Logen-Blog [200]: Schlawiener und Brochüristen
Wiener Stil? Zwischen Tändelei und Hochkultur? Ein Ladengeschäft, wieder entdeckt in der Alser Straße, und bei Robert Musil in der Bibliothek.
Der Kadettenhausbewohner Oefel ist nicht nur ein Schlawiner – er ist auch ein Wiener. Ich weiß nicht, ob Jean Paul das Wienerische für das Schlawinerische an sich hielt, aber der Eindruck drängt sich auf. Was ihn auszeichnet, ist ein „schöner Geist“ – aber da er nur diesen einen Geist hat, hat er wenig (sagt der Erzähler, dem wir's glauben müssen, weil er sehr viel Geist besitzt). Seine Leitkultur ist die französische – und das heißt: die verfeinerte der Buchhändler; ich stelle mir Oefel vor, französische Moderomane (nicht den Fénelon) lesend, „pikante“ Kupfer studierend, schlechte Verse memorierend. Und also nimmt Oefel einen Standpunkt ein, von dem aus er alle Geister in jenen beiden großen Städten verachtet, die Jean Paul einige Jahre später persönlich kennen lernen durfte: in Weimar und Berlin. Dass er die Scheerauer verachtet – nun gut –, aber der Zentrismus des Belletristen ist schon sehr erstaunlich: selbst dann, wenn wir mit dem Wiener nicht nur annehmen wollen, dass Zaster und society, Spezlwirtschaft und „Hofgeschmack“ eine schöne Sache sind, sondern dass die Wiener Kultur, aus der er stammt, eine hervorragende ist.
Jean Paul hat dazu eine eigene Meinung: in Wien stößt, meint er, „zwar kein Erdbeben einen Parnass“, aber „die Maulwufs-Schnäuzchen von hundert Brochüristen“ stoßen ein „Duodez-Parnäßchen“ auf – aber hatte Jean Paul wirklich einen Überblick über die österreichische Literatur seiner Zeit? Mir fällt ein Buch ein und in die Hände: Aufklärung auf wienerisch, 1980 herausgegeben von Joachim Schondorff.
Keine Angst, es geht hier nicht um Josephine Mutzenbacher und diverse andere „Mizzis“, es geht um das Zeitalter der geistigen Erleuchtung, das mit dem erneuerten Zensurdekret Josephs II. vom 11. Juni 1781 machtvoll befördert wurde. Nein, man muss sie nicht kennen, die Matadoren der Wiener Aufklärung, die in der bedeutendsten Großstadt des deutschen Reiches stattfand, man muss weder Johann Rautenstrauch, noch Joseph Richter noch Johann Pezzl noch den Kasperleautor Joachim Perinet gelesen haben, aber man könnte feststellen, dass diese Repräsentanten einer aufgeklärten Literatur eben dem „Hofgeschmack“ widersprachen, den „Jean Paul“ und sein Dichter nicht mochten. Man lese nur einmal in Johann Pezzls Skizze von Wien hinein, die 1786 bis 1789 erschien:
Nichts fehlt in diesem Gesamtbild, nicht die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte des Wiener Lebens, nicht die verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und nicht die Bauten, Institutionen und Sehenswürdigkeiten Wiens – alles beschrieben in einem reifen klaren essayistischen Stil, in dem sachliche Information impressionistische Farbigkeit empfängt. Derart entstand ein frühes Meisterwerk im Genre der Großstadtdarstellung.[1]
Es sieht nicht so aus, als habe Jean Paul das wahrgenommen, aber man kann ihm keinen Vorwurf machen. Erstens schreibt er hier auch um der Satire willen, und zweitens darf man ihm nicht zumuten, jedes gedruckte Buch gelesen zu haben. Er kannte wirklich genug, um seine, vom „Hofgeschmack“ wie von der Broschürenliteratur abstechende Kunst zu produzieren – und wer weiß: vielleicht hat er den Pezzl ja irgendwann in die Hände bekommen. Über Wien schreibt er ja gelegentlich. Man schnuppere nur in den Giannozzo hinein.
[Fotos: Frank Piontek (Oktober 2011)]
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[1] Schrieb Herr Schondorff auf Seite 293.
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Wiener Stil? Zwischen Tändelei und Hochkultur? Ein Ladengeschäft, wieder entdeckt in der Alser Straße, und bei Robert Musil in der Bibliothek.
Der Kadettenhausbewohner Oefel ist nicht nur ein Schlawiner – er ist auch ein Wiener. Ich weiß nicht, ob Jean Paul das Wienerische für das Schlawinerische an sich hielt, aber der Eindruck drängt sich auf. Was ihn auszeichnet, ist ein „schöner Geist“ – aber da er nur diesen einen Geist hat, hat er wenig (sagt der Erzähler, dem wir's glauben müssen, weil er sehr viel Geist besitzt). Seine Leitkultur ist die französische – und das heißt: die verfeinerte der Buchhändler; ich stelle mir Oefel vor, französische Moderomane (nicht den Fénelon) lesend, „pikante“ Kupfer studierend, schlechte Verse memorierend. Und also nimmt Oefel einen Standpunkt ein, von dem aus er alle Geister in jenen beiden großen Städten verachtet, die Jean Paul einige Jahre später persönlich kennen lernen durfte: in Weimar und Berlin. Dass er die Scheerauer verachtet – nun gut –, aber der Zentrismus des Belletristen ist schon sehr erstaunlich: selbst dann, wenn wir mit dem Wiener nicht nur annehmen wollen, dass Zaster und society, Spezlwirtschaft und „Hofgeschmack“ eine schöne Sache sind, sondern dass die Wiener Kultur, aus der er stammt, eine hervorragende ist.
Jean Paul hat dazu eine eigene Meinung: in Wien stößt, meint er, „zwar kein Erdbeben einen Parnass“, aber „die Maulwufs-Schnäuzchen von hundert Brochüristen“ stoßen ein „Duodez-Parnäßchen“ auf – aber hatte Jean Paul wirklich einen Überblick über die österreichische Literatur seiner Zeit? Mir fällt ein Buch ein und in die Hände: Aufklärung auf wienerisch, 1980 herausgegeben von Joachim Schondorff.
Keine Angst, es geht hier nicht um Josephine Mutzenbacher und diverse andere „Mizzis“, es geht um das Zeitalter der geistigen Erleuchtung, das mit dem erneuerten Zensurdekret Josephs II. vom 11. Juni 1781 machtvoll befördert wurde. Nein, man muss sie nicht kennen, die Matadoren der Wiener Aufklärung, die in der bedeutendsten Großstadt des deutschen Reiches stattfand, man muss weder Johann Rautenstrauch, noch Joseph Richter noch Johann Pezzl noch den Kasperleautor Joachim Perinet gelesen haben, aber man könnte feststellen, dass diese Repräsentanten einer aufgeklärten Literatur eben dem „Hofgeschmack“ widersprachen, den „Jean Paul“ und sein Dichter nicht mochten. Man lese nur einmal in Johann Pezzls Skizze von Wien hinein, die 1786 bis 1789 erschien:
Nichts fehlt in diesem Gesamtbild, nicht die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte des Wiener Lebens, nicht die verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und nicht die Bauten, Institutionen und Sehenswürdigkeiten Wiens – alles beschrieben in einem reifen klaren essayistischen Stil, in dem sachliche Information impressionistische Farbigkeit empfängt. Derart entstand ein frühes Meisterwerk im Genre der Großstadtdarstellung.[1]
Es sieht nicht so aus, als habe Jean Paul das wahrgenommen, aber man kann ihm keinen Vorwurf machen. Erstens schreibt er hier auch um der Satire willen, und zweitens darf man ihm nicht zumuten, jedes gedruckte Buch gelesen zu haben. Er kannte wirklich genug, um seine, vom „Hofgeschmack“ wie von der Broschürenliteratur abstechende Kunst zu produzieren – und wer weiß: vielleicht hat er den Pezzl ja irgendwann in die Hände bekommen. Über Wien schreibt er ja gelegentlich. Man schnuppere nur in den Giannozzo hinein.
[Fotos: Frank Piontek (Oktober 2011)]
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[1] Schrieb Herr Schondorff auf Seite 293.