –, ist faszinierend. Es beweist zuletzt, wieder einmal, dass die größten Meister auf den Schultern anderer Meister stehen, die wiederum andere Meister auf ihren Schultern tragen. Es ist ein wenig wie bei der Schildkröte, die auf der Schildkröte steht, welche auf der Schildkröte steht, die wiederum... Es gibt keinen Beginn und kein Ende – es sei denn denn, wir nähmen an, dass, beispielsweise, das in jedem Sinne fabelhafte Gilgamesch-Epos am Anfang der Epik steht: eine Freundschaftsgeschichte, wie sie Jean Paul, auf seine Weise, immer wieder geschrieben hat.
Was gibt es sonst noch zu berichten, heute, am Tag des Heiligen Hippel? Wir bewegen uns ein bisschen nach Wien (weil ein gewisser Avenbrügger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge an), wo Jean Paul (im Gegensatz zum wesentlich unbedeutenderen Kommentator) niemals war.[2] Ja, Johann Leopold Auenbrugger sollte gleichfalls nicht vergessen werden, denn noch jeder von uns profitierte von der Technik des Lungenabklopfens, die der Wiener Mediziner für so wichtig hielt, dass sie sich immerhin seit dem frühen 19. Jahrhundert bei den Doctores durchzusetzen begann. Denn wessen Brustkorb wurde noch nicht perkussiert?
Ich übergebe Dir, geneigter Leser, ein neues von mir erfundenes Zeichen zur Entdeckung der Brustkrankheiten. Dasselbe besteht in einem Anschlagen an die menschliche Brust, wobei sich aus dem verschiedenen Widerhalle der dadurch hervorgebrachten Töne auf den inneren Zustand dieser Höhle schließen lässt. Weder Sucht zu schriftstellern, noch übermäßiger Spekulationstrieb, sondern einfache siebenjährige Beobachtung bestimmte mich, das in Bezug auf diesen Gegenstand Entdeckte zu regeln, zu ordnen und herauszugeben. Wohl habe ich es vorgesehen, dass ich mit der Veröffentlichung meiner Erfindung auf nichts weniger als unbedeutende Klippen stoßen werde. Denn nie hat es noch Männer, die in Wissenschaft und Kunst durch ihre Erfindungen neues Licht oder Vervollkommnung brachten, an dem Gefolge der düsteren Genossen des Neides, der Missgunst, des Hasses, der hämischen Verkleinerung, ja selbst der Verleumdung gefehlt.
Auenbrugger: Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi
(Neue Erfindung, mittels Beklopfens des menschlichen Brustkorbs Zeichen zur Erkennung verborgener Krankheiten der Brusthöhle zu gewinnen). Wien, 1761.
Was bleibt? Drei schwesterliche letzte Zeilen, die den Sektor auf konzise Weise beenden:
Ich soll noch berichten, dass der junge Herr von Falkenberg krank in Oberscheerau bei seinen Eltern ist und dass meine Freundin Beata auch kränklich bei den ihrigen ist.... Es ist für uns alle ein finstrer Winter. Der Frühling heile jedes Herz und gebe mir und den Lesern dieses Buchs meinen lieben Bruder wieder!
[1] Die geschätzte Leserin möge und sollte die Einrückung des anonymisierten Autors dieser Aufzählung für einen Scherz in jeanpaulscher Manier halten.
[2] Irgendetwas muss man den großen Köpfen ja voraus haben – und sei es der Konsum von Wiener Schnitzeln und Wiener Mokkas in der Donaumetropole.
Logen-Blog [474]: Der Siebenundvierzigste Sektor>
Die Schwester schreibt:
Mein guter und gemarterter Bruder will haben, dass ich dieses Buch ausmache.
Und also wird der gesamte 47. Sektor nicht von „Jean Paul“, sondern von Philippine geschrieben, die damit die Biographie des Erzählers fortschreibt:
Gestern musst' ihm der Schulmeister an die Brust klopfen, damit er hörte, ob sie hallete, weil ein gewisser Avenbrügger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge an. Zum Unglück hallete sie wenig; und er gibt sich deshalb auf; ich will aber ohne sein Wissen an den Herrn Doktor Fenk schreiben, damit er seine Qualen stille.
Die Idee, die Schwester das Buch weiterschreiben zu lassen, ist nun weniger originell, als es der heutige Leser annehmen würde. Der Kommentar hilft bei der Zuweisung dieses Motivs: Jean Paul hat es von Theodor Gottlieb von Hippel übernommen, dem „Freund Kants und Hamanns“, ein „geistvoller Erzähler“, der „gleich zwei große Romane in Sternes Manier in den Mußestunden, die eine glänzende juristische Laufbahn ihm gönnte“, geschrieben hat: Lebensläufe in aufsteigender Linie (das Werk erschien 1778) und Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z (dieses Buch erschien erst 1793). Außerdem kam 1774 die emanzipatorische Abhandlung Über die Ehe heraus (die in jüngerer Zeit vom Jean-Paul-Biographen Günter de Bruyn herausgegeben wurde) – für die schreibende Schwester gilt, dass der Erzähler schon in den Lebensläufen (Band IV, S. 542) eine Stellvertreterin findet: dort in Person seiner Gattin, und in der Tat: die Seite 542 beginnt mit folgendem Absatz:
Ehemann also! der Mann eines Weibes, das mich liebt, und das ich wieder liebe! – Komm, liebes Weib! Tine! Mine genannt, komm! – schreib selbst! – damit meine Leser wissen, was an dir ist! – Was soll ich schreiben? Von der Zeit an, da ich ins Wasser fiel, bis diesen Augenblick –
Es lohnt sich, die Charakterisierung dieses Romans nachzulesen, die wir im Wiki-Hippel- bzw. im Hippel-Wiki-Artikel finden (denn der Blogger will nicht gebildeter erscheinen als er ist): er sei
aus den Sichtweisen vieler Subjekte, die ineinander übergehen, geschrieben. Dieser durch verschiedene Ich-Rollen gebrochene Roman, in dem satirisch bis ernsthaft über das Schreiben reflektiert wird, war sein bekanntestes und renommiertestes zeitgenössisches Werk. Es wurde in den literarischen Kreisen und deren Publikationen hoch geschätzt. Sowohl Goethe und Schiller wie auch später Jean Paul beschäftigten sich mit dieser Arbeit, die eine literarische Modewelle der Ich-Erzählungen ausgelöst hatte. Im 19. Jahrhundert gab es eine eher kritische Rezeption, und seit dem 20. Jahrhundert gilt dieses Werk, wegen der wenig überzeugenden Konstruiertheit der verschiedenen Ich-Formen, als nahezu unlesbar.
Nun ja – es gibt ja auch Menschen, die Jean Paul, Musil, Arno Schmidt, Joyce, Jahnn und den Blogger[1] für unlesbar halten...
Allein: da war doch wer. Hippel? Selbst wenn man niemals einen Roman des Satirikers in die Hand genommen hat, wird man, wenn man sich bei E. T. A. Hoffmann ein wenig auskennt, den Namen Hippels gehört haben – denn Hippel d.Ä. war ein Onkel Hippels d.J., der aus Hoffmanns ostpreußischer Biographie nicht wegzudenken ist. Ein Jugendfreund – aber dass dieser Freund einen nicht ganz unbedeutenden, nahen Verwandten hatte, der noch auf Jean Paul einen großen Einfluss hatte – so wie Jean Paul dann auf Hoffmann wirkte –, ist faszinierend. Es beweist zuletzt, wieder einmal, dass die größten Meister auf den Schultern anderer Meister stehen, die wiederum andere Meister auf ihren Schultern tragen. Es ist ein wenig wie bei der Schildkröte, die auf der Schildkröte steht, welche auf der Schildkröte steht, die wiederum... Es gibt keinen Beginn und kein Ende – es sei denn denn, wir nähmen an, dass, beispielsweise, das in jedem Sinne fabelhafte Gilgamesch-Epos am Anfang der Epik steht: eine Freundschaftsgeschichte, wie sie Jean Paul, auf seine Weise, immer wieder geschrieben hat.
Was gibt es sonst noch zu berichten, heute, am Tag des Heiligen Hippel? Wir bewegen uns ein bisschen nach Wien (weil ein gewisser Avenbrügger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge an), wo Jean Paul (im Gegensatz zum wesentlich unbedeutenderen Kommentator) niemals war.[2] Ja, Johann Leopold Auenbrugger sollte gleichfalls nicht vergessen werden, denn noch jeder von uns profitierte von der Technik des Lungenabklopfens, die der Wiener Mediziner für so wichtig hielt, dass sie sich immerhin seit dem frühen 19. Jahrhundert bei den Doctores durchzusetzen begann. Denn wessen Brustkorb wurde noch nicht perkussiert?
Ich übergebe Dir, geneigter Leser, ein neues von mir erfundenes Zeichen zur Entdeckung der Brustkrankheiten. Dasselbe besteht in einem Anschlagen an die menschliche Brust, wobei sich aus dem verschiedenen Widerhalle der dadurch hervorgebrachten Töne auf den inneren Zustand dieser Höhle schließen lässt. Weder Sucht zu schriftstellern, noch übermäßiger Spekulationstrieb, sondern einfache siebenjährige Beobachtung bestimmte mich, das in Bezug auf diesen Gegenstand Entdeckte zu regeln, zu ordnen und herauszugeben. Wohl habe ich es vorgesehen, dass ich mit der Veröffentlichung meiner Erfindung auf nichts weniger als unbedeutende Klippen stoßen werde. Denn nie hat es noch Männer, die in Wissenschaft und Kunst durch ihre Erfindungen neues Licht oder Vervollkommnung brachten, an dem Gefolge der düsteren Genossen des Neides, der Missgunst, des Hasses, der hämischen Verkleinerung, ja selbst der Verleumdung gefehlt.
Auenbrugger: Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi
(Neue Erfindung, mittels Beklopfens des menschlichen Brustkorbs Zeichen zur Erkennung verborgener Krankheiten der Brusthöhle zu gewinnen). Wien, 1761.
Was bleibt? Drei schwesterliche letzte Zeilen, die den Sektor auf konzise Weise beenden:
Ich soll noch berichten, dass der junge Herr von Falkenberg krank in Oberscheerau bei seinen Eltern ist und dass meine Freundin Beata auch kränklich bei den ihrigen ist.... Es ist für uns alle ein finstrer Winter. Der Frühling heile jedes Herz und gebe mir und den Lesern dieses Buchs meinen lieben Bruder wieder!
[1] Die geschätzte Leserin möge und sollte die Einrückung des anonymisierten Autors dieser Aufzählung für einen Scherz in jeanpaulscher Manier halten.
[2] Irgendetwas muss man den großen Köpfen ja voraus haben – und sei es der Konsum von Wiener Schnitzeln und Wiener Mokkas in der Donaumetropole.