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04.12.2012, 15:48 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [44]: Über Größe und Gestalt der Blendung

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Nicht bloß Lügner und L'hombrespieler, sondern auch Romanenleser müssen ein gutes Gedächtnis haben, um die ersten 10 oder 12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen auswendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fortkommen.

Der unvergleichliche Hans Mayer schrieb in einem Aufsatz zum „Nachruhm“ Jean Pauls, dass der Dichter seine Werke „als Schöpfungen humoristischer Dichtung“ betrachtet habe. Dafür zeuge schon die Wertigkeit, die er dem Humor in seiner Vorschule der Ästhetik eingeräumt habe.

Natürlich war Jean Paul ein großer Humorist, auch Die Unsichtbare Loge ist ohne ihn unmöglich zu haben – aber die Brüche sind allzu offensichtlich, als dass wir ihn als „reinen“ Humoristen abklassifizieren könnten. Ich bin auch nicht sicher, ob Mayer selbst der Überzeugung ist, dass Jean Paul seine Werke selbst richtig beurteilt habe. Wer nun liest, dass der Knabe namens Amandus von der Alten geblendet wurde[1], zweifelt an Jean Pauls Eigensicht (und auch der, der Siebenkäs' Verzweiflung im Auge hat: ein blutiges Ausströmen eines wunden Herzens, dem Lenette tragisch verstummt gegenüber steht). Nachdem der Erzähler wieder einmal über die Technik des Romanschreibens reflektiert hat (der Romancier müsse, darin dem Lügner und dem L'hombrespieler gleich, ein gutes Gedächtnis für Expositionen haben), kommt der kleine Italiener, ein „Kind des Jammers“, ins Spiel: der Sohn eines Doktor Zoppo aus Pavia. Zoppo heißt „lahm“: ein schöner Doktor offenbar. An ihm (dem Sohn) beweist sich Gustavs Mit-Leiden: er möchte ihm sogar seinen geliebten Vogel schenken. Der Dichter findet wieder zu einem Aphorismus, der definitiv nicht humoristisch ist: „Nicht die Größe, sondern die Gestalt des Leidens bestimmt das Mitleiden.“ Seltsamerweise findet man die Sentenz nicht in den vielen Zitatsammlungen, es hat vielleicht seinen Grund: denn Jean Paul – halten zu Gnaden – irrt, soweit es die Romansituation betrifft. Dass die Blendung des Kindes in ihrer Größe weniger schlimm sei als die Art der Verletzung ist eine Aussage, die nicht verstanden werden kann. Dagegen stehen die Tränen des Knaben, der niemals mehr die Welt sehen wird: weder die hässliche noch die schöne.

Jean Paul hat seine Romane und Erzählungen „als Schöpfungen humoristischer Dichtung“ betrachtet? Mag sein – aber Humor ist, wenn man gelegentlich weint.



[1] Der Rittmeister lässt ihn verbinden, was dem Satiriker Gelegenheit zu einem hübschen Apart gibt: „Ich sah einmal auf der letzten Station vor Leipzig eine so reizende Querbinde über der Stirn und dem Auge eines Mädchens, daß ich wünschte, meine Frau würde von Zeit zu Zeit dorthin geritzt, weil es nett ausfällt.“