Logen-Blog [312]: Was der Aberglaube sehen will
Die vergangne Nacht führt noch meine Feder. Es ist nämlich in Auenthal wie an vielen Orten Sitte, daß in der letzten feierlichen Nacht des Jahrs auf dem Turm aus Waldhörnern gleichsam ein Nachhall der verklungnen Tage oder eine Leichenmusik des umgesunknen Jahrs ertönt. Als ich meinen guten Wutz nebst einigen Gehülfen in der untern Stube einiges Geräusch und einige Probe-Töne machen hörte, stand ich auf und ging mit meiner längst wachen Schwester ans enge Fenster. In der stillen Nacht hörte man den Hinauftritt der Leute auf den Turm. Über unser Fenster lag jener Balken, unter dem man in prophetischen Nächten hinaushorchen muß, um die Wolkengestalten der Zukunft zu sehen und zu hören. Und wahrhaftig, ich sah im eigentlichen Sinn, was der Aberglaube sehen will – ich sah wie er Särge auf Dächern und Leichengefolge an der einen Türe und Hochzeitgäste und Brautkranz an der andern, und das Menschen-Jahr zog durch das Dorf und hielt an seiner rechten Mutterbrust die kleinen Freuden, die mit dem Menschen spielen, und an seiner linken die Schmerzen, die ihn anbellen; es wollte beide nähren, aber sie fielen sterbend ab, und sooft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte, so oft schlug einer von den zwei Klöppeln zum Zeichen an die Turmglocken an .... Ich sah nach dem weißen Wald hinüber, hinter welchem die Wohnungen meiner Freunde liegen. O junges Jahr, sagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und nimm die zurückgebliebnen zähen Schmerzen des alten mit, die nicht sterben wollen! Geh in alle vier Weltstraßen und verteile die Säuglinge deiner rechten Brust und mir lasse nur einen – die Gesundheit!
Foto: Frank Piontek, 31.12 2013
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Die vergangne Nacht führt noch meine Feder. Es ist nämlich in Auenthal wie an vielen Orten Sitte, daß in der letzten feierlichen Nacht des Jahrs auf dem Turm aus Waldhörnern gleichsam ein Nachhall der verklungnen Tage oder eine Leichenmusik des umgesunknen Jahrs ertönt. Als ich meinen guten Wutz nebst einigen Gehülfen in der untern Stube einiges Geräusch und einige Probe-Töne machen hörte, stand ich auf und ging mit meiner längst wachen Schwester ans enge Fenster. In der stillen Nacht hörte man den Hinauftritt der Leute auf den Turm. Über unser Fenster lag jener Balken, unter dem man in prophetischen Nächten hinaushorchen muß, um die Wolkengestalten der Zukunft zu sehen und zu hören. Und wahrhaftig, ich sah im eigentlichen Sinn, was der Aberglaube sehen will – ich sah wie er Särge auf Dächern und Leichengefolge an der einen Türe und Hochzeitgäste und Brautkranz an der andern, und das Menschen-Jahr zog durch das Dorf und hielt an seiner rechten Mutterbrust die kleinen Freuden, die mit dem Menschen spielen, und an seiner linken die Schmerzen, die ihn anbellen; es wollte beide nähren, aber sie fielen sterbend ab, und sooft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte, so oft schlug einer von den zwei Klöppeln zum Zeichen an die Turmglocken an .... Ich sah nach dem weißen Wald hinüber, hinter welchem die Wohnungen meiner Freunde liegen. O junges Jahr, sagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und nimm die zurückgebliebnen zähen Schmerzen des alten mit, die nicht sterben wollen! Geh in alle vier Weltstraßen und verteile die Säuglinge deiner rechten Brust und mir lasse nur einen – die Gesundheit!
Foto: Frank Piontek, 31.12 2013