Hans Pleschinski im Gespräch über seinen Roman „Der Flakon“

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Buchcover © Verlag C.H. Beck

Im August 1756 überfällt Friedrich der Große ohne Kriegserklärung Sachsen. Vor der hochgerüsteten preußischen Armee flüchtet Friedrich August, Herrscher über Sachsen und Polen, zusammen mit seinem Premierminister Heinrich von Brühl, nach Warschau. Aber die Reichsgräfin von Brühl bleibt in Dresden und kapituliert nicht, während das Land geplündert wird. Sie schmiedet einen Plan. – In seinem 2023 erschienenen neuen Roman Der Flakon (C.H. Beck) erzählt der in München lebende Autor Hans Pleschinski von einem wenig bekannten Ereignis der deutschen Geschichte und von heimlichen Heldinnen. Dr. Laura Schütz und Dr. Kay Wolfinger (beide LMU München) haben den Autor für das Literaturportal Bayern interviewt.

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Der Roman Am Götterbaum wurde 2021 veröffentlicht, und knapp zwei Jahre später schon der jüngste Roman Der Flakon – wenn Du auf die Entstehungszeit dieses Buches zurückblickst: Wie ist es gelaufen?

Hans Pleschinski: Das Thema hat mich seit fünfzig Jahren beschäftigt. Als Jugendlicher mit sechzehn hatte ich schon einmal versucht, dieses Buch zu schreiben. Die Kräfte reichten damals nicht, aber das Thema hat mich durchgehend beschäftigt: Der Untergang des kulturellen Sachsens, was das alles bedeutet, auch für die deutsche Geschichte. Und ich habe immer wieder etwas dazu gelesen.

Das ist hobbymäßig auch mein Interesse gewesen: Sachsen, Polen, deutsche Geschichte. Sachsen war ein sehr bedeutender Faktor in der deutschen Geschichte, was heutzutage etwas vergessen ist. Als ich dann am Ende der Pandemie mehr Zeit hatte, habe ich intensiver gelesen, mir Literatur besorgt: Stadtgeschichte Leipzigs und Geschichten des Siebenjährigen Krieges. Ja, dann habe ich mich hingesetzt und den Roman begonnen, ohne zu wissen, wohin es genau laufen soll. Es gab das Thema des Attentats auf Friedrich den Großen sowie meinen Willen, den beiden Literaturstars Gellert und Gottsched in Leipzig meine Ehrerbietung zu erweisen. Und diese beiden Themen musste ich zusammenführen.

Ich habe geschrieben, und – wie immer bei mir – recherchiere ich parallel dann auch noch. Die Handlung des Romans führt mich auch dahin und dorthin, und dann muss ich sehen, was ich dazu finde oder ob ich eine Szene ausbauen will. Zum Beispiel über die Vertreibung der Prager Juden. Ich wusste am Anfang nicht, dass das vorkommen muss, vorkommen wird. Dann musste ich mich über diese Vertreibung der Prager Juden unter Maria Theresia informieren; über die Kleidung der Juden damals, damit man sie in dem Roman erkennen kann. Ja, das sind Zusatzrecherchen. Für das letzte Drittel des Romans, das in Leipzig spielt, war ein massives Studium der Werke von Gellert und Gottsched vonnöten, und das ist ein ganzes Gebirge!

Mich interessiert außerdem das Schreibverfahren: Wie funktioniert das bei Dir? Also der Text entsteht am PC? Sind Deine Aufzeichnungen handschriftlich? Arbeitest Du kontinuierlich den Tag durch und unterbrichst dann wieder für Recherchen? Kannst Du etwas konziser beschreiben, wie explizit dieser Roman entstand?

Also der handwerkliche Schreibvorgang – das ist einmal das Schreiben des Anfangs, der gibt die Tonalität eines Romans vor, die Tonart, die ich dann selbst erstmals überhaupt empfinde: Wie klingt die Geschichte? Und dann habe ich für den Anfang meistens schon genug Gedanken und Stoffe im Kopf und ich versuche, mindestens täglich einen Absatz oder eine Zeile zu schreiben – nulla dies sine linea – und manchmal, wenn es gut läuft oder zwingend ist, dann entstehen auch vier bis fünf Seiten. Hierbei habe ich recht präzise im Kopf, was da geschieht. Ich blättere auch fast nie zurück, sondern strebe gern voran. Es würde mich irre machen, wenn ich permanent schauen müsste, was stand da und was ist da – das habe ich eben weitgehend im Kopf. Personennamen ändere ich manchmal im Nachhinein, bis sie mir zu passen scheinen. Handschriftlich sind nur die Gedanken, die abends kommen, wenn ich nicht am Schreibtisch sitze. Oder wenn ich spazieren gehe, dann notiere ich etwas, aber ins iPhone unter Notizen mittlerweile, und schaue dann am nächsten Tag nach, ob ich es gebrauchen kann oder nicht.

Es gibt dann auch aus Erschöpfung Schreibpausen und Tage, ein oder zwei Tage höchstens, an denen ich vielleicht wirklich nur eine Zeile schreibe. Aber im Inneren geht der Schreibprozess natürlich weiter. Und es gibt Tage oder halbe Tage, an denen ich recherchiere, auch in der Bibliothek oder im Internet, wo ich doch sehr viel gefunden habe, auch sehr spezielle Fragestellungen, die dabei geklärt wurden, über Leibeigenschaft in Preußen und Nichtleibeigenschaft in Sachsen – das sind alles wichtige Details des Romans.

Ja, und für sehr knifflige Fragen habe ich einen Freund, der ist Reichshistoriker: Wolfgang Burgdorf – er tritt nun auch im Roman auf. Zum Beispiel gibt es eine winzige Stelle, in der Friedrich der Große Post von seinem Minister Finckenstein aus Berlin bekommt, und ich hatte geschrieben: „Es wurde dem König zum Gegenzeichnen ein Vertrag geschickt.“ Wolfgang Burgdorf erklärte: „Das ist ein No-Go! Ein König zeichnet nicht gegen. Der unterzeichnet als erster, die Minister unterzeichnen später.“ Das sind Details, die würde keiner merken wahrscheinlich. Aber ich bin sehr dankbar, wenn sie stimmen. Oder eine andere Stelle, bei der eine Freundin, die historisch sehr bewandert ist, half: Es ging um die Seidenstrümpfe damals – das „schimmernde Gewebe“ der Seidenstrümpfe. Und sie sagte: „Nein, das geht nicht. Seidenstrümpfe wurden nicht gewoben.“ Ich fragte: „Wie denn dann?“ – „Ja, die wurden gestrickt.“ – „Gestrickt?“ – „Ja, alle Frauen Flanderns saßen da und haben für Europa Seidenstrümpfe gestrickt, oder auch im Erzgebirge. Weil über die Jahrhunderte – bis ins 19. Jahrhundert – man nicht in der Lage war, Hacken zu weben.“ Das ahnte ich nicht und statt „schimmerndem Seidengewebe“ heißt es jetzt einfach „schimmernde Seide“.

Man weiß nie, manche Leser schauen dann doch nach und man möchte Fehler vermeiden – man kann nicht alle vermeiden – aber so gut es eben geht. Das ist Teil der Recherche.

Das ganze Figurenensemble – das sind ja eigentlich Ensemble-Romane. Ich weiß gar nicht wie man so etwas nennt, group novels im Sinne von…

Chorischer Roman.

Chorischer Roman! Das klingt natürlich am schönsten!

Ja, das habe ich ganz gern.

Da ist ja zum einen eine Szenerie, die sich sofort entfaltet – man denkt gleich an Verfilmbarkeiten – und gleichzeitig ist es auch interessant, wie diese einzelnen Figuren zueinander in Interaktion gesetzt werden. Du hattest gerade schon erwähnt, dass Burgdorf dann auch als Figur auftaucht. Das ist natürlich auch ein postmodernes Spiel, zu sagen, man nimmt reale Figuren und setzt fiktive dazu. Hast Du Dir das irgendwann einmal überlegt, dass solch ein Ensemble eine Welt eröffnet, eine Szenerie?

Ich glaube, ich habe manchmal eine Opernstruktur im Kopf, Einzelarien und Chorauftritte. Am deutlichsten ist es in meinem Roman Brabant, glaube ich: Die einzelnen Gesänge der Gestalten, und dann große Ensembleszenen. Ich will mich ja beim Schreiben selbst unterhalten und das soll nicht trist und eintönig geraten. Dafür ist die Mehrstimmigkeit dann gut. Ich habe auch gerne mindestens eine festliche Mahlzeit in einem Roman, wobei die Leute gelassener miteinander reden können.

Aber das Mahl dann gerne vor dem Abgrund.

Alles ist vor dem Abgrund. [Lachen.] Immer. Ich beschreibe Untergänge in meinen Romanen oder drohende Untergänge meistens. Und da werden viele Stimmen laut im Buch. Im Übrigen habe ich nicht alles in der Hand. Ich wusste, die erste Szene sollte auf der Festung Königstein spielen, und dann habe ich ein bisschen geschrieben, wie das Wetter war im Oktober 1756 auf der Festung. Ich wusste überhaupt noch nicht, wer da erscheinen wird. Es sollten der Kurfürst von Sachsen, zugleich König von Polen, und sein Premierminister auftreten, das wusste ich. Aber die kann ich ja nicht sofort auftauchen lassen. Solcher Auftritt muss ein Vorspiel haben – eine Ouvertüre. Und dabei weiß ich nicht, was oder wer da exakt kommen wird. Ich sitze dann vor dem weißen Blatt am Monitor sozusagen und schreibe: „Der Garnisonsoffizier trat neben seinen Kameraden und fragte…“ – und dann habe ich schon Leute. Das ist aber immer risikoreich: Wen habe ich da? Taugen sie? Welche Figur lohnt es, weiterzuführen? Aber es ist wichtig, dass immer eine Figur da ist, die etwas sieht und hört und nicht der Autor alles sieht und hört. Dann stürzt ein Roman zusammen, der Leser weiß nicht mehr, wer da alles weiß, und die Dynamik ist dahin.

Das ist dann eine interne Fokalisierung aus verschiedener Perspektive: Dass die Figuren dann wechseln und man immer aus deren Perspektive sieht.

Ja, das ist eine handwerkliche Sache, auch, dass es geschmeidig funktioniert. Der Lektor schreibt manchmal an den Rand: „Wer denkt das jetzt?“ oder „Wer sieht das?“ Ich entgegne dann: „Das ist doch egal.“ Doch er daraufhin: „Nein, man will wissen, wer wahrnimmt und was.“

Ja, und so entsteht ein Ensemble. Und das ist dann auf der Festung gleich auch ein ziemlich großes. Am Schluss, wo dieses musikalische, letzte Fest Sachsens gefeiert wird, da sind es schließlich Hunderte von Personen. Und bis dahin hatte ich es auch vermieden, die Hauptfigur einzuführen, weil ein so wichtiger Vorgang auch mit Furcht behaftet ist. Ich habe dann 30 bis 35 Seiten ohne die Hauptfigur, die Reichsgräfin von Brühl. Aber dann muss sie kommen. Und sie hat auch wieder ihr eigenes Präludium. Ja, und so füllen sich die Seiten mit Überlegungen und Instinkt.

Interessant ist bei dieser Ouvertüre ins Ensemblestück immer auch der erste Satz. Das ist bei Dir eine ganz eigene Poetik, die sich durch die verschiedenen Werke zieht. Der erste Satz reicht schon immer in die Szenerie. Mal ist es beispielsweise: „Der Wind frischte auf.“ – Und hier: „Kanonendonner verhallte im Tal.“

Ja, so ein Stakkato. Das habe ich das erste Mal bewusst erprobt, glaube ich, in dem Roman Wiesenstein oder auch schon im Thomas-Mann-Roman, um mich selbst in diese Dynamik zu versetzen. Diese Stakkato-Sätze: „Der Wind frischte auf“, „Die Regengüsse nahmen nicht ab“, „Kanonen donnerten“, und das dann untereinandergeschrieben, damit es zu einem Rhythmus kommt.

Beim Wiesenstein war es irgendwas mit einer Brücke, oder?

Die Mordgrundbrücke. Viele Kapitel beginnen stakkatohaft, ehe es dann zur Melodie wird. Und dann gibt es andere elegischere Kapitel mit Naturstimmung. Auch hierbei, beispielsweise auf der Kutschfahrt, stelle ich die winterliche Landschaft dar. Das darf durchaus romantisch klingen. Das Erzählen soll schließlich abwechslungsreich sein, da ich mich beim Schreiben auch – wie gesagt – selbst unterhalten möchte.

Das wurdest Du jetzt sehr oft gefragt, liegt aber natürlich nahe bei einem historischen Roman, ihn auch in gewisser Weise als Folie zu lesen für unsere heutige Zeit. Wobei auch immer im abnehmenden Glanz heutzutage in ähnlichen Problemkonstellationen und natürlich im Gefüge des Krieges, wie er hier thematisiert wird: Wie bewusst ist dieser Prozess beim Schreiben in dem Moment, wenn bestimmte Sätze sich formen? Da denkt man dann sofort an die aktuelle Situation, die aktuellen Kriege? Also als Beispielsatz: „Solange Alleinherrscher bestimmen“, sagt Marwitz, „sind wir von ihren Befindlichkeiten in ihrem Stolz und ihrem Eigensinn abhängig.“ Man denkt sofort an die Alleinherrscher der aktuellen Situation. Hast Du die auch vor Augen, wenn Du eine historische Figur in der Fiktion so sprechen lässt?

Nein, in diesem Fall nicht. Bei diesem Roman hatte ich nicht im Allergeringsten vor, unsere Gegenwart in irgendeiner Weise mitzuerzählen. Ich wollte diesen Roman in seiner Zeit schreiben. Ich habe ihn zwei Wochen vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine begonnen und zwei Wochen später geschah das, was ich im Roman mit Preußen und Sachsen beschrieben habe, dieser Überfall – das war Zufall. Dann zieht sich durch den Roman, ohne Absicht natürlich, das ewig gleiche menschliche Schicksal. Und der Freiheitsdrang von Menschen. Das kommt an einigen Stellen, in einigen Zitaten vor. Aber mir schwebte fast nie vor, gleichzeitig uns zu interpretieren. Wenn ich die Menschen damals interpretiere – nun, sie sind Menschen, das meint dann auch uns. Auch ohne Absicht.

Ganz am Schluss in Leipzig in Szenen mit Gottsched gibt es einige Verweise im Gespräch. Was geschieht mit Tyrannen, mit Sultanen und Zaren? Sie gehören beseitigt im Namen der Freiheit und der Menschlichkeit. Hier, bei den Zaren und Sultanen, habe ich an diese Regierungs-Gangster von heute gedacht, Erdogan und an Putin, diese mörderische Giftmade im Kreml.

Da würde sich natürlich auch die Frage stellen, ob Kunst und Kultur triumphieren können…

Das müssen sie! Aber das ist eine zeitlose Frage. Im Flakon geht es vorderhand um das Schicksal Sachsens und einiger Personen und die Frage, welche Weichenstellung die Geschehnisse für die deutsche Geschichte bedeuteten.

Du sprichst vom Freiheitsdrang Deiner Figuren. Es gibt in all Deinen Romanen unter Deinen Figuren immer auch queere Gestalten, die vom Normengefüge der Zeit abweichen. Das liest man auch mit Anklang an unsere heutige Zeit oder als Plädoyer für selbstbestimmte und freiheitliche Gestalten.

Gut so! Diese Gestalten sind die Farbe der Gesellschaft zu allen Zeiten, das Muntere, der Aufbruch, das Nicht-zu-Tode-Genormte. Sie erfrischen die Geschehnisse und das Leben. Zum Beispiel der Transvestit, der im Leipzig von 1757 in einem Eingang auftaucht als Madame de Pompadour, aber das mag es ja gegeben haben. Andere queere Gestalten haben existiert wie der Leutnant von der Marwitz. Ihn hat es gegeben, und er war mir willkommen, weil er eine andere Farbe in das Geschehnis brachte. Das Abweichende ist immer auch das Bereichernde.

Solche Leute in die Kulturgeschichte einzuschreiben ist auch eine Rekanonisierung.

Ja, dadurch werden sie rehabilitiert im Nachhinein. Der Leser erfährt, dass es zu jeder Zeit Ungewöhnliches, angenehm Exotisches gab. Das ist mir immer sehr wichtig. Das war auch in Königsallee, dem Roman über Thomas Mann, der Fall. Die einzige heteronormative Gestalt ist Katia Mann. Der Rest der Hauptfiguren war schwul oder lesbisch. Und das Buch ist ein riesiger Erfolg gewesen, Dutzende von Tausenden von Menschen haben somit diesen queeren Roman gelesen und, ich hoffe, genossen. Das freut mich, es sind, glaube ich, Bücher der Freiheit und der Zivilgesellschaft, die ich zu schreiben versuche.

Und diese kulturhistorische Tiefendimension ist schon wichtig.

Es geht immer um unsere Geschichte, unsere Zivilisation, unsere Existenzform. Mitunter sind die Bücher nicht flink wegzulesen, sie sollen möglichst viel Wahres vermitteln. Auch im Flakon habe ich mich um Authentizität, die größte Geschichtstreue bemüht.

Authentisch heißt dann historisch korrekt?

Ja.

Inwiefern ist das Authentische ein Problem, wenn man Figuren fiktionalisieren und sprechen lassen muss. Das stelle ich mir nicht einfach vor, wenn man einen Dialog inszeniert, der erfunden ist, und wie authentisch ist das dann möglicherweise, wie die Menschen damals gesprochen haben und wie viel Zusatz des Autors gibt es dabei? Vor allem vor dem Hintergrund der Sprachenvielfalt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und der verschiedenen Schichtzugehörigkeiten.

Das lässt sich nicht prozentual sagen. Ich versuche, den Figuren, wie ich sie kenne, was ich über sie erfahren habe, treu zu bleiben, sie nicht etwas äußern oder sagen zu lassen, das ihrer historischen Wirklichkeit widerspricht. So kommt man von einem historischen Faktum zum nächsten, ohne Verrat an den Figuren zu begehen. Wie sie waren. Das möchte ich nicht. Und welcher Prozentanteil dann authentisch ist und welcher nicht – ich zitiere dann manchmal aus Briefen, ohne dass ich das als Zitat kennzeichne, zum Beispiel. Dann wird das stimmig, und ich möchte Fantasterei vermeiden. Das ist nicht mein Genre, Fantasy-Romane oder Fantasy-Geschichte. Und der Sprachduktus: An sich kann man ohnehin keine historischen Romane schreiben, keinen einzigen, weil man immer doch hauptsächlich die Sprache der Gegenwart benutzt. Aber das Dilemma fing früh an mit der Bibel, die Gespräche zwischen Gott und Abraham wiederzugeben war auch eine sehr kühne Unternehmung. Oder in der Ilias die Götter, die mit den griechischen Helden sprechen. Alles ziemlich unmöglich, aber ein Teil der Kreativität des Menschen. Er darf das, wenn er es begründet. Und wenn er es gut macht, vor allem, wenn es fesselt. Dann können auch Bäume sprechen, Ovids Metamorphosen sind ein Zaubergarten an unmöglichen Erscheinungen und es ist eines der wunderbarsten Werke der Weltliteratur. Sprechende Pflanzen, Tiere, Gestirne. Dagegen ist Der Flakon extrem an der Wirklichkeit ausgerichtet.

Der titelgebende Flakon ist doch im Roman auch hinter Ovids Metamorphosen versteckt, oder?

Ja, das Gift ist hinter Ovids Metamorphosen versteckt. Für den Leser ist das ein Hinweis, Friedrich der Große wird, wenn er das Gift genossen hat, eine Metamorphose erleben, beziehungsweise ersterben.

Auch das Spiel mit der Literaturgeschichte ist super. Da ist schon mancher Vorgriff darin, beispielsweise mit den Worten „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind“, die hier vor dem Erscheinen von Goethes Erlkönig geäußert werden. Ich habe mir die Frage gestellt, da Du Gellert und dem Ehepaar Gottsched auch einen festen Platz in der deutschen Literaturgeschichte zuweisen wolltest, ob Goethe hier nicht ein Stück weit profaniert wird, indem man Goethe anzitiert, obwohl er noch gar nicht präsent ist. Und dann gibt es ja auch noch den Neffen der Frau von Gerstenkamp, der bereits avant la lettre den Sturm und Drang erwähnt. Wie lässt sich das im Kontext der Literaturgeschichte lesen? Ist das auch etwas ironisch gemeint?

Ich sehe darin keine Ironie, null. Es ist eine Schilderung von Gegebenheiten und Möglichkeiten. Es war mir in dem Roman ein großes Anliegen, nicht nur Gottsched und Gellert ihren Rang zuzuweisen, sondern eine kleine Revue deutscher Literatur in der Aufklärungszeit zu geben. Da wird einiges zitiert: Ewald von Kleist, Barthold Hinrich Brockes und andere Autoren. Das war mir sehr wichtig. Manches habe ich am Schluss auch wieder eingekürzt, weil es zu ausführlich wurde. Aber es sind manchmal Hinweise darauf, die Goethe-Zeit kommt an drei Stellen, glaube ich. Man weiß, das Weltwunder Goethe wird erscheinen, Lessing taucht auf, das ist das Zusammenspiel der Literaturen über die Epochen und damit war nichts Ironisches gemeint, ich wollte Bezüge hintupfen. Und die beiden Mägde, die in der Nacht einen Reiter sehen, „wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“, da habe ich ursprünglich weitergeschrieben: „Ist es ein Vater mit seinem Kind?“, Goethe leicht verfremdet, und dann dachte ich, das ist schon zu viel, also eleganter: „wer reitet so spät durch Nacht und Wind, ist es ein Bote oder ein Mann von hier?“, das ist dann nicht mehr Goethe. Aber es klingt an wie in einem Orchester, das eine ferne Melodie schon einmal anspielt. Es ist eben ein Roman über die Vor-Goethe-Zeit, die reich und üppig war. Das sollte zur Geltung kommen und mit dem Hinweis, dann wird etwas anderes geschehen mit der Weimarer Klassik und dem Sturm und Drang. Aber es ist gut möglich, dass jemand damals sagte, beim Abendessen der Neffe: Es bräuchte mehr Sturm und Drang. Goethe hat ja dann auch Themen zu Dichtung gemacht, die er sah und wieso sollte es diese Dinge nicht schon vorher gegeben haben. Einen Reiter in Nacht und Wind.

Das war mir wichtig, das Zusammenspiel der Epochen, dass sich immer etwas Neues anbahnt. Es gibt diesen Begriff der Sattelzeit um 1800, als die Klassik, die Romantik ihre Hochblüten erlebten. Diesen Begriff finde ich unsinnig, denn jede Zeit ist eine Sattelzeit. Es kommt immer unendlich viel zusammen. Und so auch um 1760, wo eine ältere Literatur dann langsam in eine neuere Literatur übergeht, ohne dass ich dabei mit alt und neu etwas bewerten will. Goethe, ohne die Vorarbeit Gottscheds oder Gellerts, ist auch schwer vorstellbar.

Weil Du vorhin schon die ganzen Geistesgrößen der Aufklärungszeit erwähnt hast, Gellert, Gottsched usw.: Ist es bei Deinem Schreiben auch ein Plädoyer, an diese Geistesgrößen zu erinnern bzw. zu ihren Werken zu greifen, um sie neu oder erstmalig zu lesen?

Massiv ist das ein Plädoyer dafür. Das ist sozusagen in Buchstaben die Errichtung von Denkmälern. Mache ich sehr gerne. Alle Menschen, die uns etwas geschenkt und gebracht haben mit ihrer Kreativität und ins Dunkel geraten sind, denen errichte ich gerne riesige Denkmäler. Die sind dann in Buchhandlungen zu finden oder auf dem Nachttisch, wo das Buch liegt. Das ist mir natürlich auch mit dem Paul-Heyse-Roman [Am Götterbaum, Anm. d. Red.] ein Anliegen gewesen. Auch mit Gerhart Hauptmann [Wiesenstein, Anm. d. Red.] schon, der nicht mehr so präsent ist.

Thomas Mann aber schon.

Thomas Mann schon. Aber es bleibt ein Anliegen, das, was in Vergessenheit geraten ist, wieder erinnerlich zu machen. Ich muss nichts über Goethe schreiben, da gibt es genug, und auch nicht so dringend über die Gegenwart, die haben wir ja um uns. Lieber alles zusammensuchen, was unsere Zivilisation ausmacht und wer sie befördert hat. Ein Roman über Kant wäre gut, aber Kants Leben war so geregelt und monoton, dass daraus schwerlich ein Roman würde.

Es kommt also nicht etwas Ähnliches aus dieser Zeit?

Ich spreche nie über zukünftige Projekte.

Gibt es da Epochen oder Themen, die Du wenigstens andeuten darfst?

Ich spreche nicht über Zukünftiges. Das ist wie, wenn man eine Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat, im Kreißsaal fragt: „Wird das nächste dann ein Junge oder ein Mädchen?“ Nein, das mache ich nicht. Das ist auch bei Lesungen eine absolute Unart, dass freundliche Menschen auf einen zukommen und fragen, was schreiben Sie denn als Nächstes? Und ich frage manchmal zurück: Haben Sie denn dieses schon gelesen oder etwas anderes von mir? Nicht? Was interessiert Sie dann, was ich in Zukunft schreiben werde. Man darf bisweilen allergisch reagieren.

Ich wollte noch zur Fertigstellung so eines Projektes kommen, noch vor dem Kreißsaal. Lektorat hast Du vorher angesprochen und Gestaltung des Buches. Das ist ja diesmal auch so wunderbar geprägt, mit dem Flakon im O enthalten. Wie hat sich bei diesem Buch das Lektorat gestaltet und der Prozess der Gestaltung Deiner immer wunderbar opulent ausgestatteten Bücher bei C.H. Beck? Wie entscheidet sich so etwas?

Das Lektorat war in dem Fall sehr intensiv, insofern als mehr gestrichen wurde als sonst bei mir, auf Anraten des Lektors, wobei man sich als Autor wehrt, selbstverständlich, aber ich bin dann seiner Einsicht gefolgt. Insbesondere Passagen über die Literatur damals, ich hatte viel mehr zitiert, Ewald von Kleist und Stücke von Gellert, und der Lektor erklärte: „Das ist zu viel. Es ist kein Lehrbuch der Literaturgeschichte, sondern ein Roman, der braucht seine Dynamik.“ Ich bedauerte natürlich: „Diese schöne Stelle von Gottsched!“ Und fügte mich dann dem Argument: „Aber es reicht doch erst einmal, wenn Leute überhaupt von Gottsched etwas wissen, dass er gelebt hat, dass er gedichtet hat, einiges von seiner Dichtung kommt doch auch vor. Wer sich genauer interessiert, wird sich kundig machen.“ Und somit ist Etliches gekürzt worden auf den 80 Seiten Kutschfahrt waren es vielleicht 90 Seiten, also 10 Seiten Zitate aus damaliger Literatur sind weggefallen, zum Beispiel beim Studenten in der Kutsche, der sich für Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen begeistert – das war damals ein Hit – und in die Alpen auswandern will. Das ist weg. Das schmerzte mich sehr. Aber es ist ein Roman, der muss auch handlungsmäßig vorangehen und insofern kann man nur Prisen von Bildungsvorräten so deutlich einbauen. Man kann vielleicht später einmal die komplette Ausgabe machen, die hätte ein paar zusätzliche Akzente. – Insofern war die Arbeit debattenintensiv. Andere Autoren werden, glaube ich, stärker lektoriert als ich. Ursprünglich hatte der Roman auch einen anderen Titel, Arbeitstitel bei mir – vollkommen klar: „Das Attentat“. Und dann gibt es die Verlagskonferenzen, bei denen ein Autor nicht anwesend ist, und „Das Attentat“ wurde einhellig abgelehnt. Ich dachte, wie kann das sein? Die Verlagsvertreter hielten „Das Attentat“ für zu plump. Außerdem gebe es aus den 80er-Jahren einen Roman von Harry Mulisch, der genauso heißt. Nun, nach langer Zeit hätte man den Titel wieder benutzen können. Sie wünschten sich einen feineren für meinen Roman. „Fein?“, reagierte ich, „dann wird er unauffälliger.“ – Die Antwort: „Oder er prägt sich umso mehr ein.“ Das waren lange Überlegungen, weil ich vollkommen fixiert auf „Das Attentat“ war. Meine Freundin Christine Wunnicke hatte dann bei einem Spaziergang im Gespräch den Einfall: „‚Flakon‘. Darin befindet sich das Gift.“ Ich wandte ein: „Wissen Menschen noch, was ein Flakon ist?“ Aber der Titel gefiel dem Verlag, und die Umschlaggestaltung hat das wunderbar aufgenommen. Die Bilder, die am Anfang und Ende des Buches sind, die hatte ich ausgewählt. Da ist der Beck-Verlag sehr kooperativ, das ist ja auch sehr teuer, aber eine schöne Buchgestaltung zahlt sich letztlich auch aus. Wenn jemand in der Buchhandlung den Roman aufschlägt und die Bilder von Canaletto sieht, ist er wahrscheinlich erst einmal erfreut. So gestaltete sich das mit dem Titel Flakon und mit den Bildern am Anfang und am Ende des Romans und einigen Porträts, damit man ein bisschen weiß, wie die Hauptfiguren aussahen, die Reichsgräfin von Brühl...

Und im Flakon ist ja nicht nur das Gift, sondern auch die europäische Kulturgeschichte wieder vereint, das Glas aus Murano, hinter Ovids Metamorphosen versteckt…

So wird beim Verlag C.H. Beck darüber diskutiert, auf schönstem Niveau, während ich mit meiner Attentats-Ampulle daherkam.

Der ganze Roman ist eigentlich der Flakon, in den alles eingeschlossen ist.

Die Duftnote Europas. Das wäre auch ein schöner Untertitel. Und dann fand man das perfekte Bild für den Umschlag. Eine gefährliche Dame auf Reisen.

 

Das Interview wurde geführt an der LMU München am 16. November 2023.

Hans Pleschinski: Der Flakon. Roman. C.H. Beck, München 2023 (2. Aufl. 2024), 360 S., mit 2 Abb. und 1 Karte, ISBN 978-3-406-80682-7.