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15.05.2018, 16:24 Uhr
Olga Grjasnowa
Gespräche
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Olga Grjasnowa (c) Stadtbücherei Lauf

Interview mit Olga Grjasnowa zu ihrem aktuellen Roman „Gott ist nicht schüchtern“

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Buchcover (c) Aufbau Verlag

Die 1984 in Aserbaidschan geborene Olga Grjasnowa lebt heute als Schriftstellerin in Berlin. Für ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt wurde sie 2012 mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. 2014 erschien Die juristische Unschärfe einer Ehe, 2015 erhielt sie den Chamisso-Förderpreis. In ihrem jüngst erschienenen Erfolgsroman Gott ist nicht schüchtern (2017) schlägt Olga Grjasnowa einen großen Bogen, erzählt von enttäuschten Hoffnungen durch das Scheitern der arabischen Revolution, dem anschließenden Bürgerkrieg bis hin zu unmenschlichen Fluchtszenerien und der Ankunft in einer fremden Welt, aber auch immer wieder von Empathie, Zuneigung und Liebe. Am 25. April 2018 kam Olga Grjasnowa nach Lauf an der Pegnitz in die Stadtbücherei. Das Literaturportal Bayern durfte sie zu diesem Anlass interviewen.

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Literaturportal Bayern: Sie selbst sind 1996 als russisch-jüdischer „Kontingentflüchtling“ aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen, Ihre Großmutter hat zusammen mit ihrem Bruder als die einzigen Familienmitglieder die Shoah überlebt. Inwiefern spiegelt Ihr neues Buch Gott ist nicht schüchtern Ihre eigene familiengeschichtliche Vergangenheit wider?

Olga Grjasnowa: Das Buch spiegelt sie nicht wirklich wider, aber es stimmt, ich bin mit der Geschichte der Flucht meiner Großmutter aufgewachsen, wobei ich niemals die ganze Geschichte in ihrer Ausführlichkeit erfahren habe. Meine Großmutter war dreizehn, als die Wehrmacht in Weißrussland einmarschierte. Sie und ihr damals neunjähriger Bruder waren die einzigen Überlebenden einer einst riesigen jüdischen Familie – zusammen machten sie sich auf die Flucht, von Gomel nach Baku, eine Flucht, auf der sie mehr als drei Jahre verbrachten und mehr als 2.500 Kilometer zurücklegten. Mit dieser Geschichte bin ich aufgewachsen, sie hat mich sehr tief geprägt. Als ich dann die Menschen kennenlernte, die Syrien verlassen mussten, oder noch immer dort waren und keinen Ausweg sahen, fühlte ich mich sehr an die Geschichten meiner Großmutter erinnert. Es war dieselbe Hoffnungslosigkeit, die Gewissheit, dass das eigene Leben nichts wert ist und dass einem wohl niemand zu Hilfe kommen wird. Aber ich habe auch exzessiv die deutsche Exilliteratur gelesen, auch da fühlt man sich aus der heutigen Sicht in der Zeit zurückversetzt. Zudem stammt mein Mann aus Syrien, wenn er auch nicht selbst geflohen ist.

Der Buchtitel ist ja schon relativ ungewöhnlich und sehr gut gewählt: Gott ist nicht schüchtern. Er stammt, wie man nachlesen kann, aus einem Koran-Zitat, das aus dem Kontext gerissen als Ironie auf den syrischen Machthaber Assad zu verstehen ist, der bei Folterverhören den Anruf als gottgleiche Person verlangt. Ist dies die einzige Lesart?

Es ist sicher nicht die einzige Lesart, aber doch eine ganz gute. Der Assad-Clan inszeniert sich selbst als Gottheit, nach einer Folter werden die Menschen oft dazu gebracht zu sagen, dass Baschar al-Assad ihr Gott sei. Sein Vater wurde in der UdSSR ausgebildet und brachte von dort den Personenkult im Führer mit, und Stalin war wiederum ein ehemaliger Priester. Er hat seinerzeit die orthodoxe Ikone durch das eigene Porträt ersetzt.

Welches Verhältnis zu seinen Figuren hat „Gott“ in dem Buch? Wie beurteilen Sie Religion vor der ideologischen Instrumentalisierung in der heutigen Zeit?

Eigentlich gar keinen. In meinem Buch wird die Religion nur als ein politisches Instrument gebraucht, fromm ist keine der Figuren und der Glaube spielt auch für sie keine Rolle. Aber die heutige Instrumentalisierung der Religion ist nicht neu, ich glaube, die Instrumentalisierung wurde noch vor der Theologie erfunden.

An einer Stelle des Buches heißt es: „Das Schlimmste für Amal ist nicht der Schmerz, sondern die Demütigung.“ (S. 93) Trotz ihrer Flucht nach Deutschland scheinen Demütigungen für sie nicht abzubrechen, auch wenn diese weit weniger schmerzhaft als in Syrien sind: Amal endet in einer deutschen Fernseh-Show mit dem sprechenden Titel Mein Flüchtling kocht (S. 288). Warum wird Amal mit ihrem neuen Leben als Fernsehkochstar nicht glücklich?

Ein neues Leben lässt das alte noch lange nicht vergessen. Amal ist frustriert. Sie ist noch nicht angekommen, sondern halb in Syrien, halb auf dem Mittelmeer. Amal und Youssef haben, nachdem ihr Schiff gesunken ist, ein kleines Mädchen gerettet und geben es nun als ihr eigenes aus, beide haben Angst, dass ihre Geschichte auffliegt – auch das lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Ich bezweifle, dass auch kaum jemand von den hier Ankommenden seine oder ihre Ruhe findet, solange der Krieg in Syrien andauert und ihre Familien sich in diesem befinden.

Am Ende kommen die Figuren auch nicht wirklich gut weg. Zwar finden Amal und Youssef in Deutschland Arbeit, Amal folgt sogar einem Jobangebot nach Los Angeles, aber schon bei ihrer Ankunft in L.A. nimmt sie dieses schon nicht mehr wahr, und Hammoudi kommt beim Angriff von Dorfnazis auf ein Asylbewerberheim ums Leben...

Ich fürchte, dass man in solch einer Geschichte sehr weit von einem Happy End entfernt ist. Die Verarbeitung des Geschehens hat noch nicht einmal angefangen.

Ihr Buch hat weniger den „armen“ syrischen Migranten als vielmehr die privilegierte, bis vor dem Bürgerkrieg noch westlich orientierte syrische Oberschicht zum Protagonisten. Wieso war Ihnen das wichtig?

Alle Menschen hatten individuelle Geschichten, bevor sie in Deutschland ankamen, und es war mir wichtig, manche dieser Geschichten zu erzählen. Es gibt nicht nur die „armen“ Flüchtlinge, und auch ein „Flüchtling“ ist zuallererst ein Mensch, mit einer eigenen Geschichte, einem Namen, Wünschen und Träumen. Syrer fliehen vor einem Krieg und nicht etwa vor der Armut.

Was können wir als Leser von Amal, Youssef und Hammoudi lernen?

Die Leser sollen gar nichts lernen, aber vielleicht ein wenig neugierig werden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es kaum ein Menschenleben her ist, seitdem die Menschen versucht haben aus Europa zu fliehen, verzweifelt auf Visa und Schiffe gewartet haben. Es ist kein Zufall, dass der Roman Transfer von Anna Seghers gerade eine regelrechte Konjunktur erfährt, vor allem an deutschen Theatern.

Sie schreiben in der Gegenwart und benutzen eine sehr klare, konkrete Sprache, kaum überbordernde Stilmittel, um so die Unmittelbarkeit und den Schrecken der Geschehnisse literarisch zu vermitteln. Dabei ist von Ihnen selbst alles journalistisch genau recherchiert, hat also wahre, zum Teil persönliche Hintergründe. Denken Sie, dass Literatur, so wie Sie sie verstehen, mehr Verständnis zur politischen Flüchtlingsdebatte liefern kann?

Literatur kann einen Perspektivwechsel ermöglichen, eine Perspektive schaffen, die man eben noch nur aus der Außenwahrnehmung beurteilt hat – und plötzlich ist man selber mittendrin. Durch diesen Perspektivwechsel können Bücher auch Empathie schaffen. Ich glaube, das sind die beiden größten Errungenschaften der Literatur.