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29.02.2024, 13:01 Uhr
Nicola Bardola
Gespräche

Interview mit dem diesjährigen Alfred-Kerr-Preisträger Wolfgang Matz

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Wolfgang Matz. Foto: Nicola Bardola

Wolfgang Matz lebt und arbeitet als Kritiker, Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer, Herausgeber und Lektor in München. Seit 2021 ist er Direktor der Literarischen Abteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Vor ein paar Tagen wurde Wolfgang Matz mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2024 ausgezeichnet. Der Münchner Autor Nicola Bardola hat ein Interview mit ihm geführt, das wir mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken.

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NICOLA BARDOLA: Sie arbeiten heute als Autor, Herausgeber, Übersetzer und Literaturkritiker. Welchen Stellenwert nimmt die Literaturkritik ein?

WOLFGANG MATZ: Unter den Tätigkeiten, die ich in der Literatur ausgeübt habe, war Literaturkritik die erste. Seit 1986 schrieb ich regelmäßig für die Frankfurter Rundschau. Wolfram Schütte war ein herausragender Redakteur, von dem man viel lernen konnte.

BARDOLA: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Artikel?

MATZ: Ich hatte Wolfram Schütte einen Artikel über Werner Kraft angeboten, den in Jerusalem lebenden Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Freund von Walter Benjamin. Schütte war einverstanden. Ich hatte einen sehr langen Text geschrieben, damals noch auf Schreibmaschine, etwa zehn Blätter. Schütte brachte fast den ganzen Text als Frontpage für die Frühjahrsliteraturbeilage – eine komplette Seite mit einem kleinen Foto in der Mitte. So etwas Schönes würde heute kein Mensch mehr machen. Man nennt das jetzt eine Bleiwüste.

BARDOLA: Sie rezensierten danach noch viele Bücher für die Frankfurter Rundschau.

MATZ: Ja, ich schrieb von Frankreich aus weiter. Als Literaturkritiker habe ich immer freiberuflich gearbeitet. Die Hauptberufe waren zuerst als Dozent an der Universität in Poitiers in Frankreich von 1987 bis 1995, dann beim Hanser Verlag als Lektor von 1995 bis 2020. Seither bin ich vollkommen frei.

BARDOLA: Und weiterhin als Literaturkritiker, Übersetzer, Autor und Herausgeber tätig – wie bringen Sie das alles unter einen Hut?

MATZ: Heute habe ich es leicht, weil ich kein Lektor mehr bin. Als Freier teile ich mir das ein. Das Hauptgeschäft während der Arbeit an einem neuen Buch ist das des Autors, oder auch des Übersetzers. Rezensionen, die vom Format her kleiner sind, kommen dazwischen. Im Wesentlichen bespreche ich nur Bücher, die ich selber lesen möchte, heute hauptsächlich für die FAZ. Das kann dann natürlich im Zweifelsfall trotzdem eine Enttäuschung sein. Und ich tue der Zeitung natürlich auch gerne einen Gefallen, wenn etwas Besonderes gebraucht wird.

BARDOLA: Führen Enttäuschungen manchmal zu Verrissen?

MATZ: Verrisse machen mir keinen Spaß. Wenn ein Buch im symptomatischen Sinne schlecht ist, also beispielsweise eine Kitsch-Biografie, die in seriösem Zusammenhang erschienen ist über einen bedeutenden Schriftsteller – das wäre gar nichts für mich. Es springt einfach nicht viel dabei heraus und wäre relativ aufwändig. Wenn möglich, ignoriere ich solche Publikationen.

BARDOLA: Gilt nicht allgemein, dass das Loben schwieriger ist als die negative Kritik?

MATZ: Neulich habe ich mich mit etwas Umfangreichem beschäftigt und war wirklich enttäuscht. Ich hätte in meiner Rezension draufhauen können und hätte auch genügend Textbeispiele anführen können. Aber wenn jemand ernsthaft fünfhundert Seiten geschrieben hat, dann als Rezensent in einem Schwung zu sagen, das sei alles einfach nur schlecht, das geht nicht. Und die Besprechung so zu gestalten, dass alle kritischen Punkte zur Sprache kommen, zugleich aber das Positive dieser fünfhundert Seiten präsentiert wird, das dann auch viel mehr in der Darstellung des Textes liegt, ist deutlich schwieriger als durchgängiger Tadel oder Lob. Ambivalenz zu beschreiben ist deutlich ambivalenter.

BARDOLA: In Ihrer Zeit als Lektor gab es wahrscheinlich nur wenige Verrisse der Bücher, die Sie betreut haben.

MATZ: Oh, doch.

BARDOLA: Wie war das damals, auf der anderen Seite des Schreibtischs?

MATZ: Erstens wusste ich natürlich, dass nicht jedes Buch, das ich betreue, zwangsläufig herausragend ist. Beim Lesen einer schlechten oder ambivalenten Kritik wusste ich sehr wohl zu unterscheiden, ob da Punkte genannt sind, die berechtigt oder zumindest nachvollziehbar sind. Und es gab ja auch den umgekehrten Fall: Ich wusste vorab, dass ein Buch Mängel hat, und plötzlich schreiben die Leute, das sei ein Meisterwerk. Das ist etwas grob gesagt, aber bei einem größeren Verlag mit vielen Autoren besteht das Programm nicht nur aus einem andauernden Begeisterungstaumel.

BARDOLA: Wie reagierte Lektor Matz, wenn ein Literaturkritiker ein von ihm betreutes Buch offenbar nicht verstanden hatte?

MATZ: Es kann sein, dass ein Buch eine bewusste Ambivalenz hat, also eine Problematik, die ein anderer Leser anders sehen kann. Bei einem Roman beispielsweise mit einem explizit politischen Anspruch, können Leser natürlich kritisch reagieren, wenn sie die politische Sicht nicht teilen. Wenn ich aber nicht einverstanden war mit der kritischen Argumentation einem guten Roman gegenüber, habe ich manchmal den Rezensenten geschrieben. Das hat meine Beliebtheit nicht gesteigert.

BARDOLA: Nennen Sie bitte ein Beispiel.

MATZ: Ich erinnere mich an die Kritik eines bekannten Rezensenten an einem Debütanten. Der Kritiker hat ihn furchtbar runtergemacht. Ich kannte den Kritiker aus meiner Zeit vor Hanser und habe ihm geschrieben und gefragt, warum er das mit dieser Heftigkeit getan hatte – gegen einen eigensinnigen, etwas verschrobenen jungen Autor, der nicht schreibt wie Kehlmann oder Martin Walser. Da fährt also der Kritiker über diesen Anfänger hin, als ob man den plattmachen müsste. Warum? Ein anderer Fall: Ein Rezensent meinte, was die bekannte Autorin veröffentlicht hatte, sei wie aus der Schreibschule. Dem Kritiker habe ich ausführlich geschrieben und das auch der Autorin zum Lesen gegeben. Etwas später leitete sie mir eine Mail einer anderen Autorin weiter, die schrieb, „so einen Lektor möchte ich auch mal haben“.

BARDOLA: Erinnern Sie sich an einen konkreten Irrtum eines Kritikers?

MATZ: Es gibt so viel Unfug: Jemand geißelte einmal einen Roman als Kitsch. Als Beispiel zitierte er einen wunderbar verliebten Blick mit langen Wimpern und dunklen Augen. Ich schrieb dem Rezensenten, er wisse ja wohl, dass dies eine ironische Passage ist und die Augen einem Pferd gehören.

BARDOLA: Haben sich Ihre Besprechungen heute – nach den Erfahrungen als Lektor – verändert? Schrieben Sie Ihre Kritiken in den 1980er-Jahren anders?

MATZ: Ich müsste die Besprechungen von früher noch einmal lesen. Grundsätzlich gilt: Einerseits sollte man sich als Literaturkritiker darüber im Klaren sein, dass man sich mit der Arbeit von jemandem beschäftigt, der zumindest eine Menge Zeit und Mühe in sein Werk reingesteckt hat. Man sollte also nicht tricksen, nicht falschspielen als Kritiker. Wenn man nicht einverstanden ist mit einem Buch, sollte man sich fragen, ob es manchmal eher daran liegt, dass man selber nicht auf einer Wellenlänge mit dem Autor ist. Das passiert mir auch, dass ich feststelle, der Autor kann was, der will was, aber ich kann nicht viel damit anfangen. Dann sollte man das Buch auch nicht rezensieren. Die Frage ist doch: Schreibst du als Kritiker das mit Überzeugung? Bist du wirklich dieser Meinung? Oder schreibst du einer Pointe zuliebe? Andererseits habe ich durch 25 Jahre Erfahrung im Verlag, in denen ich fast nur deutschsprachige Autoren betreut habe, einiges davon mitbekommen, wie Autoren arbeiten, wie ein Buch gedacht wird und wie es entsteht. Dadurch kommt mir das, was ich dann manchmal heute lese, was über Bücher so geschrieben wird, sehr naiv vor. Das betrifft allerdings öfter die Literaturwissenschaft als die Literaturkritik. Was manche Literaturwissenschaftler in die Bücher hineininterpretieren, so denkt kein Autor.

BARDOLA: Ihre Erfahrung als Lektor hat Sie als Kritiker verändert.

MATZ: Als Lektor bin ich es gewöhnt, sehr dicht am Text zu bleiben. Ich wundere mich manchmal, mit welchem Irrwitz Bücher sehr gut besprochen werden. Wenn ich dann selber zehn Seiten lese, denke ich, dass da schon zu Beginn unmögliche Sätze drinstehen. Ich bin es eben gewohnt, unmittelbar Satz für Satz auf einen Text zu reagieren. Wie ein Buch handwerklich geschrieben ist, spielt für mich vielleicht eine größere Rolle als für andere.

BARDOLA: Sind Sie durch die Erfahrungen als Lektor bei der Beurteilung der Bücher strenger geworden?

MATZ: Strenger würde ich nicht sagen, aber die Kriterien sind präziser geworden. Was mich beim Lesen von Buchkritiken stört, sind Inhaltszusammenfassungen. Wenn mir damals ein Autor sagte, das nächste, was ich schreibe, ist ein Eheroman, dann hat mich das wenig interessiert. ‚Schreib mal, dann werden wir ja sehen‘, war meine Reaktion.

BARDOLA: Die Süddeutsche Zeitung nannte Sie einen „brillanten komparatistischen Querläufer“.

MATZ: Sehr freundlich. Ich glaube, ich habe damals gelacht. Natürlich hat mir das gefallen. „Brillant“ gefällt einem ohnehin. „Komparatistisch“ meint meine Beschäftigung mit Literatur aus Frankreich, Italien und Deutschland. Und „Querläufer“ hängt wohl damit zusammen, dass ich als Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker angefangen habe und mit der Biografie, die sich dann daraus ergeben hat: Übersetzer, Autor, Herausgeber, Lektor. 

BARDOLA: Sie haben während Ihrer Zeit bei Hanser gesagt, „der ideale Autor braucht keinen Lektor“. Braucht der ideale Autor einen Kritiker?

MATZ: Ja, den braucht er. Das mit dem Lektor war natürlich etwas übertrieben. Aber Goethes Wahlverwandtschaften haben keinen Lektor gesehen. Die Literatur braucht den Kritiker, weil Literatur als veröffentlichte Literatur immer eine Form des Dialogs ist. Genauso wie das Buch einen Leser braucht, braucht es auch einen Kritiker, der auf das Buch antwortet, es deutet, und der in bestimmten Fällen vielleicht auch noch etwas anderes entdeckt als der Autor. Literatur besteht ja nicht darin, dass Bücher entstehen, dann sind sie da und die Welt dreht sich weiter. Sie besteht darin, dass ein Dialog von Vielen entsteht aus Fragen, Antworten, Entwicklungen und Reaktionen. Hier ist die Literaturkritik ein eminent wichtiges Instrument.

BARDOLA: Würde Ihnen an dieser Stelle ein sehr selbstsicherer Autor vielleicht widersprechen?

MATZ: Manche Autoren sagen, dass sie die Besprechungen ihrer Bücher nicht lesen, ich kenne aber keinen. Der Autor braucht die Kritik also nicht unbedingt, aber die Bücher brauchen sie. Die Literatur braucht die Literaturkritik. Würde sie verschwinden und in TikToks auswandern, würde auch mit der Literatur etwas passieren. Und es passiert ja schon jetzt.

BARDOLA: Im Jahr 2007 sagten Sie: „Ein Problem ist, dass die Literaturkritik gerade die anspruchsvollen Literaturgattungen im Stich lässt. Essaybände und Gedichtbände, die ein sehr kleines Publikum haben, werden immer seltener rezensiert. Die Kritik entwickelt sich in Richtung Monokultur.“

MATZ: Natürlich gibt es immer noch Zeitungen mit Literaturseiten. Aber die Plätze für Literaturkritik sind sehr viel weniger geworden. Was rezensiert wird, liegt mehr an den Redakteuren als an den freien Kritikern. Ein guter Redakteur weiß aber, wo die Schwerpunkte seiner freien Autoren liegen und macht entsprechende Vorschläge. Manchmal frage ich dann auch, ‚haben Sie das oder das übersehen?‘

BARDOLA: Sie haben gesagt: „Der Lektor ist im Hintergrund, und da gehört er hin.“ Wie ist das mit dem Kritiker?

MATZ: Der Kritiker ist im Vergleich zum Autor auch im Hintergrund. Aber der Lektor ist noch viel weiter im Hintergrund, weil ihn ja normalerweise gar niemand zu Gesicht bekommt. Das hat mich nie gestört als Lektor. Bei den Kollegen, die das gestört hat, habe ich gedacht: ‚Dann müssen die halt einen anderen Beruf ergreifen.‘ Der Kritiker dagegen erscheint mit Namen in der Zeitung. Aber er sollte sich natürlich immer darüber im Klaren sein, dass er von der Existenz der Bücher abhängt. Wenn es die nicht gäbe, hätte er keinen Beruf mehr.

BARDOLA: „Ein guter Lektor stülpt einem Autor nicht seine Ideen über. Er versetzt sich so sehr hinein in die Haut des Autors, dass er ihn an seinen eigenen – denen des Autors – Ansprüchen, Ideen, Kriterien misst“, sagten Sie als Lektor. Was macht ein guter Kritiker?

MATZ: Was ich nicht alles gesagt habe. In dem Fall würde ich meinen, macht ein guter Kritiker zunächst einmal dasselbe. Es gab aber auch im Verlag immer einmal Texte, mit denen ich nichts anfangen konnte. Dann bin ich kein guter Lektor dafür. Etwas, das mir fremd ist, wird auch von mir als Lektor nicht profitieren. So kann ich das Zitat auch auf den Kritiker anwenden.

BARDOLA: Erläutern Sie das bitte.

MATZ: Nach der Lektüre einer Rezension habe ich einmal dem Kritiker gesagt: ‚Sie wollten einfach, dass der Autor ein anderes Buch schreibt. Was Sie in Ihrer Besprechung geschrieben haben, ist alles schön und gut, hat aber wenig mit dem Buch zu tun‘. Etwas Ähnliches ist mir einmal auch als Autor passiert. Mein Buch hatte drei Teile und die Rezensentin schrieb, den dritten Teil habe sie gar nicht gelesen, weil er mit dem Thema des Buches nichts zu tun habe. Nein, das muss die Kritikerin schon mir überlassen, ob der dritte Teil mit dem Thema des Buches etwas zu tun hat oder nicht. Das heißt: Ich muss mich als Kritiker zunächst einmal darauf einlassen, was der Autor sich vorgenommen hat und was er will. Als Kritiker müsste ich dann schon sehr gute Gründe haben, sollte ich ihm das vorhalten. In der Regel muss ich mich darauf einlassen, was der Autor macht, was er vorhat und dann kann ich ihn daran messen. 

BARDOLA: Sie kennen alle Seiten. Sie als Autor werden sowohl lektoriert als auch im Feuilleton kritisiert.

MATZ: Natürlich wollen Autoren gut rezensiert werden. Die besseren Autoren wollen aber eines noch mehr: Sie wollen verstanden werden. Das ist auch mir passiert, dass ich für Sachen gelobt werde, die ich so nicht gemeint und nicht geschrieben hatte. Es gibt lobende Rezensionen, die so flach sind, dass man sie als Autor nur noch überfliegt. Und es gibt auch den Fall, dass eine eher negative und sehr kritische Rezension für den Autor interessanter und auch ehrenvoller ist als ein vollkommen plattes Lob. Es gibt ja interessante Arten, sich mit Texten auseinanderzusetzen, auch wenn sie kritische Akzente haben.

BARDOLA: Sie haben gesagt: „Schriftsteller sind so empfindlich, weil sie nicht irgendein Produkt in die Welt setzen, sondern sich ganz und gar selbst in ihr Werk begeben. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Kritik an einem Werk und Kritik an einem Menschen.“ Sie wurden vorsichtiger mit Ihrer Kritik aus der Perspektive des Lektors. Wie ist das heute aus der Perspektive des Kritikers?

MATZ: Man muss die Worte wägen und sich darüber im Klaren sein, dass man eventuell dem Autor damit sehr nahe tritt. Deshalb muss man wissen, ob die Anmerkungen gerechtfertigt und notwendig sind. Aus Rücksicht auf die Psyche des Verfassers kann ich aber nicht meine Meinung zurückhalten. Ich sollte mir tatsächlich Mühe geben, auch die Kritik so in den ganzen Text einzupassen, dass es dem entspricht, was ich wirklich denke. Oft liest man ja Besprechungen, die voll des Lobes sind, dann kommt am Ende noch ein Absatz, in dem ganz kurz von Fehlern die Rede ist, und damit schließt das Ganze. Meiner Ansicht nach ist das nicht sinnvoll. Entweder meint man, die Fehlerhaftigkeit – gerade bei einem Sachbuch – gehöre essentiell dazu und sei ein Charakteristikum des zu besprechenden Textes. Sprich: Der Autor schlampt. Dann muss ich das sagen. Wenn ich aber in einer guten Biografie von achthundert Seiten nur sieben oder acht sachliche Fehler finde, dann ist das kein Grund, das in die Rezension zu schreiben. Ein derart materialreiches Buch, das nicht ein Dutzend Fehler enthält, muss erst noch erfunden werden.

BARDOLA: Also sollten die Fehler nicht genannt werden?

MATZ: Beim vorhergehenden Beispiel will der Rezensent mit einem Schlussschwenk noch schnell zeigen, dass er schlauer ist als der Autor. Das ist nicht in Ordnung. In meiner Zeit als Lektor hat einmal ein prominenter Kritiker in einer positiven Rezension geschrieben, das Buch enthalte aber auch eine Reihe von Fehlern. Auf meine Bitte, mir die Fehler für das Korrekturexemplar mitzuteilen, erwiderte er, er habe sich die Fehler nicht gemerkt. Die Übersetzerin könne ja – wenn sie es wirklich wissen wolle – mit dem Buch zu ihm nach Hamburg kommen. Dann könnten sie dem gemeinsam nachgehen. Das war natürlich eine Frechheit. Wenn ich als Kritiker, der ein Buch bespricht, darin Fehler finde, dann notiere ich sie auch. Und wenn ich sie in der Besprechung erwähne, dann begründe ich das. Es geht ja auch um die Leser der Rezension. Was sollen die damit anfangen, wenn zum Schluss noch steht, das Buch enthalte übrigens auch Fehler. Ist das Buch dann nicht vertrauenswürdig? Oder gibt es darin Tippfehler? Oder der Übersetzer beherrscht die Ausgangssprache nicht? Man muss die Fehler aufzeigen und erklären oder es bleiben lassen.

BARDOLA: Manchmal ist das im Blatt eine Platzfrage.

MATZ: Aber dann soll er es gleich lassen, statt zu schreiben, ‚das Buch enthält auch Fehler‘. Was soll ich als Leser damit anfangen? Beim Schreiben der Besprechung muss ich mir bewusst machen, ob ich das rechtfertigen kann oder nicht und ob es in der Ausprägung und Betonung dem Buch gerecht wird.

BARDOLA: Als Lektor haben Sie gesagt: „Ich bin ja nicht einfach ein objektiver Gradmesser für Qualität.“ Was würden Sie als Kritiker sagen?

MATZ: Auch nicht. Als Lektor wollte ich bestimmte Ideen vom Schreiben, von Literatur fördern und habe mein Programm entsprechend gestaltet. Als Kritiker versuche ich eigentlich das gleiche.