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23.05.2018, 15:37 Uhr
Lucy Fricke
Gespräche
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© Dagmar Morath

Lucy Fricke im Gespräch über ihren Überraschungsbestseller „Töchter“

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(c) Rowohlt Verlage

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach Durst ist schlimmer als Heimweh, Ich habe Freunde mitgebracht und Takeshis Haut ist Töchter ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin. Wir sprachen mit ihr über ihren furiosen neuen Roman, der inzwischen zum Bestseller avanciert ist.

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Zwei Frauen brechen auf zu einer Reise in die Schweiz, mit einem todkranken Vater auf der Rückbank. Eine letzte, finale Fahrt soll es werden, doch nichts endet, wie man es sich vorgestellt hat, schon gar nicht das Leben. Martha und Betty kennen sich seit zwanzig Jahren und sie entscheiden sich fürs Durchbrettern. Vor sich haben sie das Ziel, von hinten drängt das nahende Unglück ... Mit einem Humor aus Notwehr und einer Wahrhaftigkeit, die wehtut, erzählt Lucy Fricke von Frauen in der Mitte ihres Lebens, von Abschieden, die niemandem erspart bleiben, und von Vätern, die zu früh verschwinden. Eine groteske Reise Richtung Süden, durch die Schweiz, Italien, bis nach Griechenland, immer tiefer hinein in die Abgründe der eigenen Geschichte. Und die Frage ist nicht, woher wir kommen, sondern: Wie finden wir da wieder raus?

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LITERATURPORTAL BAYERN: Töchter ist auch ein Roman über Freundschaft und den Trost, der darin liegen kann. Sind Freunde die bessere Familie?

LUCY FRICKE: Ich würde sagen, ja. In der Literatur ist das Thema Freundschaft tatsächlich gar nicht so häufig. Gerade in Büchern, in denen Frauen mittleren Alters und ihre unglücklichen Lieben vorkommen, geht es meistens eher um Männer. Das anders zu machen, war schon eine bewusste Entscheidung. Zwei Frauen, die befreundet sind und einfach viel reden – damit ging eigentlich alles los. Aber auch damit, dass man ab einem gewissen Alter selbst die eigenen Eltern anders sehen kann, die Mutter als Frau und den Vater als Mann. Plötzlich ist auch hier eine fast freundschaftliche Beziehung möglich.

Bei allem Humor klingen immer wieder auch düstere Themen an, etwa das Unglück von Familien, ihren Mythen und falschen Idealen. Ist Ihr Roman als Gegenentwurf zu dem aktuellen Neo-Biedermeier und seiner Feier der klassischen bürgerlichen Familie zu verstehen?

Das kann man schon so stehen lassen. In Gesprächen über den Roman höre ich oft, dass die beiden Frauen sich nicht erwachsen verhielten. Das finde ich nicht. Sie leben eben nur nicht in starren familiären Verhältnissen. Vor allem die Ich-Erzählerin ist jemand, der nicht ankommen will. Sie hat sich ins Unterwegssein verliebt, das ist ihr Lebensentwurf. Ein bisschen liegt das aber vielleicht auch an Berlin, wo solche Gegenentwürfe noch eher anzutreffen sind.

Bettys Unglück liegt zum Teil darin begründet, dass sie immer wieder unmöglichen Lieben anheimfällt. Andererseits sagt sie aber einmal, Liebe sei nur eine Frage der eigenen Entscheidung.

Zu dem Satz, dass Liebe eine Entscheidung ist, würde ich stehen. Man kann sich für einander entscheiden – und auch dabei bleiben, ohne es immer wieder in Frage zu stellen. Das ist eine taugliche Art, zu lieben. Allerdings ist Betty auch in einem kritischen Alter. Mit Anfang vierzig sind nicht mehr so viele Männer im Angebot.

Kann man sich auch gegen die Liebe entscheiden?

Ich hoffe nicht. Sich zu sagen, das kommt ab sofort in meinem Leben nicht mehr vor, wäre schon etwas deprimierend. Der Roman spielt diesen Komplex manchmal durch, etwa in Bettys sarkastischer Bemerkung, dass Liebe halt die letzte Rettung ist, wenn alles andere wegfällt. Ich bin da für eine gewisse Entspanntheit. Nur weil man mal drei Monate allein ist, muss man nicht gleich verzweifelt alle Online-Portale stürmen. Es gibt ein Leben ohne Beziehung, auch ohne Familie – da kommt dann wieder die Freundschaft ins Spiel. Man begleitet sich durchs Leben, ist für einander da, lacht und weint zusammen, aber ohne die ganzen Probleme, die mit Beziehungen kommen, auch mit Familienbeziehungen.

Betty und Martha sind von solchen Beziehungen lädiert, auf je eigene Weise von der Vergangenheit deformiert.

Am Ende steht aber eine Befreiung, vor allem vom Trauma der abwesenden Väter. Ich hatte beim Schreiben den Gedanken, dass danach etwas Neues anfangen kann. Bei allen Härten zeigt das Ende, wie man ein Trauma überwindet, indem man an den Ursprungsort des Schmerzes zurückkehrt und ihm ins Auge blickt.

Die Fahrt der beiden Freundinnen ruft andere literarische Sterbensreisen in den Süden auf – von Thomas Mann bis W. G. Sebald. Warum stirbt es sich im Süden Europas so schön, wie es einmal im Roman heißt?

Dass das wirklich so ist, glaube ich eigentlich nicht. Aber das Spiel mit diesen Topoi und Klischees – z. B. Italien als Sehnsuchtsort bis hin zur Todessehnsucht – und sie dabei gleichzeitig zu torpedieren, das war reizvoll. Anfangs dachte ich allerdings oft, das kann ich nicht machen, das ist zu abgenutzt.

Auch andere tradierte Formen tauchen auf: die Heldenreise, Tschechows berühmter Revolver, der irgendwann abgefeuert werden muss … Funkt das beim Schreiben so rein oder gab es da ein Konzept?

Ich habe mir das über den ganzen Verlauf so nicht vorgenommen. Zum ersten Mal habe ich ein Buch auf Sicht geschrieben. Anfangs hatte ich nur die Idee mit dem sterbenden Vater und der Fahrt in den Süden – und dann saß ich da, mit 60, 70 Seiten. Das Buch hat sich entwickelt, ohne dass ich jemals genau wusste, wo die Reise hingeht. Auch bei dem Spiel mit literarischen Traditionen habe ich immer wieder gezögert. Darf da wirklich noch eine Waffe auftauchen, kann man so weit gehen? Zweifel waren immer dabei.

Auch Betty zweifelt an ihrer Schriftstellerei. Worüber schreiben, wenn überall Bomben fallen, fragt sie sich einmal – also die Frage nach der gesellschaftspolitischen Relevanz von Literatur. In Töchter drängen die realen Probleme vor allem in Griechenland hervor. War es Ihnen wichtig, die aktuellen Krisen nicht auszusparen?

Ja. Ich war selbst für ein paar Monate auf dieser Insel, habe das Leben dort beobachtet und notiert, was die Leute mir erzählten. Noch ohne festen Plan. Man kann heute nicht über Griechenland schreiben, ohne die großen Probleme dort zu benennen. Das gilt ja für viele reale Zustände. Bettys Sinnkrise, dieses Was-mache-ich-hier-eigentlich, hatte ich auch. Täglich gehen Bomben hoch, Atomabkommen werden gekündigt und Menschen sprechen wieder vom Dritten Weltkrieg. Natürlich beschäftigt mich das. Das Schreiben kam mir plötzlich sinnlos vor, die Probleme von 40jährigen deutschen Mittelstandsfrauen erschienen so banal. Mein bester Freund meinte dann, na, wenn die Hauptfigur eh eine ist, die auch schreibt und dauernd am Reden ist, dann schreib die Zweifel doch einfach mit hinein. Danach ging es wieder besser – als das Hadern einmal heraus war. Aber auf Dauer bleibt das Dilemma natürlich: Was soll man schreiben – zu alldem?

Alle loben zu Recht den Humor des Buches. Dabei ist er durchaus ambivalent. Oft rasend komisch, scheint Bettys Pointentalent aber manchmal auch das Leid anderer zu überformen – dann wirkt es sarkastisch und ihr innerer Schmerz wie ein Luxusproblem. In Griechenland ändert sich dieser Gestus, wird weicher. Die Figurenzeichnung wird so über ihren eigenen Humor sehr subtil entwickelt.

Betty weiß es schon vorher, aber in Griechenland tritt ihr wirklich vor Augen, in welch schlimmer Verfassung große Teile der Welt sind. Das macht das Leiden an sich selbst dann geradezu lächerlich oder unmöglich. Sie ist gezwungen, ihren eigenen Schmerz von außen zu sehen. Aber das ist ja ohnehin eine Schriftstellerspezialität: Man läuft durch die Welt und ist immer auf Empfang. Auch gegenüber sich selbst. Fast als wäre man eine Figur. Manchmal ist das lustig, aber oft auch anstrengend.

Man muss doch erstmal etwas verstehen, bevor man darüber schreibt, sagt Betty einmal sinngemäß. Stimmt das auch für Ihr Schreiben?

Das Verstehen ist wichtig. Aber oft ist es so, dass ich am Anfang denke, ich habe noch gar nichts richtig verstanden, und je mehr ich schreibe, desto mehr verstehe ich auch.

Betty dagegen versteht im Verlauf des Romans immer weniger – und findet erst so eine gewisse Erlösung. Trotz ihres Unglücks wirkt sie am Anfang noch ziemlich abgeklärt. Dann brechen allmählich alle Gewissheiten weg, aber damit auch ihre eigene innere Verhärtung.

Das Eine versteht sie eben irgendwann – dass man manches nicht verstehen kann. Vor allem andere Menschen. Wie soll man andere Menschen auch verstehen, selbst uns nahestehende Menschen oder wie sie handeln – dass sie uns zum Beispiel verlassen? Wir verstehen uns ja selbst kaum. Das muss man leider akzeptieren. Betty scheint es zumindest am Ende annehmen zu können.

Sie muss sich erst ganz verlieren, damit am Ende jemand kommt, der sie trägt – auch wenn es nur ein Esel ist?

Immerhin. Das lässt sich ja dann noch steigern.