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21.07.2016, 15:48 Uhr
Klaus Hübner
Gespräche
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Klaus Hübner im Gespräch mit Kristina Schilke

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(c) Piper Verlag

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Der folgende Beitrag erschien in der Ausgabe 123 (2016).

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Waldesreuth ist überall

Dreizehn krasse Provinzgeschichten

von Klaus Hübner

 

Kristina Schilke, 1986 in Russland geboren und seit 1994 im Bayerischen Wald aufgewachsen, lebt heute in Leipzig. Noch ist sie relativ unbekannt. Gerade ist ihr erstes Buch erschienen – dreizehn krasse Erzählungen aus einem fiktiven Kurort namens Waldesreuth, dreizehn perfekt gebaute Prosatexte, die auf flotte und zugleich genau kalkulierte Art und Weise davon erzählen, wie es ist, wenn man fernab der Metropolen aufwächst und mit den Absurditäten seiner Umwelt irgendwie umgehen muss. Und mit den Skurrilitäten einer Sprache, die erst entziffert und begriffen werden will – wer sie zu wörtlich nimmt, der haftet für alle Folgen.

Die Figuren, die hier erzählen oder von denen erzählt wird, machen einiges mit. Thom zum Beispiel, der sich an ein Fußballtor gehängt hat aus Freude über den Sieg, und dann ist es umgefallen: „Thoms Gesicht war nicht wirklich weg, es war aber eine rote, flache Scheibe, aus der zwei Augäpfel zum Himmel guckten. Ich schwöre es: nackte Augäpfel“. Es gibt kein Leben ohne Grauen und Schmerz. Kristina Schilke erzählt von beschädigten Menschen und von ihrem aus Verzweiflung erwachsenden Mut, von postpubertären Träumern und von oft merkwürdigen Tieren. Ja, Tiere spielen eine ganz wichtige Rolle im Leben ihrer jungen Heldinnen und Helden, die sich hinaussehnen aus der Provinz und nur sehr vage ahnen, was sie auf dieser Welt verloren haben könnten. „Noch ist nichts entschieden“.

Man nimmt am Elefantentreffen teil, das im Februar wilde Motorradfahrer in den Bayerischen Wald lockt. Zwei Freundinnen lackieren sich die Nägel, denn das Starkbierfest steht an: „Niemand fährt hier mit angezogener Handbremse, und der Kellnerin ist es genauso egal wie allen anderen, ob wir an der Wand zerschellen oder nicht“. Krankheit und Tod sitzen immer mit am Tisch. Sprachlich genau und treffend, changierend zwischen hartem Realismus und tagträumerischer Magie, mit oft überraschenden Wendungen, die Schauplätze und Figurenkonstellationen geschickt wechselnd erzählt Kristina Schilke von den Nöten, Ängsten, Abgründen und Sehnsüchten ihrer Generation. Ein umwerfendes Debüt.

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KH: Sie haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Was lernt man dort? Und was haben Sie dort gelernt?

KS: Man lernt dort vor allem, auf den eigenen Text mit fremden Augen zu sehen, ihn also verändern, kürzen, umarbeiten und umarbeiten und nochmal umarbeiten zu können. Das ist wahrscheinlich der Schritt, der einen von Hobbyautoren unterscheiden wird, dass man sich der Unfertigkeit des eigenen Textes bewusst wird. Ich bin sehr glücklich darüber, dort studiert zu haben. Es war ein künstlerisches Studium, das mich nicht den Zwängen der Schule oder der Universität unterworfen hat. Was ich dort gelernt habe? Wahrscheinlich hat sich am ehesten eine Art Charakterwandlung ereignet. Passiert ist die notwendige Verletzung des eigenen Narzissmus. Außerdem ist es ein ziemlich guter Ort, um überhaupt herauszufinden, wie man zum Schreiben steht. Will man das ein Leben lang machen, inklusive der ganzen Nachteile und, ich sag’s jetzt mal melodramatisch, Opfer? Oder will man eher „was mit Schreiben“ machen? Oder will man ganz aufhören?

Erzählungen, Kurzgeschichten, Stories, Novellen – ist es Ihnen egal, wie man Ihre Texte nennt?

Spontan würde ich am liebsten antworten: Es ist mir egal. Aber dann wiederum: Als die Überlegungen aufkamen, was genau auf dem Titel stehen sollte, war ich auf alle Fälle gegen die Bezeichnung „Stories“. Natürlich, wenn man ein englischsprachiges Buch schreibt, dann ist es ganz klar angebracht, „Short Stories“ dazu zu sagen, aber bei deutschsprachigen Erzählbänden wird dieser Stempel meiner Meinung nach an Literatur vergeben, die „urban“ oder „jung“ sein will oder sein soll, und ich will keines von beidem. Deshalb ist das schöne deutsche Wort „Erzählung“ doch das passendere dafür. Außerdem ist es nicht so einengend wie „Kurzgeschichten“, da man 20-seitige Texte ja nur schwer als „kurze Geschichten“ bezeichnen kann. Das Wort „Novelle“ finde ich selbst ganz großartig – schade, dass es nicht mehr so oft verwendet wird. Aber da wiederum gibt es auch eigene Gesetzmäßigkeiten, und bei einer „Novelle“ habe ich ganz andere Seitenlängen im Kopf. Also ja, bleiben wir einfach bei „Erzählung“. 

Gleich in Ihrem ersten Text wird vom „Elefantentreffen“ gesprochen. Elefanten kommen aber sonst nicht vor. Können Sie den Titel Ihres Buchs näher erläutern?

Das Elefantentreffen ist ein jährlich stattfindendes Biker-Treffen im Bayerischen Wald, das sehr viele Leute in Bayern wahrscheinlich kennen, bei dem aber jeder außerhalb Bayerns nur die Achseln zucken dürfte. Der Titel ist das geistige Kind meines Lektors. Mir ist nämlich partout kein Titel eingefallen. Wenn man sich die Titel der einzelnen Erzählungen ansieht, einfach mal der Reihe nach – Man wüsste es sonst nicht, Das seltsame Tier, Ich bin es, Geringe Unterschiede, Zeit für Ruhe und so weiter –, so sind das doch sehr spezifische, für Außenstehende mit den Themen der dazugehörigen Geschichten kaum in Verbindung zu setzende Titel. Sie sind aber wahnsinnig wichtig für mich. Auf sie habe ich viele Gedanken verwendet. Aber der Gesamttitel? Da war ich völlig ideenfrei. Als meinem Lektor Elefanten treffen einfiel, war ich sofort begeistert.

Jungsein wird gemeinhin mit Lebensfreude, Verliebtsein, Fun und Gaudi verbunden. Ihre Protagonisten sind sehr oft mit anderen Aspekten des Lebens beschäftigt: Verletzungen, Kranksein, Alter und Tod. Ist Jungsein zwangsläufig beides, düster und hell zugleich?

Ich würde gar nicht sagen, dass die meisten Protagonisten bei mir zwangsläufig jung sind. Oder vielleicht kommt es darauf an, bis zu welchem Alter man das Jungsein definiert. Es gibt da auch den Zahnarzt, der ja etwa Anfang 40 ist. Es gibt Oma Preidl. Carli und die Leute um sie herum sind so um die 30. Aber es stimmt natürlich, dass viele Erzählungen aus der Perspektive vor allem von Teenagern sind. Ich finde gar nicht, dass das Jungsein immer nur mit Lebensfreude in Verbindung zu setzen ist. Das Gehirn entwickelt sich in diesem Alter schneller, als man mitkommt. Die Knochen wachsen schneller, als es einem lieb wäre. Hormone überschwemmen einen. So gesehen ist es eine Zeit der allergrößten Umschwünge und hat nicht ausschließlich mit Leichtigkeit zu tun.

„Meine gesamte Schulzeit verlief fad“, sagt die Ich-Erzählerin in Diejenigen, die kriechen. Ihre auch? Muss das so sein?

Ich würde fast sagen, es muss so sein, oder es ist unausweichlich, es ist eine Art Initiation ins Erwachsenenleben. Obwohl ich das jetzt gar nicht so schwarzmalerisch meine … Man sollte einfach so weit wie möglich versuchen, mit dem System klarzukommen. Außerdem sehe ich keinen Sinn darin, dass die Schulzeit eine tolle Zeit sein sollte. Das wäre doch schrecklich, wenn die beste Zeit des Lebens schon in der Schule verbraten wird. Alles, was danach kommt, würde einem ja nur noch fad vorkommen.

Zweifelsohne darf man Ihr Buch – unter vielem anderen – auch zur Literatur in Bayern rechnen. Ist das literarische Thema Bayern – oder genauer: Niederbayern – mit seiner Veröffentlichung für Sie jetzt erledigt? Oder treibt es Sie weiterhin um?

Ja, ich würde sagen, es ist damit erledigt. Ich will nicht die Autorin sein, die nur ein Thema und eine geografische Gegend in petto hat. Ich will alles Mögliche und möglichst viel von allem. Ich habe jetzt genug über Bayern geschrieben, ich bin stolz auf das Ergebnis, aber irgendwann muss man vor sich selbst auch zugeben, dass man nach Jahren der Abwesenheit, die sich bis zum nächsten Buch ja noch mal in die Länge dehnen werden, nicht endlos über seine alte Heimat schreiben kann, ohne dass die Literatur, die man produziert, bis zu einem gewissen Grad unglaubwürdig wird und an Wiederholungen krankt. Das nächste Buch sollte sowohl vom Stil als auch vom Inhalt her etwas völlig Anderes sein.

Danke, Kristina Schilke – mögen viele Leser Ihre Elefanten treffen.

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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" zum Dr. phil. promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Seit 1984 ist Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Seit 2003 ist er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang mit dieser Position auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«.