Ein Gespräch mit Carola Wimschneider über ihre Mutter Anna und „Herbstmilch“
Im Herbst 1984 erschienen im Münchner Piper-Verlag die Lebenserinnerungen der niederbayerischen Bäuerin Anna Wimschneider (1919-1993) unter dem Titel Herbstmilch. Wimschneiders Manuskript, das von Katharina Meschkowski, einer Vertrauten von Verleger Ernst Piper, für die Publikation überarbeitet wurde, wurde zu einem der größten Erfolge in der Geschichte des deutschen Buchhandels bzw. zu einem der erfolgreichsten autobiographischen Texte überhaupt. Es erzählt von den harten Lebensbedingungen als bayerische Bauerntochter von Kindesbeinen an: Als Achtjährige übernimmt Anna Wimschneider die Aufgaben der Bäuerin auf dem väterlichen Bauernhof; während der Kriegszeit muss sie den Hof ihres Mannes bewirtschaften, der zum Kriegsdienst eingezogen worden ist. Der Erfolg des Buches hängt maßgeblich mit der Authentizität des Geschilderten zusammen. Herbstmilch wurde über 50 Mal aufgelegt, als Hörbuch herausgegeben und unter der Regie von Joseph Vilsmaier verfilmt. Wir sprachen mit der Tochter der 1993 verstorbenen Autorin, Carola Wimschneider.
LITERATURPORTAL: Frau WIMSCHNEIDER, in ihren Lebenserinnerungen berichtet Ihre Mutter nicht von der guten alten Zeit, sondern von einem Leben voller Ungerechtigkeit und Erniedrigung. War Ihre Mutter dennoch ein fröhlicher Mensch oder überwogen bei ihr Ernüchterung und Verbitterung?
WIMSCHNEIDER: Verbittert war Mutti nie. Sie war eigentlich immer ausgeglichen und ein fröhlicher Mensch. Sie hatte Freude an ihrer Familie und ihrem Garten. Nein, dass sie aufgrund ihrer Erlebnisse verbittert gewesen wäre, kann man nicht sagen. Sie hat einen stabilen inneren Kern gehabt, dadurch konnte sie sich immer dem widmen, was gerade wichtig war. Und das war für sie nicht die Vergangenheit, sondern das Jetzt.
LITERATURPORTAL: Wie entstand die Idee zu den Lebenserinnerungen Herbstmilch?
WIMSCHNEIDER: Mutti war in den 1970er-Jahren sehr krank. Es war damit zu rechnen, dass sie sterben würde. Ich kann mich erinnern, dass sie einmal an einem Sylvesternachmittag heimkam, und am Abend ist sie schon wieder ins Krankenhaus gekommen. Mein Onkel väterlicherseits hatte einen Stammbaum der Familie Wieser-Wimschneider gemacht. Meine Tochter und meine Schwestern wussten eigentlich sehr wenig über das Leben meiner Mutter. Mir hat sie viel erzählt, daher wusste ich besser Bescheid. So kam die Idee: „Mutti, du musst auch mal was aufschreiben. Wir wissen so wenig über deine Familie.“ Sie hat gesagt, sie macht es schon mal. Aber aufgeschrieben hat sie ewig nichts. Dann kam doch einmal der Moment, wo sie gesagt hat: „Wenn ich‘s jetzt nicht tu, dann sterb ich und ihr wisst nichts.“ Der Druck von uns, auch von meiner Tochter, war dann doch so stark. Dazu kam noch die Hochzeit von meiner Schwester, auf der auch viele der Hochzeitsgäste gefragt haben, wo denn die Christine her wäre. Alles zusammen hat den Ausschlag gegeben, dass sich meine Mutter doch einmal hinsetzte. Sie hat Mittwoch- und Freitagnachmittag zu Hause geschrieben, während mein Vater im Lager – in der Firma, wo er angestellt war – gearbeitet hat. Als sie dann angefangen hat zu schreiben, hat sie sich alles von der Seele geschrieben.
LITERATURPORTAL: Auch zur Veröffentlichung ihrer Lebenserinnerungen musste Ihre Mutter mühsam überredet werden...
WIMSCHNEIDER: Dass war sehr schwer. Noch schwieriger als sie zum Schreiben zu bewegen. Sie hat es einfach nur für uns, ihre Familie, als Nachlass geschrieben. Dann kam das Manuskript über mehrere Ecken zum Piper-Verlag... Wie kam das Manuskript zum Verlag? Unsere Nachforschungen ergaben Folgendes: Meine Mutter hat das Manuskript in Sütterlinschrift handgeschrieben. Mein Vater tippte es auf seiner Schreibmaschine ab. Meine Schwester war verheiratet mit einem Augenarzt, der seine Praxis im Münchner Luitpoldblock hatte. Über dieser Praxis hatte ein gewisser Dr. Usener seine Praxis. Die Herren waren miteinander befreundet und bei einem Besuch entdeckte Dr. Usener das Manuskript, die lose Blattsammlung, meiner Mutter. Dr. Usener war begeistert, nahm das Manuskript, zeigte es seiner Frau und auch einer Patientin, der Ehefrau von Piper Junior. Über sie gelangte das Manuskript in den Piper-Verlag. Dort hat es der Lektor Dr. Weiß gelesen. Von ihm bekam meine Mutter den Brief, in dem es hieß, dass der Piper-Verlag Interesse hätte, das Buch zu veröffentlichen. Die Reaktion meiner Mutter: „Na, nie! Was sagen denn da die Leut?“ Das war der Hauptsatz: „Was sagen denn da die Leut? Da muas i mi ja schamma! Und wer soll denn sowas lesen? I bin doch nur fünf und a halbs Jahr in‘d Schul ganga.“ Ganz großer Widerstand. Piper sagte 5.000 Exemplare würden sie drucken. 3.000 bräuchten sie, um die Kosten wieder reinzuholen. Mein Vater hat gesagt: „Lass es doch drucken. Die 5.000, des liest da bei uns eh koana.“ Erst die Aussicht, dass das Buch sowieso keiner lesen würde, dass es in Niederbayern erst recht keiner lesen würde, konnte meine Mutter dazu bringen der Veröffentlichung zuzustimmen.
LITERATURPORTAL: Eine Veröffentlichung also nur mit der Aussicht, dass das Buch keiner, vor allem nicht die Nachbarn, lesen würde?
WIMSCHNEIDER: Ja. Erst dann hat sie auch zugestimmt nichts zu kürzen, auch die Passagen über Kirche und Pfarrer drin zu lassen. Außerdem hat unsere Mutter ja nie über Sexualität gesprochen. Und in ihrem Buch hat sie darüber geschrieben. Das war auch für uns ganz neu. Anfangs wollte sie, dass das alles rausgestrichen wird. Piper Senior sagte: Es bleibt alles drin. Und nachdem es dann sowieso keiner lesen würde, willigte meine Mutter schließlich ein.
LITERATURPORTAL: Nach dem Lektorat folgten die Veröffentlichung von Herbstmilch und diverse Auftritte Ihrer Mutter. Die Organisation übernahm der Verlag.
WIMSCHNEIDER: Ja, das wurde alles organisiert. Der Verlag hatte alle Rechte und hat alles gemacht. Meine Eltern haben sich um gar nichts gekümmert.
LITERATURPORTAL: Da hatte man nun ein Buch, dessen Autorin sowohl zum Schreiben als auch zur Veröffentlichung überredet werden musste und das dann ein großer Erfolg wurde. Wie reagierte Ihre Mutter auf diesen Erfolg?
WIMSCHNEIDER: Auf der Frankfurter Buchmesse stand meine Mutter vor einem großen Ständer voller Exemplare von Herbstmilch und sagte: „Um Gottes Willen, schau Dir das an.“ Wir waren alle fassungslos, überrascht und perplex. Na ja, liest eh keiner.
LITERATURPORTAL: War dann doch nicht ganz so...
WIMSCHNEIDER: Donnerstag war Buchmesse und am Sonntag war in Pfarrkirchen ein großer Markt. Da war die Hoffnung: In Pfarrkirchen weiß noch keiner was. Sie wussten es aber alle.
LITERATURPORTAL: Wie reagierten denn Angehörige und Nachbarn auf das Buch und den Erfolg Ihrer Mutter?
WIMSCHNEIDER: Durchwachsen. „Die hat a Biache gschriebn? Wie kann denn die a Biache schreibn?“ Ich muss das wirklich im Dialekt sagen, tut mir leid. „Wos hot denn die da gschriebn?“ Als erster kam der Franz, der ältere Bruder von meiner Mutter, zu Besuch. Da sagte mein Vater zu ihm: „Die Anna hat a Buach gschriebn.“ Der Bruder fing an zu lachen, bis Vater ihm Herbstmilch hingelegt hat. Die Reaktion war überrascht, aber auch ein bisschen geschockt. Der Gedanke war: Da steht alles drin über uns. Über uns Kinder, dass wir so arm waren. Das sagt man nicht. Das war die Hauptreaktion: Das wir so arm waren, das sagt man nicht. Man ist zwar arm, aber man lässt sich‘s nicht anmerken. Das war schwierig für die Geschwister meiner Mutter. Sie haben sich wohl bloßgestellt gefühlt.
LITERATURPORTAL: Es muss ein Schlag gewesen sein, alles so offen daliegen zu sehen.
WIMSCHNEIDER: Ja, und vor allem kannten einen die, die das gelesen hatten. Man kennt die Höfe. Beglückwünscht hat meine Mutter eigentlich nur ein Nachbar. Da wo sie die Milch geholt hat. Die haben sich ehrlich mit ihr gefreut. Die anderen waren schweigsam, auch neidisch. „Jetzt griagt die an Haufen Geld. Jeder von uns hät a Biache schreibn kenna. Uns is alle so ganga.“ Herbstmilch ist eine Geschichte aus Niederbayern, nicht nur Niederbayern, ich denke, überhaupt aus dem ländlichen Bezirk in der damaligen Zeit, die jeder hätte schreiben können. Das haben auch viele gesagt. So war auch die Resonanz in Briefen, Anrufen, Gesprächen von Lesern mit meiner Mutter: Das hätten wir auch schreiben können.
Erste Seite des Originalmanuskripts Herbstmilch. (Nachlass Anna Wimschneider, Bayerische Staatsbibliothek.)
LITERATURPORTAL: Tja, sie haben es nicht geschrieben. Ihre Mutter hat es geschrieben.
WIMSCHNEIDER: Es war viel Neid dabei: Die werden jetzt angeben, da wird gleich der Mercedes vor der Haustür stehen. Meine Eltern haben aber genauso weitergelebt wie vorher.
LITERATURPORTAL: Welchen Eindruck hatte ihre Mutter auf die ganzen Presseberichte über sie?
WIMSCHNEIDER: Sie hat sie nicht gelesen. Bei uns in Niederbayern gab‘s die Passauer Neue Presse und sonst keine andere Zeitung. Und die ganzen Presseausschnitte, ach, Piper hat manchmal was geschickt. Aber Mutter hat‘s nicht gelesen. Sie hat sich sehr über Besuche gefreut, über die vielen Leute, die gekommen sind. Sie hat sie bewirtet, Dampfnudeln gemacht, hat ihnen ihren Garten, ihre Blumen gezeigt und hat sich sehr gefreut über die Achtung, die ihr entgegengebracht worden ist. Diese Achtung, die sie nie im Leben hatte. Das war wichtig für sie und darüber hat sie sich gefreut. Auch auf Reisen und an ihren Lesungen hatte sie Freude. Da hat sie sich vor‘s Mikrofon gesetzt und erzählt. Anfangs hat man ihr immer ihr Buch hingelegt, aber sie hat gesagt, das ist mein Leben, da brauch ich kein Buch. Sie hat Zeichnungen von Kindern gekriegt, und hier: das sind alles Briefe, die sie bekommen hat.
LITERATURPORTAL: Sie haben gerade Dampfnudeln erwähnt...
WIMSCHNEIDER: Ja, meine Eltern mussten ja auch was zu Abend essen, und auf dem Land war das nicht so, dass man jeden Tag Wurst oder Käse aufgetischt hätte. Das gab es nur am Sonntag. Ansonsten gab es Mehlspeisen.
LITERATURPORTAL: Auf der einen Seite führten Ihre Eltern also ihr bäuerliches Leben. Auf der anderen Seite war ihre Mutter eine gefeierte Autorin. Wie gelang ihr der Spagat zwischen diesen beiden Welten?
WIMSCHNEIDER: Sie ist geblieben wie sie war. Sie ist diese natürliche, freundliche Frau geblieben, die sie immer war. Sie ist zum Gottschalk in Wetten dass..., ist in alle möglichen Talkshows gegangen, ganz normal, als ob sie in irgendein Geschäft zum Einkaufen gegangen wäre oder einen ganz gewöhnlichen Besuch gemacht hätte, unaufgeregt. Sie hat sich hingesetzt, hat sich gefreut über die Leute, über die Anerkennung, das hat sie alles genossen.
LITERATURPORTAL: Es gibt viele Überlegungen darüber, wie ein Buch ein Bestseller wird. Herbstmilch ist ein solcher geworden. Warum avancierte dieses Buch Ihrer Meinung nach zum Bestseller?
WIMSCHNEIDER: Weil meine Mutter so ehrlich geschrieben hat. So ehrlich und ungeschminkt, weil es nur für uns, ihre Familie, gedacht war. Als es ein Buch werden sollte, wollte sie ja vieles kürzen. Dann wäre es flach geworden. Das ganze Gerüst hätte dann kein Fleisch mehr gehabt. So aber ist es ein ehrlicher Bericht über ein Leben geworden, ohne Schnörkel, ohne lange Sätze. Kurz und knapp hat sie es in zwei DIN A4-Heften zusammengeschrieben. Außerdem glaube ich, dass es das rechte Buch zur rechten Zeit war. Da war eine Lücke, wo das reingefallen ist. Ich glaube nicht, dass es heute diesen Erfolg hätte. Und sie war ja keine Literatin, sie war wie ein Kolibri, ein exotisches Wesen in Literaturkreisen.
LITERATURPORTAL: Bestimmt kamen Ehrlichkeit und Authentizität beim Publikum sehr gut an.
WIMSCHNEIDER: Glaube ich schon, ja. Viele konnten sich mit Herbstmilch identifizieren. Viele sagten: „Das ist mir genauso gegangen.“ Oder: „Manche Episoden aus dem Buch, die habe ich genauso erlebt.“ Daher haben viele das Buch so angenommen, weil eben auch für sie geschrieben worden ist, weil sie sich darin wiedergefunden haben.
LITERATURPORTAL: Und es blieb nicht nur beim Buch. Herbstmilch wurde von Joseph Vilsmaier verfilmt. Was gefällt Ihnen an dem Film besonders gut und was nicht?
WIMSCHNEIDER: Im Großen und Ganzen hat er den Film ganz gut hingekriegt. Wir haben uns erst gedacht: Wie soll man denn so ein Leben verfilmen? Gerade die Feinfühligkeit in Bezug auf die Kindheit meiner Mutter, das hat er super gemacht. Meine Mutter war bei den Dreharbeiten, als das Sterben ihrer Mutter gedreht wurde, und sie hat es nicht aushalten können. Sie hat sich vors Haus gesetzt und bitterlich geweint. Sie hat auch den Film nur bei der Premiere gesehen. Was wir übertrieben fanden war, dass die Zeit des Nationalsozialismus so hervorgehoben wurde. Dieser Satz zum Beispiel: „Bevor Hitler nicht das Sudetenland hat, wird nicht geheiratet“, das hätte ein Bauer nicht gesagt. Mein Großvater verlor eine wichtige Arbeitskraft. Er hatte ja nur zwei Töchter. Da ging‘s um die Arbeitskraft. Das Sudetenland spielte da keine Rolle. Aber wie meine Mutter zum Kreisleiter ging und sagte: „So und ich bleibe hier sitzen, bis mir jemand hilft“, das ist gut gemacht. Da war auch die Darstellung des Goldfasans berechtigt. Aber dass unser Onkel Otto im Film so als Depp hingestellt wurde, das finde ich traurig. Er war ein prima Mensch. Meine Eltern hatten auf die Verfilmung keinerlei Einfluss. Die Rechte lagen beim Verlag, und der Verlag hat auch alles mit Herrn Vilsmaier geklärt.
LITERATURPORTAL: Ein spannende Geschichte vom Anfang bis zum Ende, obwohl Ende kann man nicht sagen, das Buch wird nach wie vor verkauft.
WIMSCHNEIDER: Erstaunlicher Weise, ja. Dass es so ein Longseller werden wird, hätte niemand gedacht. Ich freue mich für Mutti, dass sie so viel Anerkennung und so viel Ehre bekommen hat. Wir sind recht stolz auf sie.
Das Gespräch führte Christian Petrzik.
Ein Gespräch mit Carola Wimschneider über ihre Mutter Anna und „Herbstmilch“>
Im Herbst 1984 erschienen im Münchner Piper-Verlag die Lebenserinnerungen der niederbayerischen Bäuerin Anna Wimschneider (1919-1993) unter dem Titel Herbstmilch. Wimschneiders Manuskript, das von Katharina Meschkowski, einer Vertrauten von Verleger Ernst Piper, für die Publikation überarbeitet wurde, wurde zu einem der größten Erfolge in der Geschichte des deutschen Buchhandels bzw. zu einem der erfolgreichsten autobiographischen Texte überhaupt. Es erzählt von den harten Lebensbedingungen als bayerische Bauerntochter von Kindesbeinen an: Als Achtjährige übernimmt Anna Wimschneider die Aufgaben der Bäuerin auf dem väterlichen Bauernhof; während der Kriegszeit muss sie den Hof ihres Mannes bewirtschaften, der zum Kriegsdienst eingezogen worden ist. Der Erfolg des Buches hängt maßgeblich mit der Authentizität des Geschilderten zusammen. Herbstmilch wurde über 50 Mal aufgelegt, als Hörbuch herausgegeben und unter der Regie von Joseph Vilsmaier verfilmt. Wir sprachen mit der Tochter der 1993 verstorbenen Autorin, Carola Wimschneider.
LITERATURPORTAL: Frau WIMSCHNEIDER, in ihren Lebenserinnerungen berichtet Ihre Mutter nicht von der guten alten Zeit, sondern von einem Leben voller Ungerechtigkeit und Erniedrigung. War Ihre Mutter dennoch ein fröhlicher Mensch oder überwogen bei ihr Ernüchterung und Verbitterung?
WIMSCHNEIDER: Verbittert war Mutti nie. Sie war eigentlich immer ausgeglichen und ein fröhlicher Mensch. Sie hatte Freude an ihrer Familie und ihrem Garten. Nein, dass sie aufgrund ihrer Erlebnisse verbittert gewesen wäre, kann man nicht sagen. Sie hat einen stabilen inneren Kern gehabt, dadurch konnte sie sich immer dem widmen, was gerade wichtig war. Und das war für sie nicht die Vergangenheit, sondern das Jetzt.
LITERATURPORTAL: Wie entstand die Idee zu den Lebenserinnerungen Herbstmilch?
WIMSCHNEIDER: Mutti war in den 1970er-Jahren sehr krank. Es war damit zu rechnen, dass sie sterben würde. Ich kann mich erinnern, dass sie einmal an einem Sylvesternachmittag heimkam, und am Abend ist sie schon wieder ins Krankenhaus gekommen. Mein Onkel väterlicherseits hatte einen Stammbaum der Familie Wieser-Wimschneider gemacht. Meine Tochter und meine Schwestern wussten eigentlich sehr wenig über das Leben meiner Mutter. Mir hat sie viel erzählt, daher wusste ich besser Bescheid. So kam die Idee: „Mutti, du musst auch mal was aufschreiben. Wir wissen so wenig über deine Familie.“ Sie hat gesagt, sie macht es schon mal. Aber aufgeschrieben hat sie ewig nichts. Dann kam doch einmal der Moment, wo sie gesagt hat: „Wenn ich‘s jetzt nicht tu, dann sterb ich und ihr wisst nichts.“ Der Druck von uns, auch von meiner Tochter, war dann doch so stark. Dazu kam noch die Hochzeit von meiner Schwester, auf der auch viele der Hochzeitsgäste gefragt haben, wo denn die Christine her wäre. Alles zusammen hat den Ausschlag gegeben, dass sich meine Mutter doch einmal hinsetzte. Sie hat Mittwoch- und Freitagnachmittag zu Hause geschrieben, während mein Vater im Lager – in der Firma, wo er angestellt war – gearbeitet hat. Als sie dann angefangen hat zu schreiben, hat sie sich alles von der Seele geschrieben.
LITERATURPORTAL: Auch zur Veröffentlichung ihrer Lebenserinnerungen musste Ihre Mutter mühsam überredet werden...
WIMSCHNEIDER: Dass war sehr schwer. Noch schwieriger als sie zum Schreiben zu bewegen. Sie hat es einfach nur für uns, ihre Familie, als Nachlass geschrieben. Dann kam das Manuskript über mehrere Ecken zum Piper-Verlag... Wie kam das Manuskript zum Verlag? Unsere Nachforschungen ergaben Folgendes: Meine Mutter hat das Manuskript in Sütterlinschrift handgeschrieben. Mein Vater tippte es auf seiner Schreibmaschine ab. Meine Schwester war verheiratet mit einem Augenarzt, der seine Praxis im Münchner Luitpoldblock hatte. Über dieser Praxis hatte ein gewisser Dr. Usener seine Praxis. Die Herren waren miteinander befreundet und bei einem Besuch entdeckte Dr. Usener das Manuskript, die lose Blattsammlung, meiner Mutter. Dr. Usener war begeistert, nahm das Manuskript, zeigte es seiner Frau und auch einer Patientin, der Ehefrau von Piper Junior. Über sie gelangte das Manuskript in den Piper-Verlag. Dort hat es der Lektor Dr. Weiß gelesen. Von ihm bekam meine Mutter den Brief, in dem es hieß, dass der Piper-Verlag Interesse hätte, das Buch zu veröffentlichen. Die Reaktion meiner Mutter: „Na, nie! Was sagen denn da die Leut?“ Das war der Hauptsatz: „Was sagen denn da die Leut? Da muas i mi ja schamma! Und wer soll denn sowas lesen? I bin doch nur fünf und a halbs Jahr in‘d Schul ganga.“ Ganz großer Widerstand. Piper sagte 5.000 Exemplare würden sie drucken. 3.000 bräuchten sie, um die Kosten wieder reinzuholen. Mein Vater hat gesagt: „Lass es doch drucken. Die 5.000, des liest da bei uns eh koana.“ Erst die Aussicht, dass das Buch sowieso keiner lesen würde, dass es in Niederbayern erst recht keiner lesen würde, konnte meine Mutter dazu bringen der Veröffentlichung zuzustimmen.
LITERATURPORTAL: Eine Veröffentlichung also nur mit der Aussicht, dass das Buch keiner, vor allem nicht die Nachbarn, lesen würde?
WIMSCHNEIDER: Ja. Erst dann hat sie auch zugestimmt nichts zu kürzen, auch die Passagen über Kirche und Pfarrer drin zu lassen. Außerdem hat unsere Mutter ja nie über Sexualität gesprochen. Und in ihrem Buch hat sie darüber geschrieben. Das war auch für uns ganz neu. Anfangs wollte sie, dass das alles rausgestrichen wird. Piper Senior sagte: Es bleibt alles drin. Und nachdem es dann sowieso keiner lesen würde, willigte meine Mutter schließlich ein.
LITERATURPORTAL: Nach dem Lektorat folgten die Veröffentlichung von Herbstmilch und diverse Auftritte Ihrer Mutter. Die Organisation übernahm der Verlag.
WIMSCHNEIDER: Ja, das wurde alles organisiert. Der Verlag hatte alle Rechte und hat alles gemacht. Meine Eltern haben sich um gar nichts gekümmert.
LITERATURPORTAL: Da hatte man nun ein Buch, dessen Autorin sowohl zum Schreiben als auch zur Veröffentlichung überredet werden musste und das dann ein großer Erfolg wurde. Wie reagierte Ihre Mutter auf diesen Erfolg?
WIMSCHNEIDER: Auf der Frankfurter Buchmesse stand meine Mutter vor einem großen Ständer voller Exemplare von Herbstmilch und sagte: „Um Gottes Willen, schau Dir das an.“ Wir waren alle fassungslos, überrascht und perplex. Na ja, liest eh keiner.
LITERATURPORTAL: War dann doch nicht ganz so...
WIMSCHNEIDER: Donnerstag war Buchmesse und am Sonntag war in Pfarrkirchen ein großer Markt. Da war die Hoffnung: In Pfarrkirchen weiß noch keiner was. Sie wussten es aber alle.
LITERATURPORTAL: Wie reagierten denn Angehörige und Nachbarn auf das Buch und den Erfolg Ihrer Mutter?
WIMSCHNEIDER: Durchwachsen. „Die hat a Biache gschriebn? Wie kann denn die a Biache schreibn?“ Ich muss das wirklich im Dialekt sagen, tut mir leid. „Wos hot denn die da gschriebn?“ Als erster kam der Franz, der ältere Bruder von meiner Mutter, zu Besuch. Da sagte mein Vater zu ihm: „Die Anna hat a Buach gschriebn.“ Der Bruder fing an zu lachen, bis Vater ihm Herbstmilch hingelegt hat. Die Reaktion war überrascht, aber auch ein bisschen geschockt. Der Gedanke war: Da steht alles drin über uns. Über uns Kinder, dass wir so arm waren. Das sagt man nicht. Das war die Hauptreaktion: Das wir so arm waren, das sagt man nicht. Man ist zwar arm, aber man lässt sich‘s nicht anmerken. Das war schwierig für die Geschwister meiner Mutter. Sie haben sich wohl bloßgestellt gefühlt.
LITERATURPORTAL: Es muss ein Schlag gewesen sein, alles so offen daliegen zu sehen.
WIMSCHNEIDER: Ja, und vor allem kannten einen die, die das gelesen hatten. Man kennt die Höfe. Beglückwünscht hat meine Mutter eigentlich nur ein Nachbar. Da wo sie die Milch geholt hat. Die haben sich ehrlich mit ihr gefreut. Die anderen waren schweigsam, auch neidisch. „Jetzt griagt die an Haufen Geld. Jeder von uns hät a Biache schreibn kenna. Uns is alle so ganga.“ Herbstmilch ist eine Geschichte aus Niederbayern, nicht nur Niederbayern, ich denke, überhaupt aus dem ländlichen Bezirk in der damaligen Zeit, die jeder hätte schreiben können. Das haben auch viele gesagt. So war auch die Resonanz in Briefen, Anrufen, Gesprächen von Lesern mit meiner Mutter: Das hätten wir auch schreiben können.
Erste Seite des Originalmanuskripts Herbstmilch. (Nachlass Anna Wimschneider, Bayerische Staatsbibliothek.)
LITERATURPORTAL: Tja, sie haben es nicht geschrieben. Ihre Mutter hat es geschrieben.
WIMSCHNEIDER: Es war viel Neid dabei: Die werden jetzt angeben, da wird gleich der Mercedes vor der Haustür stehen. Meine Eltern haben aber genauso weitergelebt wie vorher.
LITERATURPORTAL: Welchen Eindruck hatte ihre Mutter auf die ganzen Presseberichte über sie?
WIMSCHNEIDER: Sie hat sie nicht gelesen. Bei uns in Niederbayern gab‘s die Passauer Neue Presse und sonst keine andere Zeitung. Und die ganzen Presseausschnitte, ach, Piper hat manchmal was geschickt. Aber Mutter hat‘s nicht gelesen. Sie hat sich sehr über Besuche gefreut, über die vielen Leute, die gekommen sind. Sie hat sie bewirtet, Dampfnudeln gemacht, hat ihnen ihren Garten, ihre Blumen gezeigt und hat sich sehr gefreut über die Achtung, die ihr entgegengebracht worden ist. Diese Achtung, die sie nie im Leben hatte. Das war wichtig für sie und darüber hat sie sich gefreut. Auch auf Reisen und an ihren Lesungen hatte sie Freude. Da hat sie sich vor‘s Mikrofon gesetzt und erzählt. Anfangs hat man ihr immer ihr Buch hingelegt, aber sie hat gesagt, das ist mein Leben, da brauch ich kein Buch. Sie hat Zeichnungen von Kindern gekriegt, und hier: das sind alles Briefe, die sie bekommen hat.
LITERATURPORTAL: Sie haben gerade Dampfnudeln erwähnt...
WIMSCHNEIDER: Ja, meine Eltern mussten ja auch was zu Abend essen, und auf dem Land war das nicht so, dass man jeden Tag Wurst oder Käse aufgetischt hätte. Das gab es nur am Sonntag. Ansonsten gab es Mehlspeisen.
LITERATURPORTAL: Auf der einen Seite führten Ihre Eltern also ihr bäuerliches Leben. Auf der anderen Seite war ihre Mutter eine gefeierte Autorin. Wie gelang ihr der Spagat zwischen diesen beiden Welten?
WIMSCHNEIDER: Sie ist geblieben wie sie war. Sie ist diese natürliche, freundliche Frau geblieben, die sie immer war. Sie ist zum Gottschalk in Wetten dass..., ist in alle möglichen Talkshows gegangen, ganz normal, als ob sie in irgendein Geschäft zum Einkaufen gegangen wäre oder einen ganz gewöhnlichen Besuch gemacht hätte, unaufgeregt. Sie hat sich hingesetzt, hat sich gefreut über die Leute, über die Anerkennung, das hat sie alles genossen.
LITERATURPORTAL: Es gibt viele Überlegungen darüber, wie ein Buch ein Bestseller wird. Herbstmilch ist ein solcher geworden. Warum avancierte dieses Buch Ihrer Meinung nach zum Bestseller?
WIMSCHNEIDER: Weil meine Mutter so ehrlich geschrieben hat. So ehrlich und ungeschminkt, weil es nur für uns, ihre Familie, gedacht war. Als es ein Buch werden sollte, wollte sie ja vieles kürzen. Dann wäre es flach geworden. Das ganze Gerüst hätte dann kein Fleisch mehr gehabt. So aber ist es ein ehrlicher Bericht über ein Leben geworden, ohne Schnörkel, ohne lange Sätze. Kurz und knapp hat sie es in zwei DIN A4-Heften zusammengeschrieben. Außerdem glaube ich, dass es das rechte Buch zur rechten Zeit war. Da war eine Lücke, wo das reingefallen ist. Ich glaube nicht, dass es heute diesen Erfolg hätte. Und sie war ja keine Literatin, sie war wie ein Kolibri, ein exotisches Wesen in Literaturkreisen.
LITERATURPORTAL: Bestimmt kamen Ehrlichkeit und Authentizität beim Publikum sehr gut an.
WIMSCHNEIDER: Glaube ich schon, ja. Viele konnten sich mit Herbstmilch identifizieren. Viele sagten: „Das ist mir genauso gegangen.“ Oder: „Manche Episoden aus dem Buch, die habe ich genauso erlebt.“ Daher haben viele das Buch so angenommen, weil eben auch für sie geschrieben worden ist, weil sie sich darin wiedergefunden haben.
LITERATURPORTAL: Und es blieb nicht nur beim Buch. Herbstmilch wurde von Joseph Vilsmaier verfilmt. Was gefällt Ihnen an dem Film besonders gut und was nicht?
WIMSCHNEIDER: Im Großen und Ganzen hat er den Film ganz gut hingekriegt. Wir haben uns erst gedacht: Wie soll man denn so ein Leben verfilmen? Gerade die Feinfühligkeit in Bezug auf die Kindheit meiner Mutter, das hat er super gemacht. Meine Mutter war bei den Dreharbeiten, als das Sterben ihrer Mutter gedreht wurde, und sie hat es nicht aushalten können. Sie hat sich vors Haus gesetzt und bitterlich geweint. Sie hat auch den Film nur bei der Premiere gesehen. Was wir übertrieben fanden war, dass die Zeit des Nationalsozialismus so hervorgehoben wurde. Dieser Satz zum Beispiel: „Bevor Hitler nicht das Sudetenland hat, wird nicht geheiratet“, das hätte ein Bauer nicht gesagt. Mein Großvater verlor eine wichtige Arbeitskraft. Er hatte ja nur zwei Töchter. Da ging‘s um die Arbeitskraft. Das Sudetenland spielte da keine Rolle. Aber wie meine Mutter zum Kreisleiter ging und sagte: „So und ich bleibe hier sitzen, bis mir jemand hilft“, das ist gut gemacht. Da war auch die Darstellung des Goldfasans berechtigt. Aber dass unser Onkel Otto im Film so als Depp hingestellt wurde, das finde ich traurig. Er war ein prima Mensch. Meine Eltern hatten auf die Verfilmung keinerlei Einfluss. Die Rechte lagen beim Verlag, und der Verlag hat auch alles mit Herrn Vilsmaier geklärt.
LITERATURPORTAL: Ein spannende Geschichte vom Anfang bis zum Ende, obwohl Ende kann man nicht sagen, das Buch wird nach wie vor verkauft.
WIMSCHNEIDER: Erstaunlicher Weise, ja. Dass es so ein Longseller werden wird, hätte niemand gedacht. Ich freue mich für Mutti, dass sie so viel Anerkennung und so viel Ehre bekommen hat. Wir sind recht stolz auf sie.
Das Gespräch führte Christian Petrzik.