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13.02.2014, 17:23 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [348]: Ein Vortragsfragment und andere Anmerkungen über das Requiem

Einstimmig klingt es in den halligen Raum. Einstimmige Gregorianik – doch nicht einsinnig. Die Kraft des scheinbar monotonen Mönchsgesangs, der seit dem frühen Mittelalter durch die Kirchen und Kapellen, über die Friedhöfe und schließlich durch die Konzertsäle klang, hat sich als eine jener Potenzen der geistlichen Geschichte erwiesen, die zugleich Musikgeschichte ist. Wir begegnen den Totenmessen daher nicht nur im klerikalen Raum, wir sind längst daran gewöhnt, dass ein Requiem auch als Symphonie oder in der Oper an unser Ohr zu dringen vermag. Seltsam: je düsterer es hier zugeht, desto beliebter war und ist diese sehr spezielle Gattung, die zwischen tiefem Schwarz, höllischem Rot und leuchtendem Gold changiert. Ist es deshalb eine widersprüchliche Gattung? Die Antwort muss so mehrdeutig sein wie die Gattung selbst, in der es das Requiem, genau betrachtet, vielleicht nie gegeben hat: ja und nein – aber beginnen wir zunächst rein historisch. Wie hat alles angefangen mit jener Trauermesse, die den Schluss und das, was danach kommt oder kommen möge, zu besingen versucht?

Die Missa pro Defunctis – die alternative, liturgisch korrekte Bezeichnung ist wichtig, denn sie verweist darauf, dass wir es hier mit einer Messe zu tun haben – die Missa pro Defunctis ist eine sehr alte Messe. Natürlich hat man nicht erst im Mittelalter singend der Toten gedacht, wofür es verschiedene Stationen gab. Nur nebenbei: wer eine Messe, ja jede geistliche Musik zu betrachten hat, muss sich zunächst ganz wörtlich den Ort bewusst machen, an dem sie stattfindet. Für den Dienst an einem Verstorbenen kommen gleich drei dieser Orte ins Blickfeld: der Weg vom Sterbehaus zur Kirche (hier können Psalmen gesungen werden), die Kirche selbst (hier findet das Totenofficium, also das Totenamt, und die Totenmesse – unser Requiem – statt) und der Weg zum Friedhof (auf dem der Satz In paradisum erklingen könnte). Die Geschichte des Requiem beginnt im 5. Jahrhundert, geht aber noch weiter zurück, denn der zugrunde liegende Text des Introitus Requiem aeternam entstand bereits im ersten Jahrhundert. Er stammt aus dem vierten Buch Esra, das heute zu den Apokryphen zählt, denn im 5. Jahrhundert, in der Amtszeit des 496 gestorbenen Bischof Gelasius, wurde ihm sein kanonischer Charakter aberkannt.

Selbstverständlich hatte es schon vorher christliche Begräbnisrituale gegeben: freilich ohne feste, jedenfalls überlieferte Ordnungen. Etwa 170 n. Chr. ist bereits ein eucharistisches Gedächtnismahl am Grab von verstorbenen Christen bezeugt, ohne dass uns Texte überliefert sind. Der Kirchenvater Hieronymus hat im 4. Jahrhundert das Singen von Psalmen und Hymnen an der Leiche des Verstorbenen schon als „christliche Tradition“ beschrieben, womit man sich in Gegensatz zum jüdischen Glauben befand, in dem die Totenklage an etwas Verlorenes anknüpft – nicht aber an den Glauben, dass mit dem Sterbetag das ewige Leben beginnt. Ein Totengedenken wird auch in normalen Gottesdiensten angebracht, etwa an Gedenktagen der Verstorbenen, die auf verschiedene Tage nach dem Versterben fallen: auf den 3., 7., 9., 30. oder 40. Tag. Diese Messen wurden, als Votivmessen, für den Verstorbenen gesungen – und diese Akte sind kaum für das Bewusstsein dessen, was der Lebende für die Toten tun könne, zu unterschätzen. Eine gegebene, ja dem lesenden Priester honorierte Messe ist jenes Mittel, das dem Verstorbenen sein jenseitiges Leben erleichtern soll. Das Requiem hat also nicht nur einen Ort, an dem es gelesen wird, es hat auch einen jeweils sehr spezifischen Anlass, der es erklärbar macht, dass die Auftragslage eines Requiems genau betrachtet werden sollte, wenn es darum geht, den Sinn der Totenmesse zu ergründen. Natürlich ist der Anlass immer gleich; die Bitte für das Seelenheil eines Toten, das ironischerweise durch das eigene beruhigte Gewissen, also die eigene Sorge für das Seelenheil garantiert werden soll. Insofern sind Bürger und Kaiser gleich – aber es macht einen Unterschied, ob wir es mit einer eher bäuerlich geprägten oder imperialen Umgebung zu tun haben. Die Musik klingt buchstäblich anders, sie hat eine eigene Bedeutung, wenn sie prachtvoll instrumentiert oder eher bescheiden daherkommt; das Requiem hat einen anderen Gehalt, wenn es wie eine Oper oder ein Psalm endet. Halten wir fest: eine Totenmesse ist etwas, das bestellt werden muss.

Die spezifische Form des Totenamts hat sich im Lauf der liturgischen Geschichte aus der normalen Messe herausentwickelt. Daher erklärt sich die banale Tatsache, dass einige der normalen Messsätze in einem Requiem vorhanden, andere nicht, wieder andere in modifizierter Form vorhanden sind. Erste Totenmessen werden normalen Messen stark geähnelt haben; erst ab dem 10. Jahrhundert lassen sich Texte der Liturgia Defunctorum nachweisen – und heute wieder hören. Wir haben es im Mittelalter mit einer Vielfalt von Überlieferungen zu tun, aus denen sich erst im 16. Jahrhundert die bis ins 20. Jahrhundert gebräuchliche Ordnung herauskristallisierte. Bis zu 30 verschiedene Formulare werden durch die mittelalterlichen Missalia überliefert: für Männer, Frauen und Kinder, für Geistliche und Nichtgeistliche, für Bischöfe, Könige, für Orden- und Mitbruderschaftsangehörige, für mehrere Tote. Kommt hinzu, dass die Liturgie beispielsweise eines fürstlichen Hofes nicht zwingend der Diözese folgen muss, in dem sich der Hof befindet. Im Großen lassen sich drei Räume definieren, die über je eigene Texttraditionen verfügten: Spanien – Niederlande, Burgund, Frankreich, England – das Deutsche Reich, Polen und Ungarn. Kommt weiter hinzu, dass die Melodien der einzelnen Requiemsmessen ebenfalls von Ort zu Ort wechselten – wie man sieht, ist die Vielfalt von Text und Musik schon in den frühen überlieferten Requien enorm.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, aus welchen Teilen bis vor kurzem ein Requiem bestand:

Introitus: Requiem aeternam dona eis, Domine
Kyrie
Graduale: Requiem aeternam dona eis, Domine
Tractus: Absolve domine
Sequenz: Dies irae, dies illa
Offertorium: Domine Jesu Christe
Sanctus
Benedictus
Agnus Dei
Communio: Lux aeterna

Besonders die Texte zum Graduale, Tractus und zur Communio wurden im Verlauf der Textgeschichte größeren Änderungen unterworfen. Die Sequenz Dies irae, die zu eindrücklichen Vertonungen fand, ist interessanterweise in den Formularen der Zeit vor 1570 kaum überliefert; erst danach wird sie im Rahmen der Meßformulare genannt...[1]

„Jean Paul“ schickt dem verstorbenen Amandus ein Requiem hinterher, das depressiver nicht sein könnte und allem Hohn spricht, was mit Jean Pauls positiver Weltsicht zu tun haben könnte. Dies lesend begreift man, dass seine Jenseitszuversicht auf einem finsteren Totenacker wurzelt, ja: dass sie mit einer tiefen Lebensfeindlichkeit verbunden ist, der etwas schwer Erträgliches, zutiefst Calvinistisches anhaftet. Hängt es mit seiner Erziehung im dörflichen Pfarrhaus zusammen? Oder vergessen wir nur, dass diese Sicht auf das Leben, die eine Sicht auf den Tod ist – und nicht zurückgenommen werden kann[2] –, ein Durchgangsstadium ist?

Verschwundner Amandus! in dem großen breiten Heer, welches das Leben dem feindlichen Tod von Jahrhundert zu Jahrhundert entgegenschickt, gingest du wenige Schritte mit, er verwundete dich oft und bald; deine Kriegkameraden legten Erde auf deine großen Wunden und auf dein Angesicht – sie kämpfen fort, sie werden dich von Jahr zu Jahr unter ihrem Kriege mehr vergessen – in ihre Augen werden Tränen kommen, aber um dich keine mehr, sondern um Tote, die erst begraben werden – und wenn deine Lilien-Mumie sich auseinander gebröckelt hat, so denkt man nicht mehr an dich; bloß der Traum lieset noch deine in den Erdball gemengte Pastell-Gestalt zusammen und schmücket mit ihr im graugewordnen Kopfe deines Gustavs seine hinter dem Leben ruhenden Jugend-Auen, die wie der Venusstern am Himmel des Leben-Morgens der Morgenstern und am Himmel des Leben-Abends der Abendstern sind und flimmern und zittern und die Sonne ersetzen.... Ich mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum Leichnam, sagen: Amandus! liege sanft. Du lagst in ihr nicht sanft; o noch jetzo dauert mich dein unsterbliches Ich, dass es mehr in seinem knappen Nervengebäude als im weiten Weltgebäude leben musste, dass es den edeln Blick nicht zu Sonnenkugeln aufheben, sondern auf seine quälenden Blutkügelchen einkrümmen und für die große Harmonie des Makrokosmus seltner Wallungen fühlen als für die Mißlaute seines Mikrokosmus! – Die Kette der Notwendigkeit schnitt tief in dich ein, nicht bloß ihr Zug, auch ihr Druck führte dich Narben zu.... So jämmerlich ist der Lebendige! Wie können von ihm die Toten ein Andenken verlangen, da er schon, indem er darüber redet, ermattet....

Unwillkürlich erinnere ich mich an die Stelle im Wutz, in der der Erzähler angesichts des toten Wutz unser aller Nichts spürt und schwört, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen. Das klingt wunderbar, aber das Leben als unbedeutend zu „erkennen“: ist das nicht ein Problem? Und ist es nicht seltsam, dass Jean Paul diese so schön klingenden, immer wieder bewegenden Verse geschrieben hat, bevor er Amandus' jämmerliches Sterben und die Sinnlosigkeit des Lebens ausmalte?

Vermutlich hat Jean Paul begriffen, dass es schlicht einseitig anmutet, nur einen Tod und einen Sinn zu beschreiben. Einstimmig klingt es in den Raum – doch nicht einsinnig.

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[1] Hier endet der Fragment gebliebene Aufsatz, den Dr. Piontek einst schrieb.

[2] Was einmal geschrieben wurde, kann nicht zurückgenommen werden, spricht der Doktor Faustus. Oder war es Serenus Zeitblom?

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