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11.11.2013, 14:32 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [277]: Der Blogger entdeckt die Bouse in Kassel

Die Residentin, sagt Jean Paul, sei eine Défaillante. Der Kommentar verlässt uns auch hier, das ist stark. Eine Défaillante aber ist eine „Schwache“, also eine Frau, die sich auf Ohnmachten versteht. Das ist stark. Bevor er aber den casus der Ohnmacht näher erläutert, macht er zunächst einen rhetorischen Schlenker:

Die Eitelkeit, die ihn [Oefel] wie eine eingeschränkte Monarchin beherrschte, regierte wie eine uneingeschränkte über sie – sie hatte und machte italienische Verse, Epigrammen und alle schöne Künste – und es ist stadtkundig, dass sie, weil sie aufgehört hatte, zur schönen Natur zu gehören, sich unter die Werke der schönen Künste warf und sich aus einem Modell durch Schminke in ein Gemälde veredelte, durch Pantomime in eine Aktrice, durch Ohnmachten in eine Statue.

Was für ein Zufall: als ich letzte Woche in Kassel war, fiel mir unversehens dieses Bild in die Hände:

Ich dachte sofort: dies ist die Residentin. So muss die Frau von Bouse aussehen, so stelle ich sie mir vor.

Das Bild wurde denn auch im unmittelbaren zeitlichen Umkreis der Unsichtbaren Loge gemalt. Geschaffen hat es Wilhelm Böttner, der seit 1784 als Hofmaler Landgraf Wilhelms IX. von Hessen-Kassel amtierte. 1789 wurde er, nach dem Tode des großen Johann Heinrich Tischbein d.Ä. (nicht des „Goethe-Tischbeins“), zum ersten Hofmaler ernannt. Der Mann war nicht gut, sondern sehr gut; seine Porträts zählen zu den großen Beispielen der Porträtmalerei seiner Zeit, die bis tief ins 19. Jahrhundert wirkte. Als Hofmaler hatte er nun auch die Aufgabe, nicht nur den Herrscher, auch die Mätressen desselben zu malen: die Frau von Bouses Hessen-Kassels. „Die Mätresse“, lese ich in einer guten Broschüre über Böttner, die 2001 anlässlich einer Ausstellung in der Neuen Galerie der Staatlichen Museen Kassel herausgegeben wurde, „die Mätresse war ein durch den französischen Hof eingeführtes Herrschaftsmittel des Regenten und nicht zuletzt ein Statussymbol, das den Glanz des Hofes unterstrich. Sie wurde öffentlich in ihr Amt eingeführt und der landgräflichen Familie und dem Hof als zweite Frau an der Seite des Herrschers präsentiert.“

In diesem Fall handelt es sich um

Caroline Juliane Albertine von Schlotheim, die spätere Gräfin von Hessenstein

Die Dame kam aus Kassel, wurde 1788 zur Mätresse ernannt und sogleich gemalt: deutlich versehen mit dem Signum des Herrschers, dem sie ihren Aufstieg verdankte – eine Gefangene der landgräflichen Gunst. Davon zeugen auch die 13 Kinder, die sie ihm gebären sollte. In Karl Eduard Vehses Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation (4. Abteilung, Fünfter Teil, erschienen in Hamburg im Jahre 1853) können wir ihre Geschichte nachlesen: Demnach wurde sie vom Kurfürsten gegen ihren Willen entführt, floh, wurde von ihren Eltern dem Kurfürsten zurückgegeben und fügte sich später in die Beziehung. Sie gehörte zu jenen Mätressen, die nicht nur nette Bettgespielinnen waren, sondern auch erheblichen, auch politischen Einfluss auf Wilhelm und die Entwicklung des Landes besaß. Für sie, aber auch für sich selbst und seine Ritterspiele, ließ er die Löwenburg im Bergpark der Wilhelmshöhe erbauen – dazu kommt der Blogger ein wenig später.

Vehse hatte es enthüllungsmäßig drauf: 1856 wurde er wegen Verleumdung Herzog Wilhelms zu Mecklenburg, den er in seinem Werk als Prinz Schnaps verewigt hatte, zu 6 Monaten Haft verurteilt. Er wurde noch zu Lebzeiten Jean Pauls geboren (nämlich 1802 in der sächsischen Bergstadt Freiberg). Der Mann war Demokrat und ging für seine Überzeugung ins Exil – schon deswegen sollte man sich an ihn erinnern. Seine Werke können heute noch in Neudrucken erstanden werden …

Hat sich die Schlotheim, die auf Böttners Meisterporträt als elegante, reich gekleidete, äußerst modische, mit einer sagenhaften Haartracht ausgestattete Oberdame erscheint, beim Fürsten durch Ohnmachten beliebt gemacht? Eher trauen wir der Frau zu, dass sie intellektuell so beschlagen war, dass sie auf derartige Züge einer angewandten Défaillance verzichten konnte. Auch die Bouse ist ja eine raffinierte Frau, die ihre Stellung dazu benutzt, „im Leben vorwärts zu kommen“, wie man populär sagen könnte. Wenn Jean Paul allerdings den Fürsten von Scheerau als Lüstling schildert, gerät die (allzu nüchterne) Beschreibung des Mätressen-Status, ihre Berufsbeschreibung also, derzufolge sie „ein Statussymbol“ sei, „das den Glanz des Hofes unterstrich“, ins Wanken. Im Spiegel dieses Fürsten darf man fragen, ob der Hof wirklich so glanzvoll ist, dass die Bouse hier als jenes menschliche Juwel zu glänzen vermag, das Büttner 1788 ins Bild gesetzt hat. Jean Paul konterkariert es ja selbst: da herrscht, meint er, mehr Kunst als Natur. Die „schöne Frau“ ist also, genau betrachtet, keine – und trotzdem muss ich, bei allen Unterschieden (gewiss: die Mätresse von Hessen-Kassel ist auch geschminkt), das Gemälde der Schlotheim betrachtend, unwillkürlich an die Bouse denken.