Dichtung ist Revolution (8): Die Ausrufung der Räterepublik in München, 7. April 1919
Im November 1918 wird die Wittelsbacher Monarchie gestürzt, der Schriftsteller und Revolutionär Kurt Eisner ruft in München den „Freistaat Bayern“ aus. Zum 100. Jubiläum von Revolution und Rätezeit zeigt die Monacensia im Hildebrandhaus die Ausstellung „Dichtung ist Revolution“. Kuratorin Laura Mokrohs und Zeichnerin Barbara Yelin erzählen begleitend in zehn Episoden in Text und Bild von den Überzeugungen, Ideen und Taten der revolutionären Schriftsteller Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller.
Nachdem die Bemühungen von Erich Mühsam und Ernst Toller beim Rätekongress am 8. März 1919 nicht erfolgreich waren und die Entscheidung gegen die Räterepublik fiel, bestätigt der Landtag Mitte März die Regierung unter dem SPD-Politiker Johannes Hoffmann. Doch in der Münchner Bevölkerung findet sich keine große Anhängerschaft für die neue Regierung, vor allem die Arbeiter und Soldaten bleiben kritisch. Wie von Toller prophezeit, verschwindet die Idee des Rätesystems nicht mehr aus den Köpfen. Der Zentralrat in München, wie auch die Räte in der Provinz, arbeiten weiter, obwohl sich ihr Einfluss durch das Zusammentreten des Landtags deutlich verringert hat. Fast täglich veranstalten der Revolutionäre Arbeiterrat und Anhänger der kommunistischen Partei Versammlungen, bei denen häufig Mühsam als Redner auftritt. All sein Drängen gilt in diesen Tagen dem Rätesystem. Seine Wünsche fasst er mit der im März entstandenen „Räte-Marseillaise“ auch in Gedichtform:
Wie lange, Völker, wollt ihr säumen?
Der Tag steigt auf, es sinkt die Nacht.
Wollt ewig ihr von Freiheit träumen,
da schon die Freiheit selbst erwacht?
Vernehmt die Rufe aus dem Osten!
Vereinigt euch zu Kampf und Tat!
Die Stunde der Befreiung naht!
Laßt nicht den Stahl des Willens rosten!
Auf, Völker, in den Kampf!
Zeigt euch der Brüder wert!
Die Freiheit ist das Feldgeschrei,
die Räte sind das Schwert!
[...]
Auf, Arbeitsmann, Soldat und Bauer!
Schafft Räte aus den eignen Reihn!
Und stoßt damit die morsche Mauer
jahrhundertalter Knechtschaft ein!
[...]
Erich Mühsams Notizbuch aus den Jahren 1918/19 mit Eintragung der „Räte-Marseillaise“ vom 26. März 1919
Angeschoben wird das Engagement der Räte, als am 21. März aus Ungarn die Nachricht von der dortigen Ausrufung der Räterepublik kommt. Mühsam verfasst sofort ein Glückwunsch-Telegramm:
Der Revolutionäre Arbeiterrat in München, der Träger der bayerischen Revolution seit dem 7. November, begrüßt mit Begeisterung die junge ungarische Republik der Räte. Er gelobt, dem russischen und ungarischen Vorbild getreu, nicht nachzulassen, ehe nicht auch in Bayern das arbeitende Volk souverän die sozialistische Gerechtigkeit und die Verbrüderung der Proletarier Russlands und Ungarns hergestellt hat. Es lebe der internationale Sozialismus! Es lebe die Weltbefreiung!
In München mehren sich in den ersten Apriltagen die Versammlungen von Arbeitslosen, Kommunisten, linken Arbeitern und Soldaten. Auch die Regierung Hoffmann nimmt Notiz von der sich radikalisierenden Stimmung und kündigt für den 8. April die Einberufung des Landtags an. In diesem Schritt sieht der Zentralrat einen Bruch mit den beim Rätekongress im März getroffenen Vereinbarungen und droht seinerseits mit dem Generalstreik. Am 4. April werden die Planungen zur Ausrufung einer Räterepublik konkret. Mühsam, der gerade auf dem Weg zu einer Sitzung des Revolutionären Arbeiterrats im Wittelsbacher Palais ist, wird von Gustav Landauer und einigen Genossen abgefangen.
Landauer und einige Genossen fangen Mühsam vor dem Wittelsbacher Palais ab, 4. April 1919
Gemeinsam mit Landauer, dem Zentralratsvorsitzenden Ernst Niekisch und einigen USPD-Mitgliedern soll er zu einer spontanen Sitzung im Ministerium des Äußeren gehen. Dort wird geplant, wie die Räterepublik konkret umgesetzt werden soll. Vor allem geht es um die Festlegung, wer welches Ministerium übernimmt. Mühsam und Landauer werden damit beauftragt, einen Text zu verfassen, mit dem die Bevölkerung über die Räterepublik informiert werden soll.
Am Abend des selben Tages kündigen einige Zentralratsvorsitzende bei einer Versammlung im Löwenbräu Keller am Stiglmaierplatz die Ausrufung der Räterepublik an. Noch bevor alles fertig abgesprochen ist, wenden sie sich an die Öffentlichkeit:
Die Einberufung des Landtags ist ein Schlag gegen das gesamte Proletariat, ist ebenso ein Streich gegen die Regierung. Der Landtag wird am Dienstag nicht zusammentreten; er wird überhaupt niemals mehr zusammentreten. Den Loslösungsbestrebungen des nordbayerischen Kapitals wird das nordbayerische Proletariat einen Strich durch die Rechnung machen. [...] Die Ausrufung der bayerischen Republik wird in ganz Deutschland vorbildlich wirken und den Ausbruch der Weltrevolution zur Folge haben.
Im Anschluss findet wieder um eine Versammlung im Militärministerium statt. Etwa 100 Menschen kommen hier zusammen, darunter Vertreter der sozialistischen Parteien, der Räte, der KPD und unabhängige Sympathisanten. Besonders wegen der Beteiligung der Mehrheitssozialdemokraten an den Planungen für die Räterepublik erklären die Vertreter der KPD Zweifel an der Ausrufung.
Es kommt zu keiner Einigkeit und Stimmen werden laut, welche die Entscheidung um 48 Stunden verschieben wollen. Man beschließt die Zeit zu nutzen, um Delegierte nach ganz Bayern auszuschicken. Sie sollen die Stimmung der Bevölkerung zur Ausrufung der Räterepublik einfangen.
Am 5. April versammeln sich wieder in verschiedenen Lokalen und Wirtschaften gleichzeitig 8.000 bis 10.000 Münchner Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten. Sie alle stellen sich hinter die Forderung nach der Räterepublik. Im Kindlkeller an der Rosenheimer Straße spricht Felix Fechenbach, Kurt Eisners ehemaliger Sekretär. Er macht sich für die Ausrufung der Räterepublik stark. Im Mathäserbräu beim Hauptbahnhof tritt Landauer als Vertreter des Zentralrats auf. Die Versammlungen vermitteln den Eindruck, dass die Münchner Bevölkerung für die Räterepublik sei. Auch die aufs Land ausgesandten Delegierten berichten überwiegend von positiven, die Räterepublik begrüßenden Stimmen.
Am folgenden Sonntag nun finden im Wittelsbacher Palais die entscheidenden Sitzungen statt. Wieder ist der kleinere Kreis aus Räten und Parteivertretern zusammengekommen. Etwa 100 Personen beschließen am Abend des 6. April im ehemaligen Schlafzimmer der Königin endgültig die Ausrufung der Räterepublik.
Sitzung der Räteanhänger im ehemaligen Schlafzimmer der Königin am 6. April 1919
Auch Ernst Toller ist als Vertreter der USPD dabei, in seinem autobiographischen Roman Eine Jugend in Deutschland wird er später die Szenerie anschaulich beschreiben:
In der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 versammelt sich der Zentralrat, versammeln sich die Delegierten der Sozialistischen Parteien, der Gewerkschaften, des Bauernbundes im Wittelsbacher Palais. Wo früher Zofen und betresste Lakaien herumwedelten, stapften jetzt die groben Stiefel von Arbeitern, Bauern und Soldaten, an den seidenen Vorhängen der Fenster des Schlafzimmers der Königin von Bayern lehnen Wachen, Kuriere, übernächtigte Sekretärinnen.
Noch einmal soll nun die Liste der künftigen Minister, der sogenannten Volksbeauftragten verhandelt werden. Gustav Landauer wird für den Bereich Volksaufklärung gewählt, Erich Mühsam erhält kein Amt. Trotz der ablehnenden Haltung der KPD herrscht große Zuversicht. Die von Mühsam und Landauer vorbereitete Proklamation wird überarbeitet und am Morgen des 7. April 1919 ist sie in den Zeitungen und an den Litfaßsäulen zu lesen:
Die Entscheidung ist gefallen. Baiern ist Räterepublik! Das werktätige Volk ist Herr seines Geschicks.[...] Die Diktatur des Proletariats, die nun zur Tatsache geworden ist, bezweckt die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in dem jeder arbeitende Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll, einer gerechten sozialistisch-kommunistischen Wirtschaft. [...] Es lebe das freie Baiern! Es lebe die Räterepublik! Es lebe die Weltrevolution!
Die Volksbeauftragten sind fürs erste nur provisorisch eingesetzt. Bald sollen alle Bauern, Arbeiter, Handwerker und Kleinbeamten ihre Vertreter wählen. Zum Schutz gegen die reaktionären Kräfte plant die neue Regierung die Zensur der Presse und die Bildung einer Roten Armee.
Mittags wenden sich an allen großen Plätzen die Beteiligten der nächtlichen Versammlung an die Bevölkerung. Bei aller Freude über die Ausrufung der Räterepublik berichtet Mühsam von seiner zunehmenden Beunruhigung hinsichtlich der allgemeinen Stimmung in der Stadt:
[E]s lag eine gewisse Schwüle über der Atmosphäre, eine beängstigende Stille, die auf argwöhnisches Abwarten schließen ließ. Am Stachus bestieg ich eine Bank. Eine große Menschenmenge drängte sich um mich, aus der zunächst antisemitische Rufe laut wurden.
Erich Mühsam informiert am 7. April 1919 auf dem Stachus die Bevölkerung über die Räterepublik
Die Tage dieser anarchistischen, ersten „baierischen“ Räterepublik sind gezählt, am 13. April wird sie durch einen Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe beendet.
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Quellen der Zitate:
Erich Mühsam: Räte-Marseillaise. In: Erich Mühsam: Ausgewählte Werke. Hg. v. Christlieb Hirte. Bd. 1. Berlin 1978, S. 317.
Erich Mühsam: Telegramm vom 24. März. In: Michael Seligmann: Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau 1998, S. 109.
Rede von Ernst Niekisch am 4. April 1919. In: Michael Seligmann: Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau 1998, S. 109.
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Autobiographisches und Justizkritik. Hg. v. Stefan Neuhaus und Rolf Selbmann. Göttingen 2015, S. 97-273, hier S. 191.
Flugblatt: An das Volk in Baiern!, 1919. Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Flugblattsammlung, F. Mon 2929.
Erich Mühsam: Von Eisner bis Leviné. In: Erich Mühsam: Ausgewählte Werke. Hg. v. Christlieb Hirte. Bd. 2. Berlin 1985, S. 305.
Dichtung ist Revolution (8): Die Ausrufung der Räterepublik in München, 7. April 1919 >
Im November 1918 wird die Wittelsbacher Monarchie gestürzt, der Schriftsteller und Revolutionär Kurt Eisner ruft in München den „Freistaat Bayern“ aus. Zum 100. Jubiläum von Revolution und Rätezeit zeigt die Monacensia im Hildebrandhaus die Ausstellung „Dichtung ist Revolution“. Kuratorin Laura Mokrohs und Zeichnerin Barbara Yelin erzählen begleitend in zehn Episoden in Text und Bild von den Überzeugungen, Ideen und Taten der revolutionären Schriftsteller Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller.
Nachdem die Bemühungen von Erich Mühsam und Ernst Toller beim Rätekongress am 8. März 1919 nicht erfolgreich waren und die Entscheidung gegen die Räterepublik fiel, bestätigt der Landtag Mitte März die Regierung unter dem SPD-Politiker Johannes Hoffmann. Doch in der Münchner Bevölkerung findet sich keine große Anhängerschaft für die neue Regierung, vor allem die Arbeiter und Soldaten bleiben kritisch. Wie von Toller prophezeit, verschwindet die Idee des Rätesystems nicht mehr aus den Köpfen. Der Zentralrat in München, wie auch die Räte in der Provinz, arbeiten weiter, obwohl sich ihr Einfluss durch das Zusammentreten des Landtags deutlich verringert hat. Fast täglich veranstalten der Revolutionäre Arbeiterrat und Anhänger der kommunistischen Partei Versammlungen, bei denen häufig Mühsam als Redner auftritt. All sein Drängen gilt in diesen Tagen dem Rätesystem. Seine Wünsche fasst er mit der im März entstandenen „Räte-Marseillaise“ auch in Gedichtform:
Wie lange, Völker, wollt ihr säumen?
Der Tag steigt auf, es sinkt die Nacht.
Wollt ewig ihr von Freiheit träumen,
da schon die Freiheit selbst erwacht?
Vernehmt die Rufe aus dem Osten!
Vereinigt euch zu Kampf und Tat!
Die Stunde der Befreiung naht!
Laßt nicht den Stahl des Willens rosten!
Auf, Völker, in den Kampf!
Zeigt euch der Brüder wert!
Die Freiheit ist das Feldgeschrei,
die Räte sind das Schwert!
[...]
Auf, Arbeitsmann, Soldat und Bauer!
Schafft Räte aus den eignen Reihn!
Und stoßt damit die morsche Mauer
jahrhundertalter Knechtschaft ein!
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Erich Mühsams Notizbuch aus den Jahren 1918/19 mit Eintragung der „Räte-Marseillaise“ vom 26. März 1919
Angeschoben wird das Engagement der Räte, als am 21. März aus Ungarn die Nachricht von der dortigen Ausrufung der Räterepublik kommt. Mühsam verfasst sofort ein Glückwunsch-Telegramm:
Der Revolutionäre Arbeiterrat in München, der Träger der bayerischen Revolution seit dem 7. November, begrüßt mit Begeisterung die junge ungarische Republik der Räte. Er gelobt, dem russischen und ungarischen Vorbild getreu, nicht nachzulassen, ehe nicht auch in Bayern das arbeitende Volk souverän die sozialistische Gerechtigkeit und die Verbrüderung der Proletarier Russlands und Ungarns hergestellt hat. Es lebe der internationale Sozialismus! Es lebe die Weltbefreiung!
In München mehren sich in den ersten Apriltagen die Versammlungen von Arbeitslosen, Kommunisten, linken Arbeitern und Soldaten. Auch die Regierung Hoffmann nimmt Notiz von der sich radikalisierenden Stimmung und kündigt für den 8. April die Einberufung des Landtags an. In diesem Schritt sieht der Zentralrat einen Bruch mit den beim Rätekongress im März getroffenen Vereinbarungen und droht seinerseits mit dem Generalstreik. Am 4. April werden die Planungen zur Ausrufung einer Räterepublik konkret. Mühsam, der gerade auf dem Weg zu einer Sitzung des Revolutionären Arbeiterrats im Wittelsbacher Palais ist, wird von Gustav Landauer und einigen Genossen abgefangen.
Landauer und einige Genossen fangen Mühsam vor dem Wittelsbacher Palais ab, 4. April 1919
Gemeinsam mit Landauer, dem Zentralratsvorsitzenden Ernst Niekisch und einigen USPD-Mitgliedern soll er zu einer spontanen Sitzung im Ministerium des Äußeren gehen. Dort wird geplant, wie die Räterepublik konkret umgesetzt werden soll. Vor allem geht es um die Festlegung, wer welches Ministerium übernimmt. Mühsam und Landauer werden damit beauftragt, einen Text zu verfassen, mit dem die Bevölkerung über die Räterepublik informiert werden soll.
Am Abend des selben Tages kündigen einige Zentralratsvorsitzende bei einer Versammlung im Löwenbräu Keller am Stiglmaierplatz die Ausrufung der Räterepublik an. Noch bevor alles fertig abgesprochen ist, wenden sie sich an die Öffentlichkeit:
Die Einberufung des Landtags ist ein Schlag gegen das gesamte Proletariat, ist ebenso ein Streich gegen die Regierung. Der Landtag wird am Dienstag nicht zusammentreten; er wird überhaupt niemals mehr zusammentreten. Den Loslösungsbestrebungen des nordbayerischen Kapitals wird das nordbayerische Proletariat einen Strich durch die Rechnung machen. [...] Die Ausrufung der bayerischen Republik wird in ganz Deutschland vorbildlich wirken und den Ausbruch der Weltrevolution zur Folge haben.
Im Anschluss findet wieder um eine Versammlung im Militärministerium statt. Etwa 100 Menschen kommen hier zusammen, darunter Vertreter der sozialistischen Parteien, der Räte, der KPD und unabhängige Sympathisanten. Besonders wegen der Beteiligung der Mehrheitssozialdemokraten an den Planungen für die Räterepublik erklären die Vertreter der KPD Zweifel an der Ausrufung.
Es kommt zu keiner Einigkeit und Stimmen werden laut, welche die Entscheidung um 48 Stunden verschieben wollen. Man beschließt die Zeit zu nutzen, um Delegierte nach ganz Bayern auszuschicken. Sie sollen die Stimmung der Bevölkerung zur Ausrufung der Räterepublik einfangen.
Am 5. April versammeln sich wieder in verschiedenen Lokalen und Wirtschaften gleichzeitig 8.000 bis 10.000 Münchner Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten. Sie alle stellen sich hinter die Forderung nach der Räterepublik. Im Kindlkeller an der Rosenheimer Straße spricht Felix Fechenbach, Kurt Eisners ehemaliger Sekretär. Er macht sich für die Ausrufung der Räterepublik stark. Im Mathäserbräu beim Hauptbahnhof tritt Landauer als Vertreter des Zentralrats auf. Die Versammlungen vermitteln den Eindruck, dass die Münchner Bevölkerung für die Räterepublik sei. Auch die aufs Land ausgesandten Delegierten berichten überwiegend von positiven, die Räterepublik begrüßenden Stimmen.
Am folgenden Sonntag nun finden im Wittelsbacher Palais die entscheidenden Sitzungen statt. Wieder ist der kleinere Kreis aus Räten und Parteivertretern zusammengekommen. Etwa 100 Personen beschließen am Abend des 6. April im ehemaligen Schlafzimmer der Königin endgültig die Ausrufung der Räterepublik.
Sitzung der Räteanhänger im ehemaligen Schlafzimmer der Königin am 6. April 1919
Auch Ernst Toller ist als Vertreter der USPD dabei, in seinem autobiographischen Roman Eine Jugend in Deutschland wird er später die Szenerie anschaulich beschreiben:
In der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 versammelt sich der Zentralrat, versammeln sich die Delegierten der Sozialistischen Parteien, der Gewerkschaften, des Bauernbundes im Wittelsbacher Palais. Wo früher Zofen und betresste Lakaien herumwedelten, stapften jetzt die groben Stiefel von Arbeitern, Bauern und Soldaten, an den seidenen Vorhängen der Fenster des Schlafzimmers der Königin von Bayern lehnen Wachen, Kuriere, übernächtigte Sekretärinnen.
Noch einmal soll nun die Liste der künftigen Minister, der sogenannten Volksbeauftragten verhandelt werden. Gustav Landauer wird für den Bereich Volksaufklärung gewählt, Erich Mühsam erhält kein Amt. Trotz der ablehnenden Haltung der KPD herrscht große Zuversicht. Die von Mühsam und Landauer vorbereitete Proklamation wird überarbeitet und am Morgen des 7. April 1919 ist sie in den Zeitungen und an den Litfaßsäulen zu lesen:
Die Entscheidung ist gefallen. Baiern ist Räterepublik! Das werktätige Volk ist Herr seines Geschicks.[...] Die Diktatur des Proletariats, die nun zur Tatsache geworden ist, bezweckt die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in dem jeder arbeitende Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll, einer gerechten sozialistisch-kommunistischen Wirtschaft. [...] Es lebe das freie Baiern! Es lebe die Räterepublik! Es lebe die Weltrevolution!
Die Volksbeauftragten sind fürs erste nur provisorisch eingesetzt. Bald sollen alle Bauern, Arbeiter, Handwerker und Kleinbeamten ihre Vertreter wählen. Zum Schutz gegen die reaktionären Kräfte plant die neue Regierung die Zensur der Presse und die Bildung einer Roten Armee.
Mittags wenden sich an allen großen Plätzen die Beteiligten der nächtlichen Versammlung an die Bevölkerung. Bei aller Freude über die Ausrufung der Räterepublik berichtet Mühsam von seiner zunehmenden Beunruhigung hinsichtlich der allgemeinen Stimmung in der Stadt:
[E]s lag eine gewisse Schwüle über der Atmosphäre, eine beängstigende Stille, die auf argwöhnisches Abwarten schließen ließ. Am Stachus bestieg ich eine Bank. Eine große Menschenmenge drängte sich um mich, aus der zunächst antisemitische Rufe laut wurden.
Erich Mühsam informiert am 7. April 1919 auf dem Stachus die Bevölkerung über die Räterepublik
Die Tage dieser anarchistischen, ersten „baierischen“ Räterepublik sind gezählt, am 13. April wird sie durch einen Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe beendet.
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Quellen der Zitate:
Erich Mühsam: Räte-Marseillaise. In: Erich Mühsam: Ausgewählte Werke. Hg. v. Christlieb Hirte. Bd. 1. Berlin 1978, S. 317.
Erich Mühsam: Telegramm vom 24. März. In: Michael Seligmann: Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau 1998, S. 109.
Rede von Ernst Niekisch am 4. April 1919. In: Michael Seligmann: Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau 1998, S. 109.
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Autobiographisches und Justizkritik. Hg. v. Stefan Neuhaus und Rolf Selbmann. Göttingen 2015, S. 97-273, hier S. 191.
Flugblatt: An das Volk in Baiern!, 1919. Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Flugblattsammlung, F. Mon 2929.
Erich Mühsam: Von Eisner bis Leviné. In: Erich Mühsam: Ausgewählte Werke. Hg. v. Christlieb Hirte. Bd. 2. Berlin 1985, S. 305.