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28.07.2014, 10:48 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [450]: ... in Goldkronach. Oder: Auf den Gipfeln des Geistes. Jean Paul trifft Humboldt

1. Szene: Kirche

Eine Cellistin probt im Chor der Kirche.

Der Engel tritt auf.

Engel: Weit davon entfernt, Ihnen, Exzellenz, jemals in den Hochgebirgen des amerikanischen Kontinents oder in den Steppen Asiens begegnet zu sein, ja nicht einmal in den fränkischen Forsten – weit davon entfernt, jemals mit Ihnen, lieber Herr Humboldt, ein kluges Wort gewechselt zu haben, sitze ich, Jean Paul, hier in meinem Arbeitsstuhl und zermartere mir das Hirn, wie ich zu Euch sprechen könnte. Ich weiß ja nicht einmal, ob dieser Brief Euch jemals erreichen wird. Wo schweift Ihr umher? Wo in den Galaxien des Kosmos könnte ich Euch antreffen, auf welchem Stern Euch grüßen, in welchen Sonnensystemen meinen Hut vor Ihnen lüften?

Engel: Tee gibt's hier leider nicht – aber etwas Bedeutenderes – nein: einen Bedeutenden.

Jean Paul: Oho.

Humboldt: Ob Sie's glauben oder nicht: wenn ich einen Stein in der Hand hielt und seine präzise Struktur in Worte brachte, spürte ich etwas von diesem Unsagbaren der Natur.

Jean Paul: Gottes Schöpfung. All das, wohin wir zielen, was wir endlich einmal ganz bewusst und unbewusst zugleich genießen werden – manchmal, so denke ich, befinde ich mich gerade dort, in diesem sausenden wie ruhigen Zentrum von Sternenmyriaden und Sonnensystemen und Planetenkolonien, die alle nur bewegt werden von einem: vom göttlichen Willen.

2. Szene: Im Gasthaus

Humboldt: Worin unterscheiden wir uns eigentlich, lieber Jean?

Jean Paul: Sie hatten nie eine Rollwenzelin, die Ihnen das Bier und die Kartoffeln auf den Tisch stellte.

Humboldt: Die schönsten Abendessen hatten wir dort drüben, an den grünen Ufern. Das Feuer knisterte, das Affenfleisch schmeckte köstlich, die Indianer sangen ihre seltsamen Lieder...

Jean Paul: Wir hätten was gegeben für eine Portion Affenfleisch... aber es war gut, wie es gut war, bei uns in Joditz (er zwinkert). Zumindest habe ich das später behauptet – und ich glaube immer noch, dass es stimmt! Ich glaube es – darauf kommt es an.

3. Szene: Auf der Schlossterrasse

Humboldt: So, da sind wir. Feudale Welt, Sie kennen das ja auch ein bisschen. Haben Sie nicht unserer preußischen Königin und ihren bezaubernden Schwestern die Hände geküsst?

Jean Paul: Ich habe ihnen sogar einen Roman gewidmet – meinen besten. Den Titan.

Humboldt: Die peruanische Schokolade und die mexikanischen Brotfladen waren wesentlich köstlicher. Wenn ich die Augen schließe, rieche ich diesen Duft...

Jean Paul: Ja, es geht nichts über einen guten, einfachen Kloß... Sie haben Recht: ich bin nicht in diesen prachtvollen Verhältnissen aufgewachsen – aber wenn ich mich recht erinnere, waren wir doch alle glücklich.

Humboldt: Und unglücklich genug, um die Wissbegier niemals zu verlieren. Wieso hätten Sie sonst wie ein wildgewordener Olympionike eine Bibliothek zusammengeschrieben?

Jean Paul: Und wieso hätten Sie sich freiwillig von Moskitos plagen lassen? Wenn Sie es nicht gewollt hätten?

4. Szene: Bergbaumuseum oder Auf dem Chimborazzo

Humboldt: Kommen Sie! Ich glaube, wir schaffen heute den Gipfel! Die Luft ist frisch und klar, der Tritt ist fest – na, und erst die Aussicht! Prachtvoll!

Humboldt: Wissen Sie, wofür ich all meine Reisebücher geben würde?

Jean Paul: Ich ahne es.

Humboldt: Keine Zahl ist so wichtig wie das Glück des Menschen.

Jean Paul: Keine Tabelle so befriedigend wie die Freiheit der Kreatur.

Humboldt: Kein Buch so schön wie das Sprengen der Ketten.

Jean Paul: Kein Stein so faszinierend wie das Lächeln eines geliebten Menschen.

Fotos und Texte: Frank Piontek, Goldkronach 27.7. 2014

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