Logen-Blog [226]: Was macht der Wille aus dem Denken des Menschen?
Wer ist ein „hoher Mensch“? Zum Beispiel der selige Hamann – ein „genievoller“ Autor (wie Jean Paul vorher schrieb), der doch mit „weit mehr Geschmack lesen als schreiben“ konnte. Der unorthodoxe Philosoph ist also doch einer der Auserwählten? An diesen Stellen merkt man, dass der Verfasser, der das (wichtige) Extrablatt als „Jean Paul“ schreiben mag, mit dem Autor Jean Paul identisch ist, und dieser mit dem Menschen (falls man den Menschen im Autor zu entdecken vermag). „Jean Pauls“ religiöser Moralismus wäre unverständlicher, wüssten wir nicht, dass Jean Paul selbst seine religiös-moralischen Überzeugungen aus den Erfahrungen seines Lebensganges bezog, die er, um´s mal trocken auszudrücken, auf seine spezifische Art und Weise in Worte und Taten umsetzte. Der Mensch ist das Werk – mag auch das Werk ungeheuer vielfältig und der Mensch in ihm gelegentlich unerkennbar sein. Und also kann „Jean Paul“ in diesem Moment auch einen denkbar nichttrivialen Autor zu einem „hohen Menschen“ stilisieren, der ihm aus literarischen Gründen fern stehen mag. Wer indes nur eine der beiden Stellen liest und von hier aus auf Jean Pauls Stellung zu Hamann schließt, muss sich täuschen. Die Welt ist ja auch differenziert – wieso soll es nicht das Urteil über einen Dichter und Menschen eines derartigen Ranges sein?
Sie kannten sich – und trafen sich gleichsam in morgenländischem Geist: Novalis und Jean Paul[1]. Das weltberühmte Gemälde wurde von einem Mann aus der sog. „Provinz“ gemalt, der damit in die Unsterblichkeit mitgerissen wurde: Franz Gareis, geboren im görlitzischen Ostritz in der Oberlausitz. Als Jean Paul seinen Roman schrieb, studierte er an der Kunstakademie Dresden – bei einem Bruder des bekannten Herrn Casanova: bei Giovanni Battista Casanova.
Hamann erscheint in dieser Optik geradezu als Morgenländer des Geistes. Wir erinnern uns: die Aufwertung des „Orients“ durch die Romantiker hatte dafür gesorgt, dass das Bild vom „wilden“ Orientalen zugunsten des „weisen“ und „guten“ Morgenländers beiseite geschoben wurde. Lessings Nathan und Bretzners Bassa Selim[2] hatten auf den Bühnen ihren Teil dazu beigetragen, das Prinzip der Aufklärung in den Orientdiskurs hineinzutragen. Heinrich von Ofterdingen wird am Ende des Jahrhunderts sein Heil bei einer Morgenländerin suchen, Wackenroder im wunderbaren morgenländischen Märchen von einem nackten Heiligen im Orient die „Heimat alles Wunderbaren“ entdecken, in dem die Liebe, die Musik und das Heilige eins werden (ganz wie beim anderen Bayreuther, bei Richard Wagner). Schon vorher schrieb Jean Paul, auch hierin Avantgardist, dass „Engländer und Morgenländer diesen Sonnen-Stern [des hohen Menschen] öfter auf ihrer Brust als andre Völker“ haben.
Von hier kommt nun der Erzähler schnurstracks auf die Leidenschaften, auf die ihn Ottomar hingewiesen hatte. Entscheidend scheint mir folgende These zu sein:
Alle Leidenschaften täuschen sich nicht über die Art oder den Grad, sondern über den Gegenstand der Empfindung.
Interessant ist nun der Beweis dieses Satzes: es geht nicht darum, Leidenschaften abzuleugnen oder zu bagatellisieren. Es geht „nur“ darum, über die Leidenschaften nachzudenken, um das Irrationale dieser emotionalen Extreme zu bemerken und vielleicht zu lernen, dass man seine Feinde lieben oder die Liebe an sich nicht zu einem Gott machen sollte. Je größer das Gefühl, desto unwahrscheinlicher aber ist die Existenz dessen, was ihm entspricht. Also gilt:
Da aber alle Gegenstände dieser Erde die Beschaffenheit nicht haben, die solche Seelenstürme in uns verdienen kann; da also das Größte, was uns zu sich reißen oder von sich stoßen kann, in andere Welten stehen muss: so sieht man, dass die größten Bewegungen unsers Ich nur vielleicht außerhalb des Körpers ihren vergönnten geräumigern Spielraum antreffen.
Er markiert damit ein Problem, das eine Generation später von Schopenhauer diskutiert wird: Was macht der Wille aus dem Denken des Menschen? Er muss zurückgedrängt werden, um Ungerechtigkeiten gegen sich und die Welt zu verhindern; er muss – paradox mag dieses „Müssen“ erscheinen, wo es darum geht, eben auf das „Wollen“ zu verzichten – seiner Subjektivität entkleidet werden. Unser ewiges Wollen fließet immerfort durch uns und in uns, wie ein Strom, und die Leidenschaften sind nur die Wasserfälle und Springfluten dieses Stroms, sagt Jean Paul.
Der Schluss fürs tägliche Leben ist eindeutig – und aktuell: Gibt die Dauer des Scheltens das Recht?
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[1] Nebenbei: beide Herren wurden unter ihrem Pseudonym bekannt – wie „Shakespeare“ (oder Shake-Speare) und viele andere berühmte Dichter...
[2] Zaide war das Vorläuferstück zur Entführung aus dem Serail.
Logen-Blog [226]: Was macht der Wille aus dem Denken des Menschen?>
Wer ist ein „hoher Mensch“? Zum Beispiel der selige Hamann – ein „genievoller“ Autor (wie Jean Paul vorher schrieb), der doch mit „weit mehr Geschmack lesen als schreiben“ konnte. Der unorthodoxe Philosoph ist also doch einer der Auserwählten? An diesen Stellen merkt man, dass der Verfasser, der das (wichtige) Extrablatt als „Jean Paul“ schreiben mag, mit dem Autor Jean Paul identisch ist, und dieser mit dem Menschen (falls man den Menschen im Autor zu entdecken vermag). „Jean Pauls“ religiöser Moralismus wäre unverständlicher, wüssten wir nicht, dass Jean Paul selbst seine religiös-moralischen Überzeugungen aus den Erfahrungen seines Lebensganges bezog, die er, um´s mal trocken auszudrücken, auf seine spezifische Art und Weise in Worte und Taten umsetzte. Der Mensch ist das Werk – mag auch das Werk ungeheuer vielfältig und der Mensch in ihm gelegentlich unerkennbar sein. Und also kann „Jean Paul“ in diesem Moment auch einen denkbar nichttrivialen Autor zu einem „hohen Menschen“ stilisieren, der ihm aus literarischen Gründen fern stehen mag. Wer indes nur eine der beiden Stellen liest und von hier aus auf Jean Pauls Stellung zu Hamann schließt, muss sich täuschen. Die Welt ist ja auch differenziert – wieso soll es nicht das Urteil über einen Dichter und Menschen eines derartigen Ranges sein?
Sie kannten sich – und trafen sich gleichsam in morgenländischem Geist: Novalis und Jean Paul[1]. Das weltberühmte Gemälde wurde von einem Mann aus der sog. „Provinz“ gemalt, der damit in die Unsterblichkeit mitgerissen wurde: Franz Gareis, geboren im görlitzischen Ostritz in der Oberlausitz. Als Jean Paul seinen Roman schrieb, studierte er an der Kunstakademie Dresden – bei einem Bruder des bekannten Herrn Casanova: bei Giovanni Battista Casanova.
Hamann erscheint in dieser Optik geradezu als Morgenländer des Geistes. Wir erinnern uns: die Aufwertung des „Orients“ durch die Romantiker hatte dafür gesorgt, dass das Bild vom „wilden“ Orientalen zugunsten des „weisen“ und „guten“ Morgenländers beiseite geschoben wurde. Lessings Nathan und Bretzners Bassa Selim[2] hatten auf den Bühnen ihren Teil dazu beigetragen, das Prinzip der Aufklärung in den Orientdiskurs hineinzutragen. Heinrich von Ofterdingen wird am Ende des Jahrhunderts sein Heil bei einer Morgenländerin suchen, Wackenroder im wunderbaren morgenländischen Märchen von einem nackten Heiligen im Orient die „Heimat alles Wunderbaren“ entdecken, in dem die Liebe, die Musik und das Heilige eins werden (ganz wie beim anderen Bayreuther, bei Richard Wagner). Schon vorher schrieb Jean Paul, auch hierin Avantgardist, dass „Engländer und Morgenländer diesen Sonnen-Stern [des hohen Menschen] öfter auf ihrer Brust als andre Völker“ haben.
Von hier kommt nun der Erzähler schnurstracks auf die Leidenschaften, auf die ihn Ottomar hingewiesen hatte. Entscheidend scheint mir folgende These zu sein:
Alle Leidenschaften täuschen sich nicht über die Art oder den Grad, sondern über den Gegenstand der Empfindung.
Interessant ist nun der Beweis dieses Satzes: es geht nicht darum, Leidenschaften abzuleugnen oder zu bagatellisieren. Es geht „nur“ darum, über die Leidenschaften nachzudenken, um das Irrationale dieser emotionalen Extreme zu bemerken und vielleicht zu lernen, dass man seine Feinde lieben oder die Liebe an sich nicht zu einem Gott machen sollte. Je größer das Gefühl, desto unwahrscheinlicher aber ist die Existenz dessen, was ihm entspricht. Also gilt:
Da aber alle Gegenstände dieser Erde die Beschaffenheit nicht haben, die solche Seelenstürme in uns verdienen kann; da also das Größte, was uns zu sich reißen oder von sich stoßen kann, in andere Welten stehen muss: so sieht man, dass die größten Bewegungen unsers Ich nur vielleicht außerhalb des Körpers ihren vergönnten geräumigern Spielraum antreffen.
Er markiert damit ein Problem, das eine Generation später von Schopenhauer diskutiert wird: Was macht der Wille aus dem Denken des Menschen? Er muss zurückgedrängt werden, um Ungerechtigkeiten gegen sich und die Welt zu verhindern; er muss – paradox mag dieses „Müssen“ erscheinen, wo es darum geht, eben auf das „Wollen“ zu verzichten – seiner Subjektivität entkleidet werden. Unser ewiges Wollen fließet immerfort durch uns und in uns, wie ein Strom, und die Leidenschaften sind nur die Wasserfälle und Springfluten dieses Stroms, sagt Jean Paul.
Der Schluss fürs tägliche Leben ist eindeutig – und aktuell: Gibt die Dauer des Scheltens das Recht?
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[1] Nebenbei: beide Herren wurden unter ihrem Pseudonym bekannt – wie „Shakespeare“ (oder Shake-Speare) und viele andere berühmte Dichter...
[2] Zaide war das Vorläuferstück zur Entführung aus dem Serail.