Im Gespräch mit Susan Kouguell über ihre Urgroßtante Therese Giehse
In ihrem Buch Erika und Therese (Piper Verlag, 2018) verarbeitet die Münchner Autorin Gunna Wendt die Schicksalsjahre zweier ungleicher Frauen zu einem Doppelporträt, das Tabus und Traumata einer Generation nicht ausspart: Erika Mann (1905-1969) und Therese Giehse (1889-1975), die sich Anfang der 1930er-Jahre kennenlernten. Fast hundert Jahre später treffen sich die Ururgroßnichte Therese Giehses, die US-amerikanische Drehbuchautorin und Regisseurin Susan Kouguell, und die Verfasserin des Buches, um über ihr persönliches Verhältnis zu der an den Münchner Kammerspielen gefeierten Schauspielerin zu sprechen.
*
GUNNA WENDT: Susan, wir haben uns durch mein Buch Erika und Therese kennengelernt. Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?
SUSAN KOUGUELL: Bei meiner ersten Recherche zu einem möglichen Dokumentar-Kurzfilmprojekt über Giehse bin ich zu meiner großen Freude online auf Ihr Buch gestoßen. Daraufhin habe ich Sie kontaktiert – und das war der Beginn unserer jahrelangen Korrespondenz.
WENDT: Zunächst war es eine Korrespondenz zwischen drei Menschen. Ihre Mutter war auch dabei. Sie ist letztes Jahr verstorben.
KOUGUELL: Genau, meine Mutter und ich standen sowohl gemeinsam als auch unabhängig voneinander mit Ihnen im Austausch. Es war schön, diese Erfahrung mit ihr zu teilen. Sie sprach fließend Deutsch. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis – wir waren nicht nur Mutter und Tochter, sondern auch gute Freundinnen. Zudem pflegte sie enge Freundschaften zu Menschen aller Altersgruppen und hat leidenschaftlich gerne gelesen. Sie liebte Biografien, darunter auch Ihre Werke, sowie Bücher über Kunst und Textilien.
WENDT: Hat Sie auch an Ihren Projekten mitgewirkt?
KOUGUELL: Sie hat meine Arbeit als Autorin und Filmemacherin mit großer Hingabe unterstützt. Genauso war es auch bei meiner Tochter Tatiana. Sie stand komplett hinter unseren Projekten.
WENDT: Hat Ihre Mutter Ihnen von Therese Giehse erzählt?
KOUGUELL: Ja, meine Mutter und ihre Eltern haben mir von Giehse erzählt. Meine Mutter hatte nie die Gelegenheit, sie persönlich kennenzulernen, aber sie hat Mitte der 1990er-Jahre die Feier zum 100. Geburtstag von Therese Giehse in Zürich besucht.
WENDT: Hat Therese Giehse – ihre Schauspielkarriere und ihre Emigrationsgeschichte – in Ihrer Familie eine Rolle gespielt?
KOUGUELL: Giehses Leben war für meine Familie eine große Inspiration. Vor allem die Tatsache, dass sie ins Exil geflohen ist, um ihr Überleben zu sichern, und dass sie immer für ihre künstlerischen und politischen Überzeugungen eingestanden ist, hat meiner Familie viel bedeutet.
Im Gegensatz zu Giehse konnten sich meine Mutter und ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs nicht in Sicherheit bringen. Nach ihrer Flucht aus Deutschland verbrachten sie den Rest des Krieges in den Niederlanden, wo sich meine Großmutter die meiste Zeit über verstecken musste.
Aber jetzt würde mich mal interessieren, was Sie dazu inspiriert hat, über Giehse zu schreiben. Hatten Sie von Anfang an vor, das Leben der beiden Frauen in Ihrem Buch miteinander zu verknüpfen?
WENDT: Therese Giehse ist eine der größten Schauspielerinnen aller Zeiten. Für viele ihrer Kolleginnen galt sie als Vorbild. Sie war zweifelsohne eine brillante Künstlerin. Bei der Recherche zu meiner Biografie über die bayerische Schauspielerin und Kabarettistin Liesl Karlstadt, die sowohl mit Erika Mann als auch mit Therese Giehse befreundet war, bin ich erstmals auf die Liebesbeziehung zwischen Erika und Therese gestoßen. Zwei wunderbare Frauen, und beide so unterschiedlich! Ich hatte bereits ein sehr erfolgreiches Buch über die Freundschaft zwischen der Malerin Paula Modersohn-Becker und der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff geschrieben. Als der Piper Verlag mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, ein weiteres Buch über die Freundschaft zweier bekannter Frauen zu schreiben, musste ich sofort an Erika und Therese denken.
Europareise. Empfang im Huguenin anlässlich Thomas Manns Rückkehr nach Europa, veranstaltet von Emil Oprecht. Am Tisch sitzend von links: Therese Giehse und Erika Mann. (c) ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Photopress / TMA_3163
KOUGUELL: Was hat Sie bei Ihrer Recherche über Giehse besonders überrascht?
WENDT: Ihr brennender Wunsch, Schauspielerin zu werden, obwohl sie nicht dem damaligen Schönheitsideal entsprach. Sie hat einmal gesagt: „Ich will nicht schön sein, ich will nur zum Theater.“ Damit hat sie ihre Lehrerinnen und Lehrer überzeugt – mit diesem unerschütterlichen Glauben an sich selbst.
KOUGUELL: Auf meiner Reise habe ich mich in den letzten Tagen mit einigen Menschen unterhalten, die kaum etwas über Giehse wussten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht, bevor Sie mit der Arbeit an Ihrem Buch angefangen haben oder nachdem es veröffentlicht wurde?
WENDT: Wie so viele Bühnenschauspielerinnen war auch Therese Giehse fast ausschließlich in der Theaterwelt bekannt. Das galt schon zu Lebzeiten dieser Künstlerinnen, aber erst recht nach ihrem Tod. Mit Film- und Fernsehstars verhält es sich ganz anders: Ihre Kunst wird für die Nachwelt festgehalten – im Gegensatz zu Darbietungen auf der Theaterbühne. Das Medium, in dem Sie arbeiten, ist Film. Wie kam es dazu, dass Sie Filmemacherin geworden sind?
KOUGUELL: Als Studentin auf dem Purchase College (wo ich mittlerweile selbst unterrichte) habe ich meine ersten eigenen Experimental-Kurzfilme gedreht. Seitdem habe ich in unterschiedlicher Funktion für Indie-Produktionsfirmen und Studios an diversen Filmprojekten mitgewirkt.
WENDT: Sie sind zurzeit auf Europareise. Gerade befinden wir uns gemeinsam in Zürich. Waren Sie auch in Locarno? Arbeiten Sie aktuell an bestimmten Projekten?
KOUGUELL: Ich war im Auftrag des Script Magazine, für das ich als Senior Contributing Editor tätig bin, auf dem Locarno Film Festival. Es war eine tolle Erfahrung, Interviews mit Filmschaffenden zu führen und dabei viele großartige Filme zu sehen.
Im Juni 2024 habe ich ein Video über eine Kunstinstallation meiner Mutter gedreht, die folgenden Namen trägt: MY FATHER’S WORDS: LET THE HOUSES BE THE WITNESSES. Die Installation, die aus 23 Ausstellungsstücken besteht, zeichnet die Reise meiner Mutter Kathi und ihrer Eltern durch Deutschland und die Niederlande im Zweiten Weltkrieg nach. Mein Video greift die Stelle aus Kathis Buch auf, an der ihr Vater in einem Brief den Überlebenskampf der Familie schildert; gleichzeitig sind die digitalisierten Originaldias ihrer Collagen hinter Glas und ihre freistehenden Holzskulpturen zu sehen. Ich habe das Video in liebevollem Andenken an meine Mutter (1932-2023) angefertigt, um ihre Installation zu dokumentieren und für die Nachwelt festzuhalten.
Im selben Monat wurde das Videomaterial digitalisiert, um ins Archiv des Mémorial de la Shoah in Paris aufgenommen zu werden. Als ich im Juli in Amsterdam war, habe ich mich mit Kuratorinnen und Kuratoren des Anne-Frank-Hauses und anderer Institutionen getroffen, die mich dabei unterstützen, das Video und die Arbeit meiner Mutter an Bildungsorganisationen zu vermitteln. Auch in Deutschland bin ich im Gespräch mit Organisationen aus Hechingen (wo meine Familie gelebt habt) und anderen Städten, die darüber nachdenken, das Video in ihre Archive aufzunehmen.
Darüber hinaus arbeite ich an weiteren Experimental-Kurzfilmen. Zuletzt wurde mein neuester Film LAMENT OF A CERTAIN AGE in das von Kerry Baldry kuratierte Programm One Minute Volume 12 aufgenommen, das in verschiedenen Städten des Vereinigten Königreichs sowie in Mailand gezeigt wird.
WENDT: Eine Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und Therese Giehse: Sie haben beide mit Louis Malle zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?
KOUGUELL: Als ich etwa zwölf Jahre alt war, habe ich mir mit meinen Eltern im Museum of Modern Arts in New York den Spielfilm Lacombe, Lucien angesehen, bei dem Louis Malle Regie geführt hat. Es war das erste Mal, dass wir Therese Giehse in einer Rolle erlebten. Der Film war für mich ein Wendepunkt. Giehse spielt darin eine jüdische Großmutter, die mich stark an meine eigene Großmutter erinnerte, und in der Handlung sah ich die Überlebensgeschichte meiner Familie widergespiegelt. Der Film beeindruckte mich nachhaltig und weckte in mir den Wunsch, selbst in die Filmbranche einzusteigen.
Einige Jahre später drehte ich tatsächlich meine ersten Kurzfilme, und während ich bei Paramount Pictures in New York arbeitete, fand dort eine Vorführung von Louis Malles Dokumentarfilm Gottes eigenes Land statt, bei der Malle selbst anwesend war. Ich war furchtbar schüchtern und musste mich ziemlich überwinden, ihn anzusprechen. Ich stellte mich als die Urgroßnichte von Therese Giehse vor und bedankte mich bei ihm für Lacombe, Lucien, der mich so stark geprägt hatte. Er gab mir freundlich die Hand und ging weiter. Einen Moment später kam er zurückgelaufen. Er sagte, er habe nicht gewusst, dass Giehse Verwandte in New York hatte, und er erkundigte sich, ob auch ich Schauspielerin sei (nein, ich hatte nie Schauspielambitionen) oder eigene Filme drehe. Ich sagte zögerlich Ja. Ein paar Wochen später trafen wir uns auf einen Kaffee und er bot mir einen Job an: Ich arbeitete zunächst zwei Wochen lang an seinem neuen Dokumentarfilm … und das Streben nach Glück, was schließlich dazu führte, dass ich das komplette Projekt von Anfang bis Ende begleitete – und gleichzeitig entstand eine lebenslange Freundschaft.
WENDT: Plant die Filmemacherin Susan Kouguell, sich intensiver mit der Schauspielerin Therese Giehse zu beschäftigen? Wird es einen Film geben?
KOUGUELL: Ja! Neben der freudigen Tatsache, dass wir beide, Sie und ich, uns nun endlich einmal persönlich begegnet sind und weiterhin per E-Mail im Austausch stehen, habe ich mich kürzlich in Amsterdam mit Viktoria Lewowsky getroffen. In Koproduktion mit dem Jüdischen Museum München hat Viktoria gemeinsam mit Tatjana Schoeler den Podcast Therese Giehse und Wir moderiert. (2022 hat sie meine Mutter und mich dafür per Zoom interviewt.) Ich möchte meine Recherche gern fortsetzen und hoffe, dass ich genug Mittel zur Umsetzung eines Kurzfilms zusammentragen kann.
Übersetzung: Niklas Wagner
Im Gespräch mit Susan Kouguell über ihre Urgroßtante Therese Giehse>
In ihrem Buch Erika und Therese (Piper Verlag, 2018) verarbeitet die Münchner Autorin Gunna Wendt die Schicksalsjahre zweier ungleicher Frauen zu einem Doppelporträt, das Tabus und Traumata einer Generation nicht ausspart: Erika Mann (1905-1969) und Therese Giehse (1889-1975), die sich Anfang der 1930er-Jahre kennenlernten. Fast hundert Jahre später treffen sich die Ururgroßnichte Therese Giehses, die US-amerikanische Drehbuchautorin und Regisseurin Susan Kouguell, und die Verfasserin des Buches, um über ihr persönliches Verhältnis zu der an den Münchner Kammerspielen gefeierten Schauspielerin zu sprechen.
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GUNNA WENDT: Susan, wir haben uns durch mein Buch Erika und Therese kennengelernt. Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?
SUSAN KOUGUELL: Bei meiner ersten Recherche zu einem möglichen Dokumentar-Kurzfilmprojekt über Giehse bin ich zu meiner großen Freude online auf Ihr Buch gestoßen. Daraufhin habe ich Sie kontaktiert – und das war der Beginn unserer jahrelangen Korrespondenz.
WENDT: Zunächst war es eine Korrespondenz zwischen drei Menschen. Ihre Mutter war auch dabei. Sie ist letztes Jahr verstorben.
KOUGUELL: Genau, meine Mutter und ich standen sowohl gemeinsam als auch unabhängig voneinander mit Ihnen im Austausch. Es war schön, diese Erfahrung mit ihr zu teilen. Sie sprach fließend Deutsch. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis – wir waren nicht nur Mutter und Tochter, sondern auch gute Freundinnen. Zudem pflegte sie enge Freundschaften zu Menschen aller Altersgruppen und hat leidenschaftlich gerne gelesen. Sie liebte Biografien, darunter auch Ihre Werke, sowie Bücher über Kunst und Textilien.
WENDT: Hat Sie auch an Ihren Projekten mitgewirkt?
KOUGUELL: Sie hat meine Arbeit als Autorin und Filmemacherin mit großer Hingabe unterstützt. Genauso war es auch bei meiner Tochter Tatiana. Sie stand komplett hinter unseren Projekten.
WENDT: Hat Ihre Mutter Ihnen von Therese Giehse erzählt?
KOUGUELL: Ja, meine Mutter und ihre Eltern haben mir von Giehse erzählt. Meine Mutter hatte nie die Gelegenheit, sie persönlich kennenzulernen, aber sie hat Mitte der 1990er-Jahre die Feier zum 100. Geburtstag von Therese Giehse in Zürich besucht.
WENDT: Hat Therese Giehse – ihre Schauspielkarriere und ihre Emigrationsgeschichte – in Ihrer Familie eine Rolle gespielt?
KOUGUELL: Giehses Leben war für meine Familie eine große Inspiration. Vor allem die Tatsache, dass sie ins Exil geflohen ist, um ihr Überleben zu sichern, und dass sie immer für ihre künstlerischen und politischen Überzeugungen eingestanden ist, hat meiner Familie viel bedeutet.
Im Gegensatz zu Giehse konnten sich meine Mutter und ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs nicht in Sicherheit bringen. Nach ihrer Flucht aus Deutschland verbrachten sie den Rest des Krieges in den Niederlanden, wo sich meine Großmutter die meiste Zeit über verstecken musste.
Aber jetzt würde mich mal interessieren, was Sie dazu inspiriert hat, über Giehse zu schreiben. Hatten Sie von Anfang an vor, das Leben der beiden Frauen in Ihrem Buch miteinander zu verknüpfen?
WENDT: Therese Giehse ist eine der größten Schauspielerinnen aller Zeiten. Für viele ihrer Kolleginnen galt sie als Vorbild. Sie war zweifelsohne eine brillante Künstlerin. Bei der Recherche zu meiner Biografie über die bayerische Schauspielerin und Kabarettistin Liesl Karlstadt, die sowohl mit Erika Mann als auch mit Therese Giehse befreundet war, bin ich erstmals auf die Liebesbeziehung zwischen Erika und Therese gestoßen. Zwei wunderbare Frauen, und beide so unterschiedlich! Ich hatte bereits ein sehr erfolgreiches Buch über die Freundschaft zwischen der Malerin Paula Modersohn-Becker und der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff geschrieben. Als der Piper Verlag mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, ein weiteres Buch über die Freundschaft zweier bekannter Frauen zu schreiben, musste ich sofort an Erika und Therese denken.
Europareise. Empfang im Huguenin anlässlich Thomas Manns Rückkehr nach Europa, veranstaltet von Emil Oprecht. Am Tisch sitzend von links: Therese Giehse und Erika Mann. (c) ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Photopress / TMA_3163
KOUGUELL: Was hat Sie bei Ihrer Recherche über Giehse besonders überrascht?
WENDT: Ihr brennender Wunsch, Schauspielerin zu werden, obwohl sie nicht dem damaligen Schönheitsideal entsprach. Sie hat einmal gesagt: „Ich will nicht schön sein, ich will nur zum Theater.“ Damit hat sie ihre Lehrerinnen und Lehrer überzeugt – mit diesem unerschütterlichen Glauben an sich selbst.
KOUGUELL: Auf meiner Reise habe ich mich in den letzten Tagen mit einigen Menschen unterhalten, die kaum etwas über Giehse wussten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht, bevor Sie mit der Arbeit an Ihrem Buch angefangen haben oder nachdem es veröffentlicht wurde?
WENDT: Wie so viele Bühnenschauspielerinnen war auch Therese Giehse fast ausschließlich in der Theaterwelt bekannt. Das galt schon zu Lebzeiten dieser Künstlerinnen, aber erst recht nach ihrem Tod. Mit Film- und Fernsehstars verhält es sich ganz anders: Ihre Kunst wird für die Nachwelt festgehalten – im Gegensatz zu Darbietungen auf der Theaterbühne. Das Medium, in dem Sie arbeiten, ist Film. Wie kam es dazu, dass Sie Filmemacherin geworden sind?
KOUGUELL: Als Studentin auf dem Purchase College (wo ich mittlerweile selbst unterrichte) habe ich meine ersten eigenen Experimental-Kurzfilme gedreht. Seitdem habe ich in unterschiedlicher Funktion für Indie-Produktionsfirmen und Studios an diversen Filmprojekten mitgewirkt.
WENDT: Sie sind zurzeit auf Europareise. Gerade befinden wir uns gemeinsam in Zürich. Waren Sie auch in Locarno? Arbeiten Sie aktuell an bestimmten Projekten?
KOUGUELL: Ich war im Auftrag des Script Magazine, für das ich als Senior Contributing Editor tätig bin, auf dem Locarno Film Festival. Es war eine tolle Erfahrung, Interviews mit Filmschaffenden zu führen und dabei viele großartige Filme zu sehen.
Im Juni 2024 habe ich ein Video über eine Kunstinstallation meiner Mutter gedreht, die folgenden Namen trägt: MY FATHER’S WORDS: LET THE HOUSES BE THE WITNESSES. Die Installation, die aus 23 Ausstellungsstücken besteht, zeichnet die Reise meiner Mutter Kathi und ihrer Eltern durch Deutschland und die Niederlande im Zweiten Weltkrieg nach. Mein Video greift die Stelle aus Kathis Buch auf, an der ihr Vater in einem Brief den Überlebenskampf der Familie schildert; gleichzeitig sind die digitalisierten Originaldias ihrer Collagen hinter Glas und ihre freistehenden Holzskulpturen zu sehen. Ich habe das Video in liebevollem Andenken an meine Mutter (1932-2023) angefertigt, um ihre Installation zu dokumentieren und für die Nachwelt festzuhalten.
Im selben Monat wurde das Videomaterial digitalisiert, um ins Archiv des Mémorial de la Shoah in Paris aufgenommen zu werden. Als ich im Juli in Amsterdam war, habe ich mich mit Kuratorinnen und Kuratoren des Anne-Frank-Hauses und anderer Institutionen getroffen, die mich dabei unterstützen, das Video und die Arbeit meiner Mutter an Bildungsorganisationen zu vermitteln. Auch in Deutschland bin ich im Gespräch mit Organisationen aus Hechingen (wo meine Familie gelebt habt) und anderen Städten, die darüber nachdenken, das Video in ihre Archive aufzunehmen.
Darüber hinaus arbeite ich an weiteren Experimental-Kurzfilmen. Zuletzt wurde mein neuester Film LAMENT OF A CERTAIN AGE in das von Kerry Baldry kuratierte Programm One Minute Volume 12 aufgenommen, das in verschiedenen Städten des Vereinigten Königreichs sowie in Mailand gezeigt wird.
WENDT: Eine Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und Therese Giehse: Sie haben beide mit Louis Malle zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?
KOUGUELL: Als ich etwa zwölf Jahre alt war, habe ich mir mit meinen Eltern im Museum of Modern Arts in New York den Spielfilm Lacombe, Lucien angesehen, bei dem Louis Malle Regie geführt hat. Es war das erste Mal, dass wir Therese Giehse in einer Rolle erlebten. Der Film war für mich ein Wendepunkt. Giehse spielt darin eine jüdische Großmutter, die mich stark an meine eigene Großmutter erinnerte, und in der Handlung sah ich die Überlebensgeschichte meiner Familie widergespiegelt. Der Film beeindruckte mich nachhaltig und weckte in mir den Wunsch, selbst in die Filmbranche einzusteigen.
Einige Jahre später drehte ich tatsächlich meine ersten Kurzfilme, und während ich bei Paramount Pictures in New York arbeitete, fand dort eine Vorführung von Louis Malles Dokumentarfilm Gottes eigenes Land statt, bei der Malle selbst anwesend war. Ich war furchtbar schüchtern und musste mich ziemlich überwinden, ihn anzusprechen. Ich stellte mich als die Urgroßnichte von Therese Giehse vor und bedankte mich bei ihm für Lacombe, Lucien, der mich so stark geprägt hatte. Er gab mir freundlich die Hand und ging weiter. Einen Moment später kam er zurückgelaufen. Er sagte, er habe nicht gewusst, dass Giehse Verwandte in New York hatte, und er erkundigte sich, ob auch ich Schauspielerin sei (nein, ich hatte nie Schauspielambitionen) oder eigene Filme drehe. Ich sagte zögerlich Ja. Ein paar Wochen später trafen wir uns auf einen Kaffee und er bot mir einen Job an: Ich arbeitete zunächst zwei Wochen lang an seinem neuen Dokumentarfilm … und das Streben nach Glück, was schließlich dazu führte, dass ich das komplette Projekt von Anfang bis Ende begleitete – und gleichzeitig entstand eine lebenslange Freundschaft.
WENDT: Plant die Filmemacherin Susan Kouguell, sich intensiver mit der Schauspielerin Therese Giehse zu beschäftigen? Wird es einen Film geben?
KOUGUELL: Ja! Neben der freudigen Tatsache, dass wir beide, Sie und ich, uns nun endlich einmal persönlich begegnet sind und weiterhin per E-Mail im Austausch stehen, habe ich mich kürzlich in Amsterdam mit Viktoria Lewowsky getroffen. In Koproduktion mit dem Jüdischen Museum München hat Viktoria gemeinsam mit Tatjana Schoeler den Podcast Therese Giehse und Wir moderiert. (2022 hat sie meine Mutter und mich dafür per Zoom interviewt.) Ich möchte meine Recherche gern fortsetzen und hoffe, dass ich genug Mittel zur Umsetzung eines Kurzfilms zusammentragen kann.
Übersetzung: Niklas Wagner