Logen-Blog [412]: Der Genosse des Luftschiffers
Wo waren wir nochmal stehengeblieben?
Ach ja, bei der Liebe, das heißt: bei der Chemie – denn wissen wir inzwischen, als „aufgeklärte“ Menschen, nicht, dass die sog. Liebe nichts Anderes ist als ein chemischer Prozess?
„Jean Paul“ würde dies freilich nie für Gustav und Beata behaupten, deren Liebe rein und idealistisch, also nicht tierisch oder animalisch unbewusst ist. Er vergleicht nur, nachdem sich unsere beiden Helden die „Liebeerklärung“ gaben[1], die Ehen der „Großen“, die Liebe der Höflinge also, mit chemischen Prozessen – hier würde eine „entsetzliche Kälte“ herrschen: so findet man die nämliche Merkwürdigkeit und Kälte bloß bei der Vereinigung des mineralischen Laugensalzes und der Salpetersäure, und Herr de Morveau sagt aus Einfalt, es fall' auf.
Morveau? Wieder gerät ein interessanter Mann in unseren Blick, den wir nicht kennen gelernt hätten, wenn wir den Roman nicht gelesen – oder keine Geschichte der Chemie studiert hätten. In Kürze: Louis Bernard Guyton de Morveau, ein Mann des Jahres 1737, geboren in Dijon, war ein gelernter Jurist, bevor er sich auf die Dame Naturwissenschaft warf. Bedeutend blieb er, weil er eines der ersten chemischen Benennungssysteme entwickelte; auch war er, zunächst als Chef eines Chemischen Laboratoriums in seiner Heimatstadt, erfolgreich in der praktischen und technischen Chemie (Stichworte: Kohlenstoffchemie, Salpeter, Gusseisen) tätig. Ein paar Jahre nach der Revolution wurde er Direktor der von ihm mitbegründeten École Polytechnique. Apropos Revolution: als Abgeordneter des Départments Côte-d'Or saß er in der Nationalversammlung, wo er seine Hand hob, als es darum ging, den König aufs Schafott zu führen.
Jean Paul kannte nun auch auch Morveaus chemische Forschungen. Hatte er sie im Original gelesen? Studierte der junge Jean Paul also die Digressions académique ou essays sur quelques sujets de Physique de Chymie & d'Histoire Naturelle von 1762, die Elemens de chymie von 1777/78 und die Observation de la crystallisation de fer von1780? Oder wurde ihm das durch deutsche Übersetzungen vermittelt?
Für den Dichter aber war eine andere Eigenschaft Morveaus vielleicht noch interessanter: die angewandte Luftschifferei. Morveau gehörte nämlich zu den ersten, die einen „Segel-Ballon“ bestiegen. Am 25. April 1784 war es soweit: da startete er, in einem von ihm selbst entwickelten Gefährt mit einem Gasballon, zusammen mit Monsieur Claude Bertrand in Dijon in die Lüfte. Zehn Jahre später wurde, man wundert sich nicht, die revolutionäre Erfindung militärisch verwertet, und Morveau gehörte zu einer compagnie d’aérostiers der Revolutionsarmee. „Er selbst“, lese ich, „fuhr in einen Ballon während der Schlacht von Fleurus am 26. Juni 1794 und unterstützt in mehreren anderen Schlachten“.
Interessant, wen man alles kennenlernt, wenn man einen Namen nachschlägt, den, nebenbei, der Kommentar der Textausgabe nicht erläutert: einen revolutionären Chemiker – und einen Genossen des Luftschiffers Giannozzo.
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[1] Wobei der Dichter sehr schön den Gefühlszustand beschreibt, der nach solchen Erklärungen zu folgen pflegt: Diese sanfte fortvibrierende Freude war ein zweites Herz, das ihre Adern füllte, ihre Nerven beseelte und ihre Wangen übermalte.
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Wo waren wir nochmal stehengeblieben?
Ach ja, bei der Liebe, das heißt: bei der Chemie – denn wissen wir inzwischen, als „aufgeklärte“ Menschen, nicht, dass die sog. Liebe nichts Anderes ist als ein chemischer Prozess?
„Jean Paul“ würde dies freilich nie für Gustav und Beata behaupten, deren Liebe rein und idealistisch, also nicht tierisch oder animalisch unbewusst ist. Er vergleicht nur, nachdem sich unsere beiden Helden die „Liebeerklärung“ gaben[1], die Ehen der „Großen“, die Liebe der Höflinge also, mit chemischen Prozessen – hier würde eine „entsetzliche Kälte“ herrschen: so findet man die nämliche Merkwürdigkeit und Kälte bloß bei der Vereinigung des mineralischen Laugensalzes und der Salpetersäure, und Herr de Morveau sagt aus Einfalt, es fall' auf.
Morveau? Wieder gerät ein interessanter Mann in unseren Blick, den wir nicht kennen gelernt hätten, wenn wir den Roman nicht gelesen – oder keine Geschichte der Chemie studiert hätten. In Kürze: Louis Bernard Guyton de Morveau, ein Mann des Jahres 1737, geboren in Dijon, war ein gelernter Jurist, bevor er sich auf die Dame Naturwissenschaft warf. Bedeutend blieb er, weil er eines der ersten chemischen Benennungssysteme entwickelte; auch war er, zunächst als Chef eines Chemischen Laboratoriums in seiner Heimatstadt, erfolgreich in der praktischen und technischen Chemie (Stichworte: Kohlenstoffchemie, Salpeter, Gusseisen) tätig. Ein paar Jahre nach der Revolution wurde er Direktor der von ihm mitbegründeten École Polytechnique. Apropos Revolution: als Abgeordneter des Départments Côte-d'Or saß er in der Nationalversammlung, wo er seine Hand hob, als es darum ging, den König aufs Schafott zu führen.
Jean Paul kannte nun auch auch Morveaus chemische Forschungen. Hatte er sie im Original gelesen? Studierte der junge Jean Paul also die Digressions académique ou essays sur quelques sujets de Physique de Chymie & d'Histoire Naturelle von 1762, die Elemens de chymie von 1777/78 und die Observation de la crystallisation de fer von1780? Oder wurde ihm das durch deutsche Übersetzungen vermittelt?
Für den Dichter aber war eine andere Eigenschaft Morveaus vielleicht noch interessanter: die angewandte Luftschifferei. Morveau gehörte nämlich zu den ersten, die einen „Segel-Ballon“ bestiegen. Am 25. April 1784 war es soweit: da startete er, in einem von ihm selbst entwickelten Gefährt mit einem Gasballon, zusammen mit Monsieur Claude Bertrand in Dijon in die Lüfte. Zehn Jahre später wurde, man wundert sich nicht, die revolutionäre Erfindung militärisch verwertet, und Morveau gehörte zu einer compagnie d’aérostiers der Revolutionsarmee. „Er selbst“, lese ich, „fuhr in einen Ballon während der Schlacht von Fleurus am 26. Juni 1794 und unterstützt in mehreren anderen Schlachten“.
Interessant, wen man alles kennenlernt, wenn man einen Namen nachschlägt, den, nebenbei, der Kommentar der Textausgabe nicht erläutert: einen revolutionären Chemiker – und einen Genossen des Luftschiffers Giannozzo.
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[1] Wobei der Dichter sehr schön den Gefühlszustand beschreibt, der nach solchen Erklärungen zu folgen pflegt: Diese sanfte fortvibrierende Freude war ein zweites Herz, das ihre Adern füllte, ihre Nerven beseelte und ihre Wangen übermalte.