Logen-Blog [198]: Der Mangel an wahrem Mord und Totschlag
Und flugs geht das Kapitel zuende – nur hat man wieder nicht den Eindruck, dass es nach den Gesetzen einer klassisch-klassizistischen Poetik organisch abschließt. Andererseits: vielleicht ist dies ja gerade das Organische, das zugleich das Romantische ist: das Fragmentarische einer gebornen Ruine, dessen Bruchstückhaftigkeit nicht erst am Ende des Nicht-Endes, auch in den Bruchstücken der einzelnen Sektoren enthalten ist. So spiegelt sich in jedem einzelnen Sektor das große Ganze eines unganzen Großen.
Als ob Jean Paul das so genau gewusst hätte!
Und also bedauert er, sehr plötzlich, dass seine Erzählung geradezu harmlos sei, dass es hier an wahrem Mord und Totschlag mangele, an Pestilenz und teuerer Zeit und an der Pathologie der Litanei. Nein, meint er, der Leser hätte keinen Grund, ins Schnupftuch zu weinen. Es stimmt ja: auch ich habe bisher nicht geweint beim Lesen. Es gibt Bücher – auch von Jean Paul –, bei denen auch bei mir dieser Prozess unausweichlich einsetzt (so wie der Blogger gefühlig wird, wenn er bestimmte Musik hört). Es kommt dabei, die Literatur- und Musikfreunde mögen es wissen, durchaus nicht darauf an, wie oft man schon diese oder jene Stelle gelesen oder -hört hat. Das Unerhörte kann sich jedes Mal erweisen – nur Leute wie Robisch oder Moralprofessoren vom Hoppedizelschen Schlag mögen anmerken, dass sich da doch eine bedenkliche Distanzlosigkeit... dass es doch nicht anginge, dem Kunstwerk... dass es der Kunst nicht angemessen sei... Ich weiß: Beethoven sagte einmal, dass man seiner Musik nicht mit Gefühlen, sondern mit Verstand lauschen solle. Er wurde fuchtig, als er selbst die Kerls während seines schwer emotionalen Klavierspiels in Rührung versetzte. Als irgendein Assistent während einer Bayreuther Ring-Probe einmal zu weinen anfing, meinte Wagner, dass dazu kein Grund bestünde: „Wir wissen doch, wie es gemacht wird.“
Aber die Ästhetikprofessoren und die Künstler müssen nicht immer Recht haben. Wagner sprach auch von der Vernunftwerdung des Gefühls, oder anders: dass man seine Werke nur dann rational begreifen könne, wenn man sie emotional erfahre. Was wie ein Widerspruch klingt, weil es ja eben die Distanzlosigkeit ist, die den Verstand ausschaltet, scheint mir eine der Bedingungen des Kunstwerks zu sein. Ansonsten könnten die Künstler ja auch Leitartikel verfassen. Manch „Kunstwerk“ ist ja eines. Die unsichtbare Loge aber ist kein „Kunstwerk“, sondern ein Kunstwerk – auch wenn wir nicht wie die romantischen Schoßhündchen heulen müssen, wenn wir's lesen.
Mord und Totschlag? Weit gefehlt – aber ist denn, fragt der Dichter, nur der Romanen-Fabrikant mit dem Blut- und Königsbann beliehen, und ist nur sein Druckpapier ein Greveplatz? Wir waren schon einmal auf der Place des Greves, als der Räuber Cartouche hingerichtet wurde (Jean Paul wusste das natürlich) – Zeitungs- und Gechichtsschreiber also seien nicht weniger schlimm als die Romanciers, die ihre Leute hinrichteten. Auch dies stimmt: die Macht des Autors ist eine unendliche – auch wenn's nur so scheint, denn wie oft führen die Figuren, die er da zu erfinden scheint, in die Irre, auf Abwege, auf Pfade, die nur der Sünder findet.[1] Um zu belegen, dass er auch töten könne, rückt er aus Not nun flugs eine Zeitungsnotiz ein, wonach der dasige Bediente Robisch Todes verfahren sei: wie seine Mäuse. Die Notiz wurde auch nicht von Dr. Fenk, sondern von ihm, dem Erzähler, verfertigt, aber es macht nichts: tot ist tot, auch wenn's nicht stimmt, sondern nur gut erfunden ist, weil man sich fragen könne, ob er zu Tode geprügelt oder nur verhungert sei. Jean Paul unterhält sich derart mit seinem Publikum – und wir fühlen uns unterhalten. Um genau zu sein: tödlich gut unterhalten
[Foto: Frank Piontek, 15.2. 2013]
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[1] Wer diese Stelle nicht versteht, möge während oder nach der Lektüre den ersten Parsifal-Akt anhören.
Logen-Blog [198]: Der Mangel an wahrem Mord und Totschlag>
Und flugs geht das Kapitel zuende – nur hat man wieder nicht den Eindruck, dass es nach den Gesetzen einer klassisch-klassizistischen Poetik organisch abschließt. Andererseits: vielleicht ist dies ja gerade das Organische, das zugleich das Romantische ist: das Fragmentarische einer gebornen Ruine, dessen Bruchstückhaftigkeit nicht erst am Ende des Nicht-Endes, auch in den Bruchstücken der einzelnen Sektoren enthalten ist. So spiegelt sich in jedem einzelnen Sektor das große Ganze eines unganzen Großen.
Als ob Jean Paul das so genau gewusst hätte!
Und also bedauert er, sehr plötzlich, dass seine Erzählung geradezu harmlos sei, dass es hier an wahrem Mord und Totschlag mangele, an Pestilenz und teuerer Zeit und an der Pathologie der Litanei. Nein, meint er, der Leser hätte keinen Grund, ins Schnupftuch zu weinen. Es stimmt ja: auch ich habe bisher nicht geweint beim Lesen. Es gibt Bücher – auch von Jean Paul –, bei denen auch bei mir dieser Prozess unausweichlich einsetzt (so wie der Blogger gefühlig wird, wenn er bestimmte Musik hört). Es kommt dabei, die Literatur- und Musikfreunde mögen es wissen, durchaus nicht darauf an, wie oft man schon diese oder jene Stelle gelesen oder -hört hat. Das Unerhörte kann sich jedes Mal erweisen – nur Leute wie Robisch oder Moralprofessoren vom Hoppedizelschen Schlag mögen anmerken, dass sich da doch eine bedenkliche Distanzlosigkeit... dass es doch nicht anginge, dem Kunstwerk... dass es der Kunst nicht angemessen sei... Ich weiß: Beethoven sagte einmal, dass man seiner Musik nicht mit Gefühlen, sondern mit Verstand lauschen solle. Er wurde fuchtig, als er selbst die Kerls während seines schwer emotionalen Klavierspiels in Rührung versetzte. Als irgendein Assistent während einer Bayreuther Ring-Probe einmal zu weinen anfing, meinte Wagner, dass dazu kein Grund bestünde: „Wir wissen doch, wie es gemacht wird.“
Aber die Ästhetikprofessoren und die Künstler müssen nicht immer Recht haben. Wagner sprach auch von der Vernunftwerdung des Gefühls, oder anders: dass man seine Werke nur dann rational begreifen könne, wenn man sie emotional erfahre. Was wie ein Widerspruch klingt, weil es ja eben die Distanzlosigkeit ist, die den Verstand ausschaltet, scheint mir eine der Bedingungen des Kunstwerks zu sein. Ansonsten könnten die Künstler ja auch Leitartikel verfassen. Manch „Kunstwerk“ ist ja eines. Die unsichtbare Loge aber ist kein „Kunstwerk“, sondern ein Kunstwerk – auch wenn wir nicht wie die romantischen Schoßhündchen heulen müssen, wenn wir's lesen.
Mord und Totschlag? Weit gefehlt – aber ist denn, fragt der Dichter, nur der Romanen-Fabrikant mit dem Blut- und Königsbann beliehen, und ist nur sein Druckpapier ein Greveplatz? Wir waren schon einmal auf der Place des Greves, als der Räuber Cartouche hingerichtet wurde (Jean Paul wusste das natürlich) – Zeitungs- und Gechichtsschreiber also seien nicht weniger schlimm als die Romanciers, die ihre Leute hinrichteten. Auch dies stimmt: die Macht des Autors ist eine unendliche – auch wenn's nur so scheint, denn wie oft führen die Figuren, die er da zu erfinden scheint, in die Irre, auf Abwege, auf Pfade, die nur der Sünder findet.[1] Um zu belegen, dass er auch töten könne, rückt er aus Not nun flugs eine Zeitungsnotiz ein, wonach der dasige Bediente Robisch Todes verfahren sei: wie seine Mäuse. Die Notiz wurde auch nicht von Dr. Fenk, sondern von ihm, dem Erzähler, verfertigt, aber es macht nichts: tot ist tot, auch wenn's nicht stimmt, sondern nur gut erfunden ist, weil man sich fragen könne, ob er zu Tode geprügelt oder nur verhungert sei. Jean Paul unterhält sich derart mit seinem Publikum – und wir fühlen uns unterhalten. Um genau zu sein: tödlich gut unterhalten
[Foto: Frank Piontek, 15.2. 2013]
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[1] Wer diese Stelle nicht versteht, möge während oder nach der Lektüre den ersten Parsifal-Akt anhören.