Ich liebte München und lieb es noch: seine gute Mischung aus nördlicher Rauheit und südlichem Glanz, ich mag die Menschen, ihren oft ins Grobe entgleisenden Charme, ihren Dialekt. 

(Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben, 1995)

Kindheit, Jugend, Studium und Heirat
Grete Weil wurde am 18. Juli 1906 am Tegernsee in Egern als Margarethe Elisabeth Dispeker geboren. Siegfried Dispeker ihr Vater, war in München bekannt als angesehener, assimiliert-jüdischer, liberal eingestellter Rechtsanwalt. In dem großbürgerlichen Haus verkehrten zahlreiche Künstler und Intellektuelle. Grete Weil verbrachte ihre Kindheit und Jugend in München und am Tegernsee, wuchs mit Kunst, Theater und Literatur auf. Dem wachsenden Antisemitismus in Bayern begegnete die Familie zunächst mit Hoffnung auf die deutsch-jüdische Symbiose. 1923, während des Hitlerputsches, floh die Familie dann allerdings bereits erstmals nach Grainau zu Verwandten, kehrte dann jedoch nach einigen Tagen nach München zurück. Auch als Grete Weil und ihrem Bruder etwas später die Aufnahme in den Alpenverein verweigert wurde, dachten sie noch nicht an Emigration. Weil Grete Weil in München durchs Abitur gefallen war, schloss sie im Herbst 1929 dann in Frankfurt die Schule mit dem Abitur ab. Dort studierte sie dann auch Germanistik, was sie nach Berlin, Paris und schließlich wieder zurück nach München führte. 1932 begann sie an einer Dissertation über die „Entwicklung des Bürgertums am Beispiel des zwischen 1786 und 1827 erscheinenden Journals des Luxus und der Mode“ zu arbeiten. Außerdem verfasste sie die Erzählung Erlebnis einer Reise. Hier beschrieb sie die Auflehnung junger Menschen gegenüber den bürgerlichen Moralvorstellungen am Ende der Weimarer Republik.

Im Juli 1932 heiratete Grete Weil ihren langjährigen Freund, den promovierten Germanisten und an den Münchner Kammerspielen als Dramaturg beschäftigten Edgar Weil, auch er jüdischer Herkunft. Nachdem er im Zuge der Machtübergabe an Hitler als Jude entlassen und für zwei Wochen in Polizeigewahrsam genommen wurde, musste er in Frankfurt die ‚Arisierung’ der väterlichen pharmazeutischen Fabrik vollziehen. Angesichts dieser Erfahrungen beschloss er, das Unternehmen in den Niederlanden ganz neu aufzubauen, und zog nach Amsterdam. Grete Weil blieb zunächst noch in München, um sich zur Fotografin ausbilden zu lassen.

Grete Weil als kleines Mädchen, ca. 6 Jahre. Foto: Emil Ganghofer (Archiv Monacensia)

Grete Weil in Amsterdam
Im Dezember 1935 zog Grete Weil von München zu ihrem Mann in die Beethovenstraat im Süden Amsterdams. Zu ihren Bekannten und Freunden zählten hier bald viele weitere deutsche Emigranten, darunter der Maler Max Beckmann, der Dirigent Bruno Walter und der Schriftsteller Albert Ehrenstein. Als Hitler die Niederlande im Mai 1940 innerhalb von fünf Tagen besetzte, versuchten Grete und Edgar Weil über den Hafen IJmuiden nach England zu fliehen. Ohne Erfolg. In den nächsten Monaten erlebte das Paar die Umsetzung der – in Deutschland bereits vollzogenen – Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam mit. Am 11. Juni 1941 wurde Edgar Weil dann auf offener Straße in Amsterdam verhaftet und über das niederländische Lager Schoorl nach Mauthausen deportiert, wo er bereits im September 1941 ermordet wurde. Ein Jahr später begann die systematische Deportation aller sich in den Niederlanden aufhaltenden Juden in die Vernichtungslager im Osten. Grete Weil trat nun in Kontakt zu Widerstandsgruppen, fertigte auch Fotos für die Fälschung von Personalausweisen an. Im Februar 1941 war in Amsterdam nämlich der sog. Joodsche Raad gegründet worden, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Juden und dem jüdischen Leben in den Niederlanden ein Ende zu setzen im Sinne der deutschen Besatzer. Um zu überleben und auch um ihre gleichfalls nach Amsterdam geflüchtete Mutter zu schützen, ließ sich Grete Weil als Mitarbeiterin dieses Rates anstellen. Zuerst arbeitete sie in der von der SS im Amsterdam geführten Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Fotografin. Später war es dann ihre Aufgabe, für die wöchentlich tausend, zum Abtransport in die Todeslager gefangengenommenen Juden Briefe zu schreiben.

Am 29. September 1943 traf es dann Grete Weil selbst. Auch sie sollte deportiert werden. Sie konnte allerdings fliehen, tauchte bei einem Freund in Amsterdam unter in der Wohnung des deutschen ‚Halbjuden’ Herbert Meyer am Nieuwezijds Voorburgwal. Achtzehn Monate lang wartete sie hier auf das Ende der deutschen Besatzung. In dieser Zeit arbeitete sie für Widerstandsgruppen und fälschte Lebensmittelkarten. Nachts schlief sie hinter einer Bücherwand. Während ihrer Zeit im Versteck nahm Grete Weil ihr seit 1933 ruhendes Schreiben wieder auf. Neben dem Roman Der Weg zur Grenze verarbeitete sie in dem Theaterstück Weihnachtslegende 1943 ihre Erfahrungen im Amsterdamer Exil und im Untergrund. 1945 erschien die Weihnachtslegende unter dem Pseudonym „B. v. Osten“ mit dem Titel Das gefesselte Theater – Het marionettentooneel der ‚Hollandgruppe’ speelt voor onderduikers (dt. Das Marionettentheater der ‚Hollandgruppe‘ spielt für Untergetauchte) als Privatdruck und erste Veröffentlichung Grete Weils in Amsterdam.

Die Befreiung erlebte sie in der Prinsengracht bei einer Freundin in Amsterdam. Danach blieb Grete Weil zunächst noch in Amsterdam. Auch ihre Mutter und ihr Bruder hatten den Holocaust überlebt. Als Staatenlose durfte sie jedoch vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren. So versuchte Grete Weil zunächst in Amsterdam die pharmazeutische Fabrik ihres Mannes wieder aufzubauen. Im Herbst 1946 unternahm sie heimlich eine erste Reise nach Frankfurt, um hier ihren Jugendfreund Walter Jokisch zu treffen. Nachdem sie in Amsterdam als Widerstandskämpferin anerkannt war und auch einen niederländischen Pass erhalten hatte, übersiedelte sie zurück nach Deutschland.


Grete Weil, Selbstporträt in Amsterdam, 1939 (Archiv Monacensia)

Grete Weil kehrt 1947 zurück nach Deutschland
Grete Weil ließ sich zuerst in Darmstadt nieder, wo ihr späterer Ehemann Walter Jokisch als Opernregisseur arbeitete. Grete Weils erklärtes Ziel war es nun, in ihrer Heimat „gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit“. In ihrer noch in Amsterdam geschriebenen und 1949 in Berlin veröffentlichten Erzählung Ans Ende der Welt, die von der Deportation zweier holländisch-jüdischen Familien handelt, berichtete sie zum ersten Mal über die Verfolgung der niederländischen Juden. 1949 war diese Erzählung im Ostberliner Verlag Volk und Welt erschienen, 1962 dann auch in Westdeutschland. Die niederländische Übersetzung Naar het eind van de wereld, die 1963 erfolgte, stieß auf große Beachtung.

Nach Arbeiten als Librettistin (Boulevard Solitude, Musik: Hans Werner Henze, UA 1952) und Die Witwe von Ephesus (Musik: Wolfgang Fortner, UA 1952), schrieb Weil den (unveröffentlichten) Roman Antigone. Daneben verfasste sie auch Theaterrezensionen, einige Essays und Übersetzungen englisch-sprachiger Autoren. 1963 vollendete Grete Weil den Roman Tramhalte Beethovenstraat, in dem sie sich mit den Kriegs- und Nachkriegserfahrungen von Deutschen, jüdischen Deutschen und Niederländern auseinandersetzte. Während der Roman in den Niederlanden schnell auf großes Interesse stieß, war man in Deutschland erst ab den 1980er-Jahren fähig, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes 1970 setzte Grete Weil mit dem Roman Meine Schwester Antigone erneut der Zeit des besetzten Amsterdams und der dortigen Judenverfolgung ein Denkmal. Nach vielen Absagen, wurde er 1980 erstmals von einem Schweizer Verlag veröffentlicht. Tatsächlich war es dieser Roman, der in Deutschland zum literarischen Durchbruch der mittlerweile 74-jährigen Grete Weil führte: nicht nur als Chronistin der Besatzungszeit in den Niederlanden, sondern auch als auf Aussöhnung bedachte Betroffene und außergewöhnliche Schriftstellerin. Grete Weil wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. Tukan-Preis der Stadt München, Geschwister-Scholl-Preis, Bayerischer Verdienstorden, Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Im Mai 1999 starb sie in Grünwald bei München.

Grete Weil, 29.10.1980. Foto: Rues (Archiv Monacensia)

 


Spaziergang starten: Station 1 von 9 Stationen


 

Literaturspaziergang Grete Weil in München als PDF-Druckversion

 

Verfasst von: Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Exner, Lisbeth (1998): Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin Grete Weil. A1 Verlag, München.

Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. Verlag Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1998.

Grete Weils Roman Tramhalte Beethovenstraat in einer Neuausgabe: Endstation Tod. In: Die Zeit, 17. April 1992.