Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (16). Und schwebt an Pusteblumen in den Augenblick
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
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16
Im frühen Jahr schon habe ich das Buch Nichts tun der amerikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell gelesen, das die Frage stellt, wie wir uns all dem entziehen können, was uns lockt, seit wir immerzu dieses Smartphone mit uns herumtragen: vor allem aber natürlich den sozialen Plattformen, Facebook und Insta und wie sie alle heißen.
Wie mir selbst geht es auch Odell um die Frage, wie uns eine gute Balance gelingt zwischen dem, was uns zu interessieren hat in der Welt, weil wir soziale und politische Menschen sind, und dem, was in unserem aktuellen, tatsächlichen Leben jetzt in diesem Moment geschieht.
Was wir sehen, wenn wir DRAUSSEN herumgehen, herumstehen, lauschen, schauen, da sind, wo wir eben gerade sind. Und was dann, wenn wir das können, mit uns geschieht.
Erst einmal geschieht gar nicht viel natürlich, wenn wir eine Stunde durch den Wald gehen. Manchmal begegnet uns nichts als Wald und Grün in Baum und Baum und Busch und Busch, und manchmal brauchen wir eine halbe Stunde, bis wir überhaupt bemerken, dass die Vögel zwitschern, bis wir also da sind, wo wir sind. Aber am Ende geraten wir DRAUSSEN eben in eine andere Konzentration, als wenn wir uns eine Stunde durch unser Smartphone zappen.
Wir hatten am Wochenende Landbesuch von einem kleinen Mädchen, der Enkelin, noch nicht zwei Jahre alt, einem Stadtkind. Sie hat die Pusteblume entdeckt.
Wenn sie vor dem Haus stand, sah sie vor allem: Pusteblumen. Wenn sie über die Wiese ging, sah sie: Pusteblumen. Und also stapfte sie von aufgeblühtem Löwenzahn zu aufgeblühtem Löwenzahn und plückte mit der immergleichen Andacht diese runden Samenstände ab, um sie zu ihren Eltern oder zu uns zu tragen. Um sie mit der immergleichen Verzückung sich selbst oder einer oder einem von uns vor den Mund zu halten, damit wir sie – ja was eigentlich? Ausblasen, wegpusten, in die Luft hauchen.
Ganz gleich, wie wir es nennen wollen. Die Magie geht über die Schönheit dieser luziden Kugel hinaus. Die Pusteblume ist zauberhaft, und was man mit ihr tun kann, ist es auch. Klar sieht sie leicht und filigran aus, wenn sie so luft- und lichtdurchlässig auf ihrem Stiel steht, perfekt rund wie ein Vollmond, wie ein kugelrunder Ball. Aber sagenhaft ist außerdem, dass wir sie mit dem eigenen Atem so in die Luft blasen können, dass plötzlich lauter kleine Fallschirme vom Wind davongetragen, im schlimmsten Fall vom Regen niedergestreckt werden.
Wenn wir das tun, gilt unsere Aufmerksamkeit nichts anderem. Das führt uns das Kind vor. Und wenn wir es tun, können wir ganz sicher sein, dass es auch im nächsten Jahr wieder Pusteblumen gibt. So rettet man völlig entspannend den Löwenzahn und also die Bienen und also die Welt. Mit dem Smartphone ist das viel schwieriger. Glaube ich.
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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (16). Und schwebt an Pusteblumen in den Augenblick>
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
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Im frühen Jahr schon habe ich das Buch Nichts tun der amerikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell gelesen, das die Frage stellt, wie wir uns all dem entziehen können, was uns lockt, seit wir immerzu dieses Smartphone mit uns herumtragen: vor allem aber natürlich den sozialen Plattformen, Facebook und Insta und wie sie alle heißen.
Wie mir selbst geht es auch Odell um die Frage, wie uns eine gute Balance gelingt zwischen dem, was uns zu interessieren hat in der Welt, weil wir soziale und politische Menschen sind, und dem, was in unserem aktuellen, tatsächlichen Leben jetzt in diesem Moment geschieht.
Was wir sehen, wenn wir DRAUSSEN herumgehen, herumstehen, lauschen, schauen, da sind, wo wir eben gerade sind. Und was dann, wenn wir das können, mit uns geschieht.
Erst einmal geschieht gar nicht viel natürlich, wenn wir eine Stunde durch den Wald gehen. Manchmal begegnet uns nichts als Wald und Grün in Baum und Baum und Busch und Busch, und manchmal brauchen wir eine halbe Stunde, bis wir überhaupt bemerken, dass die Vögel zwitschern, bis wir also da sind, wo wir sind. Aber am Ende geraten wir DRAUSSEN eben in eine andere Konzentration, als wenn wir uns eine Stunde durch unser Smartphone zappen.
Wir hatten am Wochenende Landbesuch von einem kleinen Mädchen, der Enkelin, noch nicht zwei Jahre alt, einem Stadtkind. Sie hat die Pusteblume entdeckt.
Wenn sie vor dem Haus stand, sah sie vor allem: Pusteblumen. Wenn sie über die Wiese ging, sah sie: Pusteblumen. Und also stapfte sie von aufgeblühtem Löwenzahn zu aufgeblühtem Löwenzahn und plückte mit der immergleichen Andacht diese runden Samenstände ab, um sie zu ihren Eltern oder zu uns zu tragen. Um sie mit der immergleichen Verzückung sich selbst oder einer oder einem von uns vor den Mund zu halten, damit wir sie – ja was eigentlich? Ausblasen, wegpusten, in die Luft hauchen.
Ganz gleich, wie wir es nennen wollen. Die Magie geht über die Schönheit dieser luziden Kugel hinaus. Die Pusteblume ist zauberhaft, und was man mit ihr tun kann, ist es auch. Klar sieht sie leicht und filigran aus, wenn sie so luft- und lichtdurchlässig auf ihrem Stiel steht, perfekt rund wie ein Vollmond, wie ein kugelrunder Ball. Aber sagenhaft ist außerdem, dass wir sie mit dem eigenen Atem so in die Luft blasen können, dass plötzlich lauter kleine Fallschirme vom Wind davongetragen, im schlimmsten Fall vom Regen niedergestreckt werden.
Wenn wir das tun, gilt unsere Aufmerksamkeit nichts anderem. Das führt uns das Kind vor. Und wenn wir es tun, können wir ganz sicher sein, dass es auch im nächsten Jahr wieder Pusteblumen gibt. So rettet man völlig entspannend den Löwenzahn und also die Bienen und also die Welt. Mit dem Smartphone ist das viel schwieriger. Glaube ich.
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